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Im Schatten des Sprungturms

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03.10.2020
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Im Schatten des Sprungturms

Barfuß radelten wir aus dem Dorf. Ich fuhr einhändig, die Pedale schnitten in meine Sohlen und die Badehose zwickte. Kurz nach Mitternacht erreichten wir unser Ziel, ließen die Räder stehen und kletterten über den Zaun. Ich achtete darauf, mit dem falschen Arm nicht hängen zu bleiben. Die Steinplatten waren noch warm vom Tag. Jasmin sagte, sie könne unter Wasser Gedanken hören.
Ich lachte.
Es roch nach Chlor und irgendetwas Modrigem. Unterwasserlampen warfen grünliches Licht durchs Becken. Das kommt von unsichtbaren Algen, behauptete Jasmin und sprang kopfüber ins Wasser. Ich sah ihre Beine, weiß und verschwommen. Dann tauchte sie wieder auf.
Du denkst an mich, sagte sie und bemerkte meinen Blick. Oder an deinen Vater?
Du hast gesagt, Wasser verbrennt dich.
Nachts ist es erträglicher.
Jasmin verschränkte die Arme auf dem Beckenrand.
Vergiss den Streit mit deiner Mutter. Wir brauchen das Geld eh nicht.
Ich zuckte mit den Schultern und schaute in den Nachthimmel.
Ja, sagte ich.
Die Nacht war mondlos.
Stark, wie du den Automaten aufgebrochen hast!
Ich wollte ihr in die Augen sehen, doch mied ihren Blick. Guckte stattdessen auf das weiße Speedo-Logo auf ihrem Badekleid.
Es war scheiße! Mein Vater hätte sowas gemacht!
Tut mir leid.
Jasmin kam aus dem Wasser. Es sah ganz leicht aus. Ich dachte daran, wie sehr mein Arm mich dabei behindern würde. Ihre Hand legte sich in meine und vertrieb den Gedanken. Wir blickten hoch zum Sprungturm.
Da oben sind wir der Nacht näher, sagte sie. Wenn du nach unten fällst, bist du schwerelos.
Sie führte mich in den Schatten des Sprungturms und wir stiegen die Leiter hinauf. Schwiegen eine Weile und rauchten auf dem Dreimeterbrett. Saßen uns gegenüber und ließen die Beine baumeln. Ihr kurzes Haar glänzte und roch nach Zitrone. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken. Ich rollte einen Ärmel nach oben, meine Finger glitten über den Verschluss am Schaft.
Hast du Schmerzen?
Nein, es juckt nur ein wenig. Die Hitze.
Soll ich dich massieren?, fragte sie und rückte so nahe, dass ich ihren Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Ohne das ich ihr die Griffe zeigen musste, entfernte sie die Armprothese. Legte sie zwischen uns aufs Brett. Die Berührung ihrer Fingerspitzen strahlte in meine Schulter aus, kribbelte bis in den Hals. Einen Moment vergaß ich, wo ich war. Dann stoppte sie, setzte den Schaft sanft zurück auf meinen Stumpf.
Sie stand auf, blickte nach unten. In der weichen Reflexion der Oberfläche tanzten Wellen auf ihrem Gesicht.
Lass uns Nacktbaden, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
Komm schon!, ermunterte sie mich und streifte die Träger ihres Badekleids nach unten. Im diffusen Beckenlicht konnte ich ihren Körper sehen, die Brandnarben am Bauch.
Hilf mir bitte, sagte sie. An den Trägern zog ich das Kleid über ihre Hüften. Unabsichtlich berührte ich sie mit meinen echten Fingern am Oberschenkel. Dann fiel es zwischen ihre Füße. Sie stand so dicht vor mir, dass ich mit meiner Zungenspitze über ihre Scham hätte fahren können. Schwerfällig stand ich auf. Das Brett wippte und einen Moment musste ich ums Gleichgewicht kämpfen.
Zieh dich aus! Ich schau auch weg, wenn du willst.
Ich tat nichts.
Sie lächelte müde und legte mir die Hände auf die Schultern. Aber es waren ihre Augen, die mich festhielten. In diesem Moment fühlte ich, dass sie mich wirklich sah.
Du musst dich nicht schämen, sagte sie.
Die Nacht drückte. Ich überlegte, ob ich sie küssen sollte.
Kommst du morgen nach der Schule zu mir?, fragte ich stattdessen.
Vielleicht, sagte sie. Kommt drauf an. Wenn mich mein Bruder lässt.
Ich wollte etwas erwidern, aber sie kam mir zuvor: Lass uns untertauchen. Nur wir. Deine und meine Gedanken. Ich will einfach stehenbleiben.
Ich nickte. Widerstandslos ließ ich sie gewähren, als sie mir das T-Shirt über den Kopf und die Badehose auszog.
Kein Grund, nervös zu sein, sagte sie leise. Ich spürte ihre warme Hand und schloss die Augen. Dann ließ sie sich vom Brett fallen und das Letzte, was ich hörte, war das Klatschen ihres Körpers auf dem Wasser.

Der Strom fiel aus. Kein Licht. Keine Pumpen. Die Wasseroberfläche war glatt und schwarz. Ich rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Wie betäubt nahm ich meine Hose, das T-Shirt und ihr Badekleid, ließ alles neben dem Sprungturm in die Schatten fallen. Dann setzte ich einen Fuß vor den andern. Zuvor war ich erst einmal auf dem Dreimeterbrett gewesen. Wollte mir selbst beweisen, dass man es auch mit einem falschen Arm schaffen konnte.
Natürlich hatte ich versagt.
Kopf voran sprang ich ins Becken. Spürte den harten Schlag der Wasseroberfläche auf meiner Schädeldecke, weil ich die Arme zu wenig durchstreckte. Stecknadelsterne flimmerten in der Dunkelheit.
Ich tastete. Tauchte. Schwamm bis zum Grund. Ein stilles Knistern in den Ohren. Herzklopfen. Bis der Druck in meinen Lungen mich zum Auftauchen zwang. Das Gefühl, mich im kühlenden Wasser aufzulösen, wurde mit jedem Beinschlag ohnmächtiger.
Du wirst mich finden, selbst wenn ich verschwunden bin. Das hatte sie mir versprochen. In dem Moment kehrte der Strom zurück. Licht flackerte durch das Becken. Ich verfolgte die Linien der Schwimmbahnen. Sie war nicht mehr da.
Ich kletterte aus dem Wasser. Zog mich panisch am Zaun hoch. Ihr Fahrrad lehnte noch neben meinem. Mir fiel auf, dass ich meine Badehose vergessen hatte. Meine Prothese verfing sich in den Maschen und der Verschluss schnappte auf. Mit einem erstickten Schrei stürzte ich, mein Hinterkopf machte Bekanntschaft mit dem Beton.
Erinnerungen fluteten mich.

*​

Wie wir nebeneinander auf einer Decke lagen und durch unsere Sonnenbrillen in den Himmel blickten. Ich hätte Mathe und Physik gehabt. Herr Mathis hatte es aufgegeben, meinen Eltern Briefe zu schicken. Die Sonne stand über dem Wald, ich hörte Vögel rufen. In der Ferne brummte ein Auto. Eine tiefe Ruhe erfüllte mich. Eine Sehnsucht, dass ich glaubte, den Geruch der Welt einatmen und ihn in meinen Lungen aufstauen zu können.
Ich mag es, sagte sie, dem Wandern der Schatten zuzusehen.
Ich auch, pflichtete ich bei.
Wenn ich sie lang genug verfolge, dann finde ich ihn.
Den Ort hinter der Welt?
Ja. Sie lächelte. Noch nie ist jemand mitgekommen. Außer du.
Wo ist er jetzt?
Er ist immer da, man kann ihn nur nicht sehen.
Ich wollte fragen, was sie genau meinte, aber sie schaute weg. Drückte auf ihrem Handy herum. Sie hatte mehrere Nachrichten erhalten. Ich fand es ein bisschen unheimlich, sagte ich, um die Stille zu überbrücken. Jasmins Handy klingelte.
Mein doofer Bruder, sagte sie. Ich muss kurz rangehen.
Eine Stimme schrie aus dem Gerät, ich verstand nur das Wort Motorrad. Sie rollte auf den Bauch, gegen meine Prothese, und hielt das Handy von sich weg. Ihr Kleid war nach oben gerutscht. Ich sah hin, auf ihre Beine. Sie trug weiße Socken und Nikes. Einige Meter entfernt stand das Motorrad auf dem Feldweg.
Ich wollte meinen Arm um sie legen. Wir kauten Kaugummi und ich roch Erdbeere und Zimt. Eine Fliege landete auf meiner Sonnenbrille. Sie nahm das Handy ans Ohr, klemmte es mit der Schulter ein. Stützte sich auf die Ellenbogen und sah mich an.
Ich brings dir heute Abend zurück.
Sie pustete die Fliege weg.
Beruhig dich! Du hast den Schlüssel wieder rumliegen lassen.
Ihr Bruder klang aggressiv.
Und? Ich fahr gar nicht allein. Mein Freund fährt mich.
Eine kurze Pause, dann sagte sie: Ja, ist schön hier. Von deinem Dope hab ich dir auch geklaut.
Die nächsten Worte von Jasmins Bruder verstand ich gut. Fick dich ins Knie!
Rauchen wir eine?, fragte sie an mich gewandt.
In meiner Hemdtasche hatte ich zwei Zigaretten. Ich zündete eine davon an. Jasmins Bruder redete leiser, aber eindringlicher auf sie ein und sie rollte mit den Augen. Nach ein paar Zügen gab ich ab. Steckte ihr das Filterende zwischen die Lippen.
Du kriegst es heil zurück, sagte sie und zog an der Zigarette. Vertrau mir.
Ein weiterer Fluch war die Folge.
Sorry, wird nicht wieder vorkommen.
Sie tippte auf den roten Hörer und schnitt seine Stimme ab. Ließ das Telefon auf die Decke fallen. Legte ihren Kopf neben meinen. Ihr Bruder rief erneut an. Diesmal ließ sie ihn nicht zu Wort kommen.
Ich mach, was ich will, sagte sie. Heute Abend kannst du dir selber Teigwaren kochen. Und weißt du was? Ich werd mit meinem Freund schlafen, während du an dein blödes Motorrad denkst!
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag auf der Decke, küssten und streichelten uns. Mein falscher Arm kam mir nutzlos vor, was unserer Verbundenheit einen Dämpfer versetzte. Als würde das Stück Kunststoff wie eine Barriere zwischen uns stehen. Bei zu viel Sonnenschein bekam ich zudem Phantomschmerzen, aber zum Glück blieben sie aus.
Ein kurzer Sommerregen durchnässte uns bis auf die Unterwäsche. Die Fahrt abends zurück, durch die eindunkelnden Wälder, die moosige Luft auf dem Gesicht, meine Hände an ihren Hüften, und wie der Scheinwerfer die Dunkelheit zerschnitt, das fühlte sich an, als fuhren wir ins Herz der Schwärze, um darin unsere Leben zu finden.

Jasmin hatte mich eine Straße vor unserer abgesetzt, damit meine Eltern das Motorrad nicht hörten. Zum Abschied hatten wir uns noch einmal geküsst. Dabei wäre fast die Maschine umgekippt. Gutgelaunt und trotzdem angespannt betrat ich das Haus, schloss die Tür hinter mir ab.
In der Küche traf ich Mutter, sie saß am Tisch und kramte in einem Karton, legte Fotos vor sich aus. Als ich den Raum betrat, blickte sie auf. Ihr geschwollenes Auge und die Gaze an der Stirn hatten sie in eine alte, graue Frau verwandelt.
Wo warst du so lange?, fragte sie. Es ist schon spät.
Ich weiß. Tut mir leid.
Sie legte ein Foto ab. Es zeigte mich in einem Planschbecken. Vater hielt seine Hand unter meinen Bauch und ließ mich durchs Wasser gleiten.
Ich hab mir Sorgen gemacht, sagte sie. Melde dich bitte, wenn du länger bei deinen Freunden bist, ja?
Ist gut, antwortete ich und machte mir ein Sandwich mit Toastbrot und Schinken. Das Fleisch roch schon leicht ranzig, aber ich hatte einen Riesenhunger. Mutter sortierte weiter Fotos. Kauend schaute ich ihr über die Schulter.
Das nächste zeigte sie. Fast noch ein Mädchen, ihre jetzt ergrauten Haare waren tiefschwarz und sie trug ein Kleid, das ihr zwei Nummern zu groß war. Neben ihr stand mein Vater und hielt ihre Hand. Er trug ein Jackett, das ich noch nie gesehen hatte, es war viel zu edel für ihn. Beide lachten in die Kamera, als wäre eine gemeinsame Zukunft etwas Erstrebenswertes.
Das war an unserem ersten Silvester, sagte sie.
Ich nickte. Ihr seht jung aus.
Das waren wir auch, sagte sie. Ich war neunzehn. Er achtundzwanzig.
Sie schob das Foto hin und her, als versuche sie, es in die Reihe der anderen einzufügen, fände aber nicht den richtigen Platz.
Damals dachte ich, wenn man sich nur fest genug liebt, reicht es aus.
Hat es gereicht?, fragte ich vorsichtig.
Nun, du bist hier, sagte sie und nahm meinen gesunden Arm. Die Prothese berührte sie nicht. In diesem Moment wurde mir das erneut bewusst und ich fragte mich, ob sie sich selbst eine Mitschuld an meinem Unfall gab. Mein Blick blieb an dem Foto mit dem Planschbecken haften, sah Vaters Hand an meinem Bauch. Ich konnte mich nicht erinnern, wie sich seine Berührung angefühlt hatte.
Mutter legte ein drittes Foto auf den Tisch. Es zeigte Vater allein, auf dem Fahrrad, das er mir später schenkte. Es war viel zu klein für ihn, als säße ein Riese auf einem BMX. Vielleicht hätte es lustig ausgesehen, wenn er nicht mein Vater gewesen wäre.
Ich habe oft daran gedacht, einfach wegzugehen, sagte Mutter. Nur du und ich. Mit dem Zug irgendwohin. Ein paar Mal hatte ich schon gepackt.
Sie wandte ihren Kopf und sah mich an.
Aber ich habs nie gemacht.
Wieso nicht?, fragte ich und biss vom Sandwich ab. Der Schinken schmeckte nach Pampe. Ich legte das Sandwich auf den Tisch und stellte mich neben sie. Ich spürte ihr Zittern, ohne sie zu berühren.
Weil ich Angst hatte. Dass er uns findet. Oder dass du ihn vermisst. Dass du mir später Vorwürfe machen würdest, ich hätte dir deinen Vater weggenommen.
Sie hielt ein weiteres Bild hoch. Es war leicht verschwommen und zeigte ein Mädchen in einer Astkrone, mit Dreck an den Knien. Sonnenstrahlen fielen durchs Blätterwerk und ließen ihr Gesicht leuchten. Neben dem Baumstamm lag eine umgekippte Leiter.
Wer ist das?, fragte ich.
Das bin ich, sagte Mutter. Da war ich vielleicht zehn.
Ich sah genauer hin. Auch wenn meine Mutter auf dem Foto mindestens sechs Jahre jünger war als sie, und das Kleid eher nach Bauernhof als nach geheimnisvollem Teenager aussah, erinnerte sie mich an Jasmin.
War neulich jemand hier?, fragte Mutter.
Nein, antwortete ich.
Mir kannst du es sagen.
Da war niemand, sagte ich.
Ich hab was gehört. Eine Mädchenstimme.
Ich schüttelte den Kopf.
Wenn du eine Freundin hast, ist das okay.
Wie geht es deinem Gesicht?, fragte ich.
Ich brauche viel Ruhe und sollte jetzt schlafen gehen. Holst du mir morgen die Tabletten aus der Apotheke?
Ich nickte.
Du gibst mir Energie, sagte sie und lächelte. Aber es sah traurig aus und ich durchschaute sie. Wenn es die Wahrheit gewesen wäre, hätte sie sich gegen Vater gewehrt. Ich schmiss das Sandwich in den Müll.
Mutter stand auf und stützte sich an mir ab. Wir gingen hinüber ins Schlafzimmer. Das Licht aus dem Flur ließ das Laken grau wirken. Der ganze Raum war eintönig und kalt wie ein Krankenzimmer. Nachdem ich sie zugedeckt hatte, sagte sie im Halbdunkel:
Mach dir keine Sorgen wegen dem Geld.
In diesem Moment berührte sie zum ersten Mal meine Prothese, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Die Geste gefiel mir nicht. Sie schaffte weitere Distanz, so als wäre es ihr plötzlich lieber, nicht direkt mit mir in Kontakt zu kommen. Ich löschte das Licht. In der Küche nahm ich den Karton und schaute mir die ganze Nacht lang Fotos an.

* *​

Wir saßen im Dämmerlicht auf der Veranda. Auf meiner Boombox lief Reggae und Ska, ausgesucht von Jasmin. Kurz vorher hatte es geregnet und es roch nach frisch gemähtem Gras. Wir schlugen nach Moskitos. Jasmin hatte was zu Rauchen mitgebracht. Hab ich meinem Bruder geklaut, sagte sie. Der soll aufhören, zugedröhnt Motorrad zu fahren.
Ich sah ihr dabei zu, wie sie den Joint drehte. Mir war nicht wirklich wohl dabei. Sonst hatten wir im Wald beim Schützenhaus geraucht, hier konnten wir jederzeit erwischt werden. Mein Vater war ein Profi darin, zur falschen Zeit aufzutauchen. Und auch wenn meine Mutter im Schlafzimmer lag, Tatort schaute und wahrscheinlich nichts bemerkte, die Frau vom Pflegedienst kam um acht.
Stimmt was nicht?, fragte Jasmin.
Nein, alles gut. Ich hab an die Schule nächste Woche gedacht.
Sie zerzauste sich das Haar. Mach dir darüber keine Sorgen, sagte sie.
Nach ein paar Zügen reichte sie mir den Joint. Ihre Augen glänzten und sie ließ den Rauch langsam aus ihren Nasenlöchern fließen. Ihr Piercing gefiel mir. Bevor ich zog, schaute ich auf die Uhr. Ungefähr noch dreißig Minuten.
Meine Lunge füllte sich, ohne das es stach, obwohl Jasmin einen selbstgebastelten Filter verwendete. Wegen ihr hatte ich mit Zigaretten und Joints angefangen und hielt mich mittlerweile für geübt, doch diese Wirkung erwartete ich nicht. Ich fühlte, wie sich die Luft verdichtete, schwer und feucht wurde. Beim Rauchausatmen flimmerten Partikel im Licht der Veranda. Am Horizont wuchsen die Schatten der Bäume zu einer schwarzen Wand. Auf der Boombox lief Dub Pistols.
Was ist das?, fragte ich.
Engelsstaub. Es zeigt dir den Ort hinter der Welt.
Nein, echt jetzt. Was ist das?
Hab eine Tablette zerstampft und ins Gras gemischt.
Wir schwiegen und ich gab ihr den Joint. Unter den Wolken brannte ein Feuer. Spiegelte sich im schwarzen Wasser, das über die Veranda floss. Ich konnte die Schallwellen der Boombox sehen, wie sie atmete und pumpte. Meine Prothese war keine Prothese mehr, sondern einen Arm. Jasmin schlug die Beine übereinander, legte mir eine Hand aufs Knie. Kalter Schweiß stand in meinem Nacken.
Gefällt es dir?
Ja. Ich denke schon, sagte ich.
Willst du einen Kopfschuss?, fragte sie.
Einen Kopfschuss?
Ich zeige es dir.
Sie steckte den Joint verkehrt herum zwischen die Lippen. Nur die Spitze des Filters ragte hervor, die Glut im Mund. Dann zog sie mich zu sich, öffnete ihre Beine, so dass ich mich auf ihnen abstützen konnte. Unsere Lippen berührten sich. Ich zog am Filter. Ihr Pusten überraschte mich, Hitze stach in meine Luftröhre und ich musste husten. Jasmin nahm den Joint aus ihrem Mund und wir lachten. Mir drehte der Kopf, meine Gedanken schlugen Kapriolen.
Jetzt du, sagte sie.
Ich hatte mein Zeitgefühl verloren, aber die Frau vom Pflegedienst kam pünktlich. Sie klingelte an der Tür. Als niemand reagierte, klopfte sie energisch gegen das Holz. Ihre pochenden Knöchel hallten durch das Haus. Jasmin und ich lagen auf der Liege, auf der mein Vater immer seine Feierabendbiere trank. Obwohl ich voller Sorge an meine Mutter dachte, fiel es mir schwer, zu reagieren. Ich stemmte mich auf die Ellenbogen.
Lass sie ums Haus gehen, sagte Jasmin. Bestimmt hat sie die Musik gehört.
Ich nickte.
Es dauerte nicht lange und die Frau kam ums Haus. Sie stand am Zaun und blickte uns streng an. Wieso macht keiner auf?, fragte sie.
Ihre Konturen flimmerten, als wäre sie ein Gespenst aus einem Märchen, das gekommen war, um uns die Ruhe zu verderben. Plötzlich musste ich mich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen.
Tut mir leid, antwortete ich und stand auf. Meine Koordination ließ zu wünschen übrig. Ich wollte im Haus verschwinden, aber sie sagte: Na, junger Mann, jetzt bin ich schon hier. Mach mir bitte das Gartentor auf.
Widerwillig schlurfte ich zu ihr. Ihre Augen verengten sich, als ich ins Licht der Verandalampe trat und den Riegel am Tor löste.
Was habt ihr hier gemacht?, fragte sie. Ihre Schuhe waren nass und die Sohlen hinterliessen klebrige Abdrücke auf den Steinplatten.
Plötzlich war ich unglaublich wütend.
Wieso kommen Sie überhaupt hierher?, fuhr ich sie an. Lassen Sie uns in Ruhe! Es reicht schon, dass Vater sie zusammengeschlagen hat! Wir brauchen Sie nicht!
Nachdem sie verdattert ins Haus gegangen war, klatschte Jasmin. Ich legte mich zurück neben sie in die Liege. Dem alten Gespenst hast du’s gezeigt! Sie lachte. Hoffentlich hat deine Mutter nichts gehört!
Wir warteten, bis sich das alte Gespenst zurück in die Nacht verzogen hatte, wo es ein für alle Mal hingehörte.

Später am Abend fuhr unser Wagen in die Einfahrt. Anhand der Geräusche, welche die Reifen auf dem Kies verursachten, glaubte ich erkennen zu können, wie betrunken Vater war. Heute musste es besonders schlimm sein. Er würgte den Motor ab und knallte die Tür zu. Danach klang es, als würde er das Garagentor mit aller Kraft herunterreißen.
Ich verstecke mich, flüsterte Jasmin.
Ich fühlte mich immer noch high. Die Präsenz meines Vaters belauerte mich von außerhalb des Verandalichts, als sammelten sich Teile von ihm, um sich zu verdichten und ihn erscheinen zu lassen. Jasmin kletterte über den Gartenzaun und verschwand hinter der Hecke. Vater hatte sie seit Jahren nicht geschnitten. Hektisch suchte ich nach ihr, nach einem Fetzen ihres blauen Kleids, aber in dem Dickicht war Jasmin unmöglich zu sehen.
Ich hörte ihn im Haus. Seine Stiefel polterten auf den Dielen. Sah er nach Mutter? Ich konnte nicht einschätzen, durch welche Räume er ging, seine Schritte schienen aus allen Richtungen zu kommen. Dann öffnete er die Verandatür. Ihr Quietschen ließ mich hochfahren.
Hallo, sagte er. Bleib ruhig sitzen.
Die Sanftheit in seiner Stimme überraschte mich. Er lächelte sogar.
Hi, sagte ich.
Ich wollte mich nicht setzen.
Vater hatte ein Bier in der Hand. Er schaute es an, dann mich.
Möchtest du auch eins?
Widerwillen und Überraschung spiegelten sich in meinem Nicken. Ja, sagte ich.
Er stellte seine Flasche auf das Tischchen, verschwand wieder im Haus und kam mit einem zweiten Bier zurück. Mit einem Feuerzeug öffnete er beide.
Wie war dein Tag?, fragte er.
Ich nahm eines der Biere, das Etikett war feucht vom Kondenswasser.
Ganz gut.
Wir stießen an. Dabei blickte er mir in die Augen und ich glaubte, er würde mich bis aufs Innerste durchleuchten. Sein Lächeln wurde breiter.
Hast du was geraucht?
Ich schwieg, wusste nicht, was ich sagen sollte. Stattdessen nippte ich vorsichtig an meiner Bierflasche. Er schlug mir mit der Hand auf die Schulter.
Bin stolz auf dich, sagte er.
Ich nahm einen zweiten Schluck.
Dein erster Joint?, fragte er.
Ich denke schon.
Wirst langsam zum Mann. Bestimmt denkst du auch schon über dein erstes Mal nach.
Manchmal, gab ich zu.
Aber du solltest keine Nutten ficken, ermahnte er mich. Nicht beim ersten Mal. Das verdirbt den Charakter.
Ich nickte.
Ich hab dir was mitgebracht.
Er fummelte in der Jackentasche und legte etwas auf den Tisch. Es war eine gefaltete Hunderternote. Ich zögerte, sie an mich zu nehmen. Ein kleines Geschenk. Kauf dir was Schönes.
Ich dachte, dein schmutziges Geld will ich nicht, und stellte mir vor, seine Schuld klebe daran wie Pech. Mir wurde flau im Magen.
Danke, sagte ich und trank einen Schluck, um den üblen Geschmack loszuwerden.
Hast du noch was von dem Dope?, fragte er. Ich wäre grade in der Stimmung für sowas.
Nein.
Kein Problem, sagte er. Ein Bier tuts auch.
Ich blickte zur Hecke. War Jasmin noch da? In der Dunkelheit glaubte ich ihre Augen zu sehen. Als sie den Kopf zurückzog, glommen sie sanft.
Wie gehts deiner Mutter?, fragte er.
Ich sagte nichts.
Es tut mir leid, was passiert ist, fuhr er fort. Es war nicht nur meine Schuld, weißt du. Erwachsene sind eben so. Manchmal streiten sie sich. Und am nächsten Tag verzeihen sie sich‘s wieder.
Ich antwortete weiterhin nicht. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob tatsächlich alle Männer elende Spieler und Trinker waren, die ihre Ehefrauen zu Brei prügelten, wann immer es ihnen passte. Vater schien die Frage zu erahnen. Er sagte: Ich weiß, dass ich manchmal aggressiv reagiere. Hab mit dem Arzt drüber gesprochen. Das ist wegen einer latenten Persönlichkeitsstörung. Ohne Scheiß! So nennt er das in seinem Fachchinesisch.
Vater lachte.
Du gehst doch gar nie zum Arzt, brachte ich heraus.
Ich war gestern da. Reine Routineuntersuchung. Wegen der Prostata. Dein Großvater ist an Krebs verreckt, da muss man vorbeugen.
Könnte ich das auch kriegen?
Nein, nicht du. Du bist noch jung, mach dir keine Sorgen.
Er setzte sich auf einen der wackligen Gartenstühle. Hast du schon Mädchen in der Schule kennengelernt?, fragte er. Du darfst auch ruhig mal deine Freunde mit nach Hause bringen.
Okay, sagte ich.
Wie fühlt sich so ne Prothese eigentlich an?, bohrte er weiter. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien. Ich wollte aus meiner Haut fahren und mit Jasmin in der Finsternis verschwinden. Rasch trank ich mein Bier aus.
Ach, ist schon gut, beschwichtigte mein Vater. Du bist trotzdem ein Mann. Kommst ganz nach mir. Ich bin stolz auf dich.
Ich schluckte bitter und wollte auf mein Zimmer.
Ich verspreche dir was, sagte er. Ich werd nie wieder die Kontrolle verlieren. Glaubst du mir das?
Mein Nicken war ihm Antwort genug.
Dann sehen wir uns morgen, sagte er und schob den Hunderter mit seinen schwieligen Fingern über den Tisch. Ich nahm das Geld. Bevor ich mich abwandte, blickte ich noch einmal zur Hecke hinüber. Jasmin war nirgends mehr zu sehen.

* * *
An einem Nachmittag waren wir im Freibad. Jasmin lernte mich das Kraulschwimmen. Nach fünfundzwanzig Metern bekam ich Herzrasen und musste mich an der Bahnleine festhalten. Das war mir peinlich, vor all den Leuten. Aber wahrscheinlich nahm nur Jasmin Notiz davon. Außer einem Ohr voll Wasser blieb mir von diesem Nachmittag nichts. Rechts hörte ich bis zum nächsten Tag nur dumpf.
Irgendwann schaffst du’s vom Dreimeter, sagte Jasmin beim Zurückradeln.
Abends sind wir über den Dachboden ins Schützenhaus eingebrochen. Zwischen den Giebeln an der Vorderseite gab es eine Holzklappe, die sich leicht öffnen ließ. Jasmin machte mir die Räuberleiter und ich zog den rostigen Stift der Klappe aus seinem Haltenagel. Dann schob sie sich unter mich, drückte mit aller Kraft nach oben. Ich konnte mich auf den Dachboden ziehen. Er war so niedrig, dass ich mich nur auf den Knien bewegen konnte. Der Geruch von altem Holz hing im Raum, Spinnweben legten sich auf mein Gesicht.
Unter mir erfühlte ich eine Art Wolle. Der Dachboden war stockfinster und ich suchte nach meinem Feuerzeug. Plötzlich gab eine Strebe nach und ich stürzte durch eine Öffnung in den Raum darunter. Auf dem Weg nach unten schlug ich mir den Kiefer an einem Balken auf. Landete mitsamt der Asbestmatte unsanft auf dem Rücken, schmeckte den metallenen Geschmack von Blut in meinem Mund. Meine Zähne pochten. Ich war in der Küche des Schützenhauses.
Alles okay da drin?, rief Jasmin.
Ich brauchte einen Moment. Ja, alles gut. Bin durch das Dach gefallen!
Oh, scheiße! Hast du dir wehgetan?
Ich fühlte mich, als hätte ich von einem Boxer einen Uppercut kassiert. Beim Sprechen fiel es mir schwer, den Mund zu bewegen. Ich merkte, wie mir Blut übers Kinn lief und auf das T-Shirt tröpfelte.
Bist du sicher, dass es dir gutgeht?, rief Jasmin. Mach die Tür auf!
Ich stand auf und humpelte zur Tür. Bevor ich sie aufmachte, wischte ich mir das Blut vom Mund, strich es an meinen Shorts ab. Jasmin tippte mit einem Finger sanft gegen meine Lippen.
Du blutest ja!
Ist halb so schlimm.
Ich hol dir was zum Abtupfen.
Sie drängte sich an mir vorbei und kam mit einer Rolle WC-Papier zurück. Riss ein paar Blätter ab und tippte damit leicht gegen meine Lippe. Ich hoffte, so tun zu können, als hätte ich keine Schmerzen, aber mein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass ich es nicht verstecken konnte. Du bist mein Held, sagte sie. Also ich mein, so richtig!
Meine Schmerzen wurden erträglicher und ich musste lächeln. Mein Mund pochte weiterhin, aber die Blutung verlangsamte sich. Jasmin sagte: Bestimmt finden wir hier Alkohol. Die vom Schützenverein trinken doch gerne mal einen!
In einem Wandregal lagerten Weinflaschen. Die Etiketten klangen Französisch. Im Schützenhaus roch es nach Staub und Waffenöl. Regen schlug gegen die Fensterläden. In der Ferne grollte Donner. Durch die offene Tür sahen wir die ersten Blitze. Sie tauchten das Innere des Schützenhauses in bleiches Licht. Staubflocken schwebten über den Tischen des Gemeinschaftsraums, aufgewirbelt vom auffrischenden Wind.
Jasmin schloss die Tür. Sie hatte eine der Weinflaschen aus dem Regal genommen und betrachtete das Etikett, als wäre sie eine Kennerin. Die Flasche hatte einen Drehverschluss. Sie nahm den ersten Schluck, blies mir den süßlichen Weinatem ins Gesicht. Wir saßen im Schneidersitz auf die Dielen und wechselten uns beim Trinken ab. Ich glaubte, ihre Lippen an der Flaschenöffnung zu schmecken. Den Schlag gegen den Kiefer hatte ich fast vergessen.
Wir zündeten die mitgebrachten Kerzen an. Hielten unsere Zigarettenspitzen gleichzeitig in die Flamme. Das Licht legte sich wie ein Schleier auf Jasmins Gesicht, als wäre sie bereits in den Ort hinter der Welt untergetaucht. Ich erinnerte mich an das Geschenk meines Vaters. In meiner Hosentasche suchte ich nach der Hunderternote. Ich fand sie, zu einem kleinen Rechteck gefaltet.
Mein Vater hat mir das hier gegeben, sagte ich.
In das Wort Vater legte ich meine gesamte Verachtung ihm gegenüber.
Was hast du vor?
Ich brauche seine Geschenke nicht, sagte ich und faltete die Note auseinander. Dann hielt ich sie in eine der Kerzenflammen. Das Papier wellte sich und wurde dunkel, die Flammen leckten an zwei Ecken und mit einem Knistern fing sie vollends Feuer. Ich ließ sie fallen und schaute zu, wie sie verkümmerte.
Jasmin lächelte verträumt und strich mir mit der Hand über die Wange.
Kennst du Flaschendrehen?, fragte sie.
Die Frage war mir etwas unangenehm. Ich ließ mir Zeit, den Rauch auszuatmen, bevor ich antwortete: Ja.
Schonmal gespielt?
Nein, noch nie. Und du?
Meine Zunge war schwer und aus dem Bauch stieg mir die Wärme in den Kopf.
Ich spiele es mit dir, wenn du möchtest, sagte sie und legte eine Hand unter ihr Kinn. Mit zwei Fingern zwirbelte sie an einer Haarsträhne. Ich schraubte die Flasche zu und legte sie zwischen uns. Ließ sie langsam kreisen.
Okay.
Die Flasche stoppte und zeigte auf ein Fenster.
Jetzt ich!, sagte sie. Der Flaschenbauch machte kullernde Geräusche auf den zerfurchten Dielen. Ob sie Übung darin hatte oder es Zufall war? Jedenfalls zeigte der Hals auf mich.
Jetzt bist du fällig, sagte sie, schob die Flasche zur Seite und rückte dicht an mich heran. Ihr Blick blieb in meinem hängen.
Komm näher, flüsterte sie.
Ich tat, was sie wollte. Als sich unsere Lippen berührten, spürte ich, wie sie sich an mich lehnte, wie sie mehr wollte. Mit meinem gesunden Arm hielt ich sie am Rücken. Der Kuss dauerte lange, sie öffnete leicht den Mund, dann etwas weiter, zeigte mir, wie man es mit Zunge machte. Für ein Mal kam ich mir nicht ungelenk vor. Als ich sie nicht mehr spürte, öffnete ich die Augen. Der Donner grollte noch näher.
In deinem Mund war noch ein wenig Blut, sagte sie.
Jasmin ging ans Fenster und öffnete es. Danach die Läden. Sofort fegte Wind durch den Raum. Regen spritzte herein, malte dunkle Striche auf die Dielen. Die Kerzen erloschen. Im Licht eines besonders grellen Blitzes drehte sie sich um. Ihr Oberteil war nass geworden. Ich nahm einen weiteren Schluck Wein.
Wollen wir raus in den Regen?, fragte sie.
Lass uns das Gewitter lieber von hier beobachten, antwortete ich.
Also setzten wir uns nebeneinander, weit genug vom Fenster weg, dass uns der Regen nicht erreichte. Wir tranken den Wein leer. Dann legte sie mir einen Arm um die Schulter, ich spürte ihren Atem an meinem Ohr.
Tut mir leid, was passiert ist.
Sie strich über den Ansatz des Prothesenschafts, glitt mit den Fingern über die schmale Spalte zwischen Kunststoff und Haut. Es kitzelte und war nicht unangenehm, aber ich streifte ihre Hand ab.
Ich möchte für immer hierbleiben, sagte ich.
Es fühlte sich gut an, das so offen auszusprechen.
Jasmin stemmte ihre Brust durch und legte ihren Oberkörper über meine Beine. Die Blitze ließen ihr Gesicht leichenblass, aber doch so lebendig wirken. Sie zündete sich überkopf eine weitere Zigarette an. Auch ich nahm mir noch eine und wir schwiegen eine Weile. Das Gewitter war jetzt über uns. Auf meinem Wasserohr klang der Donner dumpf und fern, auf dem andern krachend und nah. Kurz verlor ich die Orientierung.
Jasmin biss auf den Zigarettenfilter und zog ihr Oberteil nach oben. Unter dem Saum des kurzen Rocks konnte ich den Bund ihrer blauen Unterwäsche sehen.
Willst du deine Zigarette auf meinem Bauch ausdrücken?, fragte sie.
Darauf konnte ich nichts erwidern. Mein Mund war trocken und der Rauch machte es nicht besser. Wieder rollte der Donner. Ihr Bauch hob und senkte sich, der Nabel war ein schwarzer Punkt. Das Zentrum einer verletzlichen Fläche.
Ich will dir nicht wehtun, sagte ich schließlich.
Du tust mir nicht weh, sagte sie. Du hilfst mir.
Sie nahm meine Hand mit der heruntergebrannten Zigarette. Ich wollte mich wehren. Der Wein und das Wasser im Ohr packten mich in undurchdringliche Watte. Ich ertrank in diesem Moment. Wir drehten uns. Der gesamte Raum kreiste gewaltsam durch die Gewitternacht, bis ich lockerließ. Zigarettenrauch brannte in meinen Augen.
Nein.
Bitte mach mich unsichtbar, flüsterte sie.
Ich zögerte. Der Regen rauschte. Dann tat ich es.
Jasmin stöhnte.

* * * *​

Im Winter hatte mich mein Vater mit in die Stadt genommen. Tut dir gut, mal rauszukommen, meinte er. Aber es war todlangweilig. Ich hatte keine Lust, vor dem Wettbüro auf ihn zu warten. Also vertrat ich mir die Beine, während sich der Abend über die Stadt legte. Mutter hatte mir eine neue Jacke gekauft, mit Flanellinnenfutter. Sie schmiegte sich eng an mich, trotzdem hatte ich kalt. Im Licht der Straßenlampen glitzerte Frost und ich musste aufpassen, nicht auszurutschen. Nach einer Weile ging ich zur Brücke, die über den Fluss führte. Das Wasser war fast schwarz und floss lautlos.
In mich selbst versunken blickte ich auf die Oberfläche, auf die Spiegelungen der Lampen. Das Wasser lebte. Es zog mich zu sich. Für einen Moment schloss ich die Augen. Stellte mir vor, ich würde in die dunklen Fluten fallen, bis auf den Grund sinken und dortbleiben. Mein Vater würde ganz verstört aus dem Wettbüro kommen, weil er wieder alles verloren hatte, und er würde mich suchen, die ganze Nacht lang, bis ihn die Polizei unter der Brücke fand, nass und schlotternd, und sie würden ihm erklären, dass sein Sohn fort war, verschwunden. Und das Einzige, was er machen könnte, wäre die Hände auszustrecken, seine Augen rot im Schein ihrer Taschenlampen, um zu sagen: Verhaften Sie mich. Ich bin ein schlechter Vater, ein Spieler und ein Trinker.
Was ist da unten?, fragte sie und riss mich aus meinem Trübsinn.
Ich wandte mich um. Vor mir stand Jasmin, dick eingepackt in einen Wintermantel. An einigen Stellen quoll das Futter wie kleine Wolken aus dem Stoff. Sie hatte die Haare schwarz gefärbt und rauchte. Mit einer Hand hielt sie den Lenker ihres Fahrrads. Vor Überraschung brachte ich kein Wort heraus. Sie lächelte.
Ach nichts, sagte ich.
Willst du runterspringen?, fragte sie. Es klang nicht bedrohlich, sondern so, als wäre das eine ganz normale Frage.
Nein. Ich hab nur nachgedacht.
Sie kam neben mich, lehnte das Fahrrad ans Geländer. Mit einem scharfen Gegenstand war ein Herz in den Lack des Rahmens geritzt worden. Ich bemerkte ihren über den Knien endenden Rock, die wollenen Strumpfhosen darunter, ihre sauberen Nikes. Sie blickte auf den Fluss, so wie ich zuvor. Schnippte ihre Zigarette runter ins Wasser.
Es ist schön hier. So still.
Ja, find ich auch.
Wartest du auf jemanden?
Ich wollte sagen: Ich hab auf dich gewartet. Aber ich kannte sie ja gar nicht.
Auf meinen Vater.
Wo ist er?
Da wo er immer ist. Im Wettbüro.
Ach so, sagte sie, als würde sie genau wissen, was das bedeutete. Vielleicht wusste sie es. Die Nacht war ohne Mond. Feiner Schnee begann zu fallen. Sie streckte ihre Zunge aus dem Mund und fing ein paar Flocken auf. Wir lachten.
Wohnst du in der Stadt?, fragte ich.
Nein, bei meinem Bruder. Er ist zehn Jahre älter als ich.
Ich wohne bei meinen Eltern. Aber die haben eh nur ständig Streit.
Ich und mein Bruder auch!
Es fühlte sich gut an, dass sie mich verstand. Obwohl ich sie erst vor wenigen Minuten getroffen hatte, nicht einmal ihren Namen kannte, spürte ich eine solch starke Anziehungskraft, dass ich sie an mich reißen und mit ihr in einem ewigen Kuss versinken wollte. Blöderweise kam in diesem Moment mein Vater die Brücke entlang. Wie ein schwarzer Schemen, die Kapuze über den Kopf gezogen, ging er raschen Schrittes auf uns zu.
Scheiße, wo warst du? Ich hab dich überall gesucht!
Ich wollte mich entschuldigen, aber Jasmin kam mir zuvor.
Haben Sie gewonnen?, fragte sie.
Mein Vater hielt inne. Wer zum Teufel ist die Göre?
Ich bin Jasmin, sagte sie. Freut mich, Sie kennenzulernen.
Was machst du hier zu dieser Stunde? Mit sonem kurzen Rock?
Mein Vater kam ihr gefährlich nahe, reckte angriffslustig sein Kinn nach vorne. Ich wollte dazwischengehen. Aber Jasmins Lächeln bedeutete mir, einfach stehenzubleiben. Ich rührte mich nicht.
Bist du ne Nutte?, fragte er. Die werden heutzutage ja auch immer jünger.
Er fuhr sich mit einer Hand über den Bart. Seine Augen waren gerötet und wässrig, glänzten in der Dunkelheit. Er stank nach Bier und kalten Zigaretten.
Fünfzig Piepen und ich blas dir einen, sagte Jasmin.
Ihr Lächeln war verschwunden. Vater packte mich am Arm.
Halt dich von meinem Sohn fern, blöde Hure!, keuchte er. Jasmin fackelte nicht lange. Sie kickte meinem Vater zwischen die Beine. Auf seinem Gesicht ein Ausdruck, als klappe alles in ihm zusammen. Seine selbstverschuldete Wut, sein angetrunkener Stolz, seine beschissene Arroganz. All das geriet ins Wanken und ins Trudeln. Schwer schnaufend ging er in die Knie. Mein Koloss von einem Vater, zu Fall gebracht von einem Mädchen.
Meinst du, ich hab ihm den Ständer gebrochen?, fragte Jasmin.
Ich holte aus und klatschte die flache Hand ins Gesicht meines Vaters. Mir tat der Schlag wahrscheinlich mehr weh als ihm, aber das war mir egal.
Endlich wirst du zum Mann, sagte Vater und lächelte gequält.
Du beschissnes Arschloch, sagte ich zittrig und spuckte aus.
Auf meinen Wangen sammelten sich Tränen.

Zwei Wochen später war der Schnee zu Matsch geworden. Ich war mit dem Fahrrad zwei Stunden in die Stadt gefahren, um sie wiederzusehen. Wir hatten Nummern ausgetauscht, ein paar SMS geschrieben. In meinem Kopf rollte eine Bleikugel hin und her. Vater hatte mich ziemlich übel verdroschen. Als ich die Brücke erreichte, war mir klamm unter der Regenkleidung. Das Wasser hatte eine Färbung so grau wie Beton.
Ich wartete nicht lange, dann hörte ich ein Motorrad näher kommen. Die Fahrerin hatte Mühe, auf dem rutschigen Untergrund nicht die Kontrolle über die Maschine zu verlieren. Neben mir kam sie schlitternd zum Stehen, ihre Beine reichten kaum bis zum Boden. Sie klappte das Visier hoch. Auf dem Helm waren weiße Rennstreifen und die Nummer achtzehn angebracht.
Spring auf!, sagte sie.
Wem gehört das Motorrad?, fragte ich.
Mach dir darüber keine Gedanken. Ich kann fahren.
Und mein Fahrrad?
Kette es an die Brücke, sagte sie.
Das tat ich und stieg auf das Motorrad. Es war nicht einfach, viel zu hoch für mich und ich hatte Angst, es umzureißen und uns beide darunter zu begraben. Jasmin kippte die Maschine leicht zur Seite und ich winkelte mein Knie so stark an, wie ich konnte, drückte mein Bein über den Sitz. Ihre Stiefel rutschten im Schneematsch, sie musste sich am Bordstein abstützen. Ich wusste nicht, wo ich mich festhalten sollte. Hinter mir ertastete ich die Handgriffe.
Halt dich an mir fest!, sagte Jasmin und klappte das Visier nach unten. Der Motor heulte auf. Wir schnellten nach vorne und ich wäre beinahe hintenüber auf die Straße geknallt. Jasmin verlangsamte sofort wieder, wahrscheinlich musste sie sich erst an die Maschine gewöhnen. Der Motor klang nicht, als hätte sie ihn im Griff, sondern umgekehrt.
Schließlich fand Jasmin den Rhythmus der Maschine. Wir fuhren durch die Stadt, über nasse Straßen, auf denen Splitter der Nachmittagssonne blitzten. Einmal fuhren wir an einem Streifenwagen vorbei, aber die Polizisten waren zum Glück mit jemandem beschäftigt. Der Typ sah mitgenommen aus. Er war mit seinem Peugeot gegen einen Hydranten gekracht. Ein alter Mann stand mit seinem Fahrrad daneben und beobachtete die Situation.
Unser erster Stopp war beim Me-Gusta-Plattenladen. Es roch nach Plastik und Pappschuber, sie hatten auch CDs und Kassetten. Jasmin suchte unter R wie Reggae. Sie zog eine CD nach der anderen hervor. Alles Künstler, von denen ich noch nie gehört hatte. Sie fragte mich, ob ich auch was kaufen möchte, sie habe genug Geld dabei.
Ska find ich auch ganz nett, sagte sie und zeigte mir ein Album von Jimmy Cliff.
Ich schüttelte den Kopf und grinste.
Ein junger Verkäufer versuchte, Jasmins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Weil auf meiner Wange ein blauer Fleck war und ich eine Schramme auf der Stirn hatte, sah er mich an, als wäre ich aus Versehen in den Laden gekommen.
Protoje und Chronixx, sagte er, gute Wahl.
Ja, sagte Jasmin.
Magst du auch das alte Zeugs, Peter Tosh und sowas?
Jasmin blickte ihn an.
Wenn du eher auf was Modernes stehst, kann ich dir zum Beispiel Baboon Prophecy empfehlen, fuhr er fort. Die sind aus Spanien.
Kannst du mir jemanden empfehlen, der so eine sexy Stimme hat wie mein Freund?, fragte sie.
Wir mussten laut loslachen. Ich glaube, wir wussten beide nicht wieso. Doch in mir platzte der Knoten. Die Schlinge, die mir Vater um den Hals gelegt hatte, an der unwissentlich auch meine Mutter zog, immer enger, bis ich langsam erstickte. Der Verkäufer zog sich zurück, nahm meine Unsicherheit und die Anspannung mit sich, so als hätte Jasmin sie auf ihn übertragen. Sollte er damit doch allein im Trüben brüten, in seinem Reich aus Plastik und Pappe.
Unser zweiter Stopp war bei King Kebap. Kaum hatten wir den Imbiss betreten, klingelte Jasmins Handy. Sie fummelte es aus ihrer Motorradhose, die ihr mindestens zwei Nummern zu groß war. Schaute auf das Display. Dann drückte sie den Anrufer weg. Was nimmst du?, fragte sie.
Einmal Kebap im Taschenbrot. Mit scharf, sagte ich.
Und ich nehm das Gleiche, sagte Jasmin.
Der Mann hinter der Theke griff zum Messer und begann zu arbeiten. Seine Schultern waren fast so breit wie jene meines Vaters. Im Gegensatz zu ihm war sein Bart sehr ordentlich rasiert. Auf seiner Schürze prangte das Logo von King Kebap.
Zum Mitnehmen?, fragte er.
Meine Regenkleidung klebte an mir. Ich hatte keine Lust, draußen zu essen oder woanders hinzufahren. Auf dem Motorrad war es kühl genug gewesen, dass ich immer noch leicht schlotterte.
Nein, zum Hieressen, sagte ich.
Gerne, antwortete er. Ich bringe an den Tisch.
Wir setzten uns ans Fenster. Leichter Regen fiel gegen die Scheibe. Verwischte die Lichter der Stadt. Ich versuchte, einen der Tropfen zu verfolgen.
Dein Vater wird eines Tages bekommen, was er verdient hat, sagte sie, als hätte sie mein ramponiertes Äußeres zuvor gar nicht wahrgenommen. Sie rückte ihren Stuhl näher an meinen. Jasmin stützte ihren Ellenbogen auf der Tischplatte ab, legte mir eine Hand an die Wange. An einem ihrer Finger baumelte der Motorradschlüssel. Wieder fühlte ich den Impuls, sie zu küssen. Ich hätte es wahrscheinlich gemacht, aber dann klingelte ihr Handy erneut.
Scheiße, sagte Jasmin.
Der Mann brachte unsere in Zellophan eingewickelten Kebaps. Er stellte die Teller vor uns. Blickte Jasmin an, die das schrillende Telefon in der Hand hielt.
Gibt Probleme?, fragte er und rieb sich über die Schürze.
Jasmin nickte. Irgendein Psycho, der mich immer wieder anruft. Können Sie ihm vielleicht was richtig Böses sagen?
Der Mann nahm das Telefon. Wischte mit dem Daumen auf dem Display nach oben. Ich starrte ihn an. Er machte das wirklich!
Halte dich fern von diese Mädchen, sagte er und stellte seine Stimme besonders tief. Oder ich komme und erwürg dich wenn du schlafen!
Lachend legte er auf und gab Jasmin das Handy zurück.
Danke, sagte Jasmin.
Keine Sorgen jetzt, sagte der Mann. Keine Psycho, keine Polizei. Ihr wollt auch eine Cola?
Auf unser Zögern sagte er: Ich spendiere.
Dann nickte er zum Fenster. Draußen stand das Motorrad.
Ich auch mal jung, sagte er und holte unsere Colas.
Während wir unsere Kebabs aßen und flüssigen Zucker aus Dosen schlürften, überlegte ich, was sie mit ihm gemacht hatte. Es war fast so gewesen, als hätte sie ihn auf eine Weise kontrolliert, ihn für ihre Zwecke eingespannt, ohne dass er sich hatte dagegen wehren können. Seine Drohung konnte bestimmt zur Anzeige gebracht werden. Ich fand, er hatte für eine Fremde ganz schön viel riskiert.
Nachdem wir fertiggegessen und uns ein wenig aufgewärmt hatten, verabschiedeten wir uns von dem Mann. Auf Wiedersehen, sagte er. Ihr aufpassen.
Wir gingen zum Motorrad und Jasmins Handy klingelte ein drittes Mal. Sie stellte es aus. Vertraust du mir?, fragte Jasmin bevor wir aufstiegen.
Ja, sagte ich.
Dann muss ich dir was zeigen.
Wir fuhren ans Westende der Stadt. Mittlerweile hatte der Nieselregen aufgehört, die nassen Zinndächer der Häuser glänzten im Abendlicht. Bleierne Wolken zogen über den Himmel. Auf den Straßen begegneten wir kaum jemandem. Jasmin übersah ein Rotlicht und ich sah uns schon gegen einen Lastwagen krachen, auf dessen Anhänger der Schriftzug MAERSK stand. Mit rutschenden und quietschenden Reifen kamen wir im letzten Moment zum Stillstand. Der Fahrer zeigte uns den Vogel. Mein Herz war kurz vor dem Kollaps.
Wir erreichten unser Ziel. Jasmin parkte das Motorrad neben einem hohen Drahtzaun. Dahinter lag das Gelände des Güterbahnhofs. Zwei Männer in leuchtend orangen Westen koppelten eine Lokomotive an eine Schlange von blauen Wagen. Auf den Wagen prangte das Symbol für Hochentzündlichkeit. Ein Mann mit Hund kam uns entgegen. Er starrte Jasmin an, die ihren Helm abnahm, ihn an den Lenker hängte und den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. Der Hund riss an der Leine und der Mann ging weiter, blickte mehrmals über die Schulter zurück.
Hast du je daran gedacht, einfach in einen Zug zu steigen und wegzufahren?, fragte Jasmin.
Nein, sagte ich.
Wahrscheinlich war ich wegen Mutter nie auf den Gedanken gekommen. Weil ich’s nicht übers Herz bringen würde, sie mit Vater alleinzulassen.
Aber würdest du mit mir wegfahren?, fragte Jasmin. Sie blickte am Zaun nach oben.
Ja, antwortete ich. Ja, ich denke schon.
Dann lass es uns tun.
Die Lokomotive zischte. Die Männer in den orangen Westen hatten die Güterwagen angeschlossen und überprüften die Verbindung. Wir warteten, bis sich der eine über das Bahnhofsgelände davonmachte und der andere zur Führerkabine hochstieg und in der Lokomotive verschwand. Als er den Zug langsam anfahren ließ, spürte ich die Vibrationen. Sie erfassten meinen Körper, verliehen der Situation eine Dringlichkeit, dass ich instinktiv nach den Drahtmaschen griff.
Jasmin war schneller als ich. Mich erstaunte, wie gewandt sie den Zaun erkletterte. Sie bewegte sich, als hätte sie das schon öfter getan. Ich zögerte, aber ihr Blick spornte mich an. Der Draht schnitt mir in die Finger. Meine Arme wurden nach der Hälfte schwer, aber ich kämpfte mich weiter nach oben. Der Zaun war mindestens drei Meter hoch. Zuoberst hatte ich Mühe, meine Beine auf die andere Seite zu kriegen. Der Draht zitterte und bog sich unter meinem Gewicht. Jeden Moment rechnete ich damit, abzurutschen und mir den Schädel auf einem Gleis aufzuschlagen. Der auffrischende Wind blies mir kalte Regentropfen ins Gesicht. Als ich es endlich schaffte, mich auf die andere Seite zu manövrieren, ließ Jasmin sich den letzten Meter fallen.
Sie wartete, bis ich neben ihr im Kiesbett landete.
Der Güterbahnhof war ein Labyrinth aus Gleisen und ich fragte mich, wie man sich hier als Zugführer orientierte. Es schien mir hoffnungslos. Unser Zug nahm derweilen Fahrt auf. Ich rannte Jasmin hinterher. Meine Schuhe rutschten auf dem Kies. Der Regen wurde heftiger, Wind zerrte an meiner Jacke. Donnergrollen ließ das Rattern und Dröhnen der Güterwagen für einen Moment verstummen.
Aus der Führerkabine lehnte der Chauffeur. Ein schwarzer Umriss. Seid ihr wahnsinnig?, brüllte er. Weg vom Zug!
Scheiß auf ihn!, schrie Jasmin.
Dann zuckten die ersten Blitze über den Himmel, verästeltes Licht, das sich seinen Weg zur Erde bahnte. Mit den Blitzen kamen meine Zweifel mit einem Schlag zurück. Was würde Mutter ohne mich tun? Ich konnte sie nicht einfach zurücklassen! Wenn, dann würden wir alle drei gemeinsam flüchten. Und dazu den Personenzug nehmen. Was wir hier taten, schien mir plötzlich unglaublich dumm. Ich wurde langsamer.
Dann rollte der letzte Wagen an mir vorbei und war rasch außer Reichweite. Mit einem Sprint hätten wir ihn vielleicht noch eingeholt, aber ich blieb stehen, hielt meine stechende Seite.
Scheiße, sagte ich. Die kühle Luft schnitt mir in die Kehle.
Was ist passiert?, fragte sie.
Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.
Ich habe nichts, was mich hier hält, sagte sie.
Was ist mit deinem Bruder?
Er ist ein Arsch. Er liebt es, mich zu quälen.
Was hat er davon?
Sie überlegte einen Moment, zuckte dann mit den Schultern.
Er macht das, weil er mein Bruder ist. Große Brüder tun sowas.
Nicht alle.
Sei froh, dass du keinen hast, sagte sie und winkte ab.
Es reicht mir, dass ich einen Vater habe, antwortete ich steinern.
Lass uns den Bahnhof erkunden, schlug Jasmin vor.
Ich folgte ihr zurück. Wir waren ein ganzes Stück gerannt. Das Zentrum des Gewitters hatte sich bereits in die Südstadt verlagert, als wir dieselbe Stelle erreichten, an der wir unsere Zugverfolgung aufgenommen hatten. Ich stolperte über Gleise, die sich wie metallene Flüsse durchs Schotterbett zogen. Einmal trat ich in eine Pfütze und durchnässte meinen linken Schuh, das Wasser war rostfarben und roch nach Eisen. Kaltes Flutlicht zerlegte den Regen in silberne Streifen. Wir hielten uns im Dunkeln. Vor uns ragte die Silhouette einer Werkhalle auf, weiter entfernt das Containerterminal mit seinen Kränen.
Spürst du das?, fragte Jasmin.
Ich hielt inne, sah mich um, lauschte.
Zwischen den Masten flackerte es, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen. Aus den Oberleitungen kam ein kaum hörbares Summen, das in den Ohren vibrierte und mich schwindlig werden ließ. Der schwere Geruch von Diesel, Öl und feuchtem Schotter hing über dem Güterbahnhof. Rangiersignale leuchteten rot wie lidlose Augen. Wir gingen weiter, an Containerwagen, Kesselwagen und offenen Schüttgutwagen vorbei. Je weiter wir ins Zentrum des Bahnhofs vordrangen, desto stärker wurde das Gefühl, dieses industrielle Ungeheuer aus Schienen und Strom warte auf uns. Es flüsterte, knackte und raunte, als wäre all das Metall lebendig geworden.
Zwischen zwei Waggonreihen blieb Jasmin stehen. In der Ferne zuckten die Blitze über den Horizont, das Gewitter war nun außerhalb der Stadt und der Regen fiel nur noch leicht. Neben uns glänzten die rostigen Wannen der Schüttgutwagen.
Siehst du das Licht da vorne?, fragte sie und zeigte in die Düsternis. Es hat eben zu Grün gewechselt.
Ja, sagte ich.
Wenn wir schnell sind, können wir oben reinklettern, ohne dass uns jemand sieht.
Ich kann meine Mutter nicht zurücklassen, antwortete ich, aber es klang nicht sonderlich überzeugt, obwohl ich mich innerlich gefestigt und meine Entscheidung getroffen hatte. Jasmin nahm mich am Arm.
Ich verstehe das, wirklich, sagte sie und kam so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Wir blickten uns tief in die Augen, was mir etwas unangenehm war. Aber du musst loslassen können. Du kannst sie nicht retten. Nur sie selbst kann das tun. Sobald wir fort sind, kannst du ihr schreiben.
Okay, sagte ich. Das Verlangen, Jasmin zu küssen, überwog meine Sorgen. Ich schloss die Lider und tat es. Ihre Lippen waren weich und rochen leicht nach Erdbeere, und für einen Moment schien es, als könnte dieser Geschmack alles andere auslöschen, selbst Diesel, Öl und Eisen. Trotzdem war in meiner Kehle ein Kratzen und ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Wir lösten uns voneinander.
Klettern wir hoch, sagte Jasmin und ehe ich mich versah, hatte sie mich zwischen den Waggons allein gelassen. Ich schaute nach oben, in dem Augenblick, als sie im Bauch des Güterwagens verschwand. Das Summen der Elektrizität wurde intensiver, verdichtete sich. Meine Schädeldecke begann zu kribbeln und ich konnte kaum mehr klar denken. Die letzten Regentropfen klatschten mir auf die Stirn. Jasmins Klopfen aus dem Inneren des Waggons ließ mich aufschrecken.
Hier drin ist es trocken!, hörte ich ihre Stimme dumpf hinter dem Metall. Es ist sogar recht gemütlich!
Als ich nicht reagierte, fragte sie: Kommst du?
Ich antwortete nicht, sondern griff nach der ersten Sprosse der Leiter, die Außen am Wagen angeschweißt war. Hievte mich Tritt für Tritt weiter nach oben. Der Stahl war glitschig und hinterließ einen rostigen Film auf meinen Händen. Ich hoffte, eine der Sprossen würde brechen oder noch besser die ganze Leiter, sodass ich rücklings zu Boden fiel. Für Jasmin hätte es keine andere Möglichkeit gegeben, wieder aus dem Waggon rauszuklettern, und mein Sturz hätte sie bestimmt darin befeuert. Aber keine Sprosse brach. Bei jedem Tritt knarzte das Metall.
Ich hörte Jasmins Stimme, verstand jedoch nichts. Das Summen erfüllte mich nun vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Wenn ich eine Hand löste und nach der nächsten Sprosse griff, durchzuckte mich ein Schmerz wie von einem Stromschlag. Mein Puls geriet völlig außer Kontrolle. Mir war kalt und heiß zugleich. Mein Blick war auf die Oberleitungen fixiert. Licht flackerte durch die Finsternis, wanderte an den Leitungen entlang. Trockener Funkenregen sprühte auf mich herab.
Unter aufschwellender Panik wollte ich Jasmin zurufen, dass ich umkehre, dass ich es nicht schaffte. Doch es war zu spät. Meine Finger suchten nach der letzten Sprosse. Dann rutschte ich mit den Schuhsohlen ab und griff ins Leere. Für einen kurzen Moment schwebte ich. Ein gleißendes Licht blendete mich, als von der Oberleitung ein Bogen auf mich herunter schnellte. Die Helligkeit fraß mich auf, verwandelte meine Wahrnehmung in tiefenloses Weiß. Ein unmenschliches Brennen. Der Geruch von verschmorter Haut. Dann verschluckte mich die Finsternis.

* * * *
* * *
* *
*​

Ich erwachte im Krankenhaus. Mutter saß neben dem Bett. Ihr Gesicht sah schon wieder ganz ordentlich aus, abgesehen von dem schwarzen Bluterguss unter ihrem rechten Auge. Als sie merkte, dass ich wach war, fing sie an zu weinen.
Sie haben dich im Freibad gefunden.
Sie wirkte durcheinander, die Worte sprudelten aus ihr heraus.
Wer ist dieses Mädchen? Was hat sie mit dir gemacht?
Ich konnte noch nichts einordnen, war losgelöst von meinem Körper. Als blickte ich durch ein Nadelöhr auf mich und meine schluchzende Mutter hinab. Entrückt, unfähig zu handeln. Ich wollte meine Hand ausstrecken und sie trösten. Aber vor allem suchte ich Trost für mich selbst.
Du hast eine Gehirnerschütterung.
Sie legte mir die Hand auf die Stirn. Dann stützte sie sich mit den Händen auf meinem Bett ab. Ich ließ sie weinen. In mir war alles zu schwerem, unverrückbarem Stein geworden. So sehr ich es versuchte, ich konnte mich nicht bewegen. Das Gefühl hatte nicht nur meinen Körper gefangen genommen, es ließ mich vor allem auch gedanklich völlig teilnahmslos werden. Nach einer Weile ging es Mutter besser.
Dieses Mädchen, fuhr sie fort, hatte einen schlimmen Unfall. Es tut mir so leid. Du musst unglaublich viel durchgemacht haben.
Sie schniefte. Kannst du mich hören?, fragte sie.
Ich fand meine Stimme lange nicht wieder. Lag halb wach und halb schlafend im Bett und starrte an die weiße Decke. Eine nicht enden wollende Spirale. Ich dachte: So ist es, wenn man tot ist. Unruhig tastete ich über meinen Arm. Oder war es die Prothese? Ich konnte die Berührung nicht mehr unterscheiden. Manchmal kam ein schemenhafter Mann in mein Zimmer, fragte mich, mit wem ich beim Güterbahnhof gewesen sei. Sie hätten ein gestohlenes Motorrad gefunden.
Zwei oder drei Tage später fuhr Mutter mich nach Hause. Dank der Medikamente ging es mir besser. Ich war froh, endlich aus dem sterilen Krankenhausgebäude rauszukommen. Ich platzte fast vor Worten, die ich nicht aussprechen konnte. Irgendwann gelang mir ein Anfang.
Sag mir, wo sie ist!
Wer war sie?
Sie ist meine Freundin!
Mutter erwiderte nichts, aber ich sah an ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck, dass ihr meine Bemerkung nicht gefiel. Sie schluckte und schaute angestrengt auf die Straße, obwohl kein Verkehr war.
Du hast deine Prothese verloren. Der Arzt sagte, du warst komplett weggetreten.
Was ist passiert?
Ich weiß es nicht. Der Bademeister fand das Mädchen im Pool. Sie ist ertrunken.
Was?
Du hast deine Prothese verloren. Das tote Mädchen klammerte sich daran.
Hör auf damit! Das stimmt nicht!
Sie hat dir Drogen gegeben!
Ich schwieg. Mutter war schon wieder den Tränen nahe. Sie sagte: Ich verstehe das nicht. Hilf mir, es zu verstehen. Kannst du das?
Ich liebe sie!
Mutter schwieg. Suchte nach den richtigen Worten. Ich wollte weinen, aber konnte es nicht. Mein Körper war taub. Als wir unsere Einfahrt erreichten, fragte sie: Hat sie Suizid begangen?
Jedes Wort donnerte durch meinen Kopf wie ein Güterzug. Ich sagte nichts.
Weißt du, was das ist? Wenn wir drinnen sind, kann ich’s dir erklären.
Ich schüttelte den Kopf. Sie hat Suizid begangen, wie du es damals am Güterbahnhof auch tun wolltest, sagte Mutter. Aber die Worte waren nur in meinen Gedanken. Ich stieg aus.
Vater stand in der Tür, streckte die Arme aus und wollte mich umarmen. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt, damit sein falsches Lächeln verschwand.
Fick dich doch selbst, sagte ich.
Ich brauchte keine Erklärung. Jasmin war zu dem Ort hinter der Welt gegangen, um gesund zu werden.

Manchmal träume ich von ihr. Dass sie noch da ist und irgendwo mit dem Fahrrad auf mich wartet. Dass sie bei Gewitter zurückkommt, mit offenen Augen, mit denen sie mich ansieht wie damals auf dem Dreimeterbrett. Meine Mutter behauptete felsenfest, sie wäre im Pool ertrunken. Aber ich weiß es besser, im Gegensatz zu ihr habe ich es erlebt. Ich war mit ihr auf dem Sprungturm, bevor sie verschwunden ist. Dieser Abend steht so deutlich vor meinen Augen, als säßen wir uns immer noch gegenüber.
Da sind Schuldgefühle. Nicht nur gegenüber mir selbst, auch gegenüber meiner Mutter. Sie hatte ihre letzten Ersparnisse für die Prothese ausgegeben, weil wir keine Krankenversicherung mehr hatten. Ihr Geld war draufgegangen für ein Stück Kunststoff, das mich nicht mehr ganz machen konnte. Wenn ich daran zweifle, ob das mit Jasmin echt gewesen ist, mein fehlender Arm dient als harter Beweis dafür. Mein Vater hat sich fast totgesoffen und muss für mindestens fünf Monate in eine Klinik.
Ich sollte wütend auf Jasmin sein. Darüber, dass sie mich verstümmelt zurückgelassen hat und ohne mich an den Ort hinter der Welt gegangen ist. Aber es gelingt mir nicht. Ich denke an Jasmin, sobald ich etwas trinke, beim Spazieren am Fluss, beim Waschen. Wasser ist das verbindende Element, das hat sie selbst gesagt. Am stärksten ist es, wenn ich meine Armprothese abnehme und über den Stumpf streiche. Dann spüre ich das, was von ihrer Berührung geblieben ist.
Ab und zu radle ich barfuß und in Badehose durch die umliegenden Wälder. Trete in die Pedale, bis meine Füße blutig sind. Am Tag bin ich nie mehr ins Freibad gegangen. Nur nachts ein paar Mal. Ich denke zurück an diesen Sommer, bis irgendwann der nächste kommt. Ich setze mich ans Beckenrandgitter und halte die Füße ins Wasser. Dort, im Schatten des Sprungturms, warte ich darauf, den Mut doch noch zu finden.

 

Hallo @deserted-monkey

und Glückwunsch zu dieser feinfühligen Geschichte. Ein poetischer Stil und eine mysteriöse Protagonistin , die dann einfach so verschwindet...

Irgendwie schade , da sich ja zuvor beinahe eine Liebesgeschichte entwickelt hätte...

Mir persönlich ist deine Geschichte etwas zu melancholisch und ihr Verschwinden etwas zu "vorprogrammiert"aber trotzdem grosses Lob für deinen ausgereiften Stil!

N

 

Hallo @deserted-monkey ,
gefällt mir besser als Deine anderen Sachen, die mir fast immer zu kompliziert sind. Was Du beschreibst, erinnert mich an einen nächtlichen Besuch in einem Schwimmbad in Stolberg im Harz. Dort sind wir zu fünft über den Zaun geklettert und haben nackt gebadet. Und sind natürlich auch alle wohlbehalten aus dem Wasser geklettert. War ein geniales Erlebnis. Hinterher haben wir noch im Wald übernachtet.
Bei Deiner Shortstory ist das Ende ja vorhersehbar. Immer, wenn in der Literatur oder im Film von hoch oben ins Wasser gesprungen wird, endet das so. Hier im Forum gab es doch mal eine Geschichte, wo zwei Jungs von der Brücke springen. Mit dem selben Ergebnis wie bei Dir. Habe ich gerne gelesen. Gruß Frieda

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @deserted-monkey,

deine Geschichte habe ich ganz gerne gelesen. Ein zur Saison passender Stimmungstext, fast ein wenig nahe an der Grenze zum Topos: der Einbruch ins Freibad, ein Unfall (oder so was in der Art), da blitzen schnell Szenen aus einem "Tatort" auf oder aus typischen "Coming of Age"-Filmen. Hier muss man wirklich überall den richtigen Ton treffen, um nicht ins seichte Fach abzurutschen. Ich führe mal ein paar Stellen auf, wo der Text ohne Not an Boden verliert und du noch mal ran könntest in meinen Augen:

Wir radelten barfuß aus dem Dorf. Ich fuhr einhändig, die Pedale schnitten in meine Sohlen, die Badehose zwickte im Schritt.

Mit dem "radeln" setzt du bereits auf ein leichtgängiges Wort, da braucht es nicht noch eine "im Schritt zwickende Badehose". Das ist zu Nahe am Reim, nimmt dem viel schöneren Bild von den einschneidenden Pedalen direkt die Wirkung und macht den ersten Satz direkt auf eine nicht so ästhetische Weise anzüglich.

Kurz nach Mitternacht erreichten wir unser Ziel, ließen die Räder stehen und kletterten über den Zaun. Der Beton war noch warm vom Tag.

Gut! – Vielleicht aber besser "Betonboden" oder "die Steinplatten".

Zwischen Wolken glitzerten Stecknadelsterne.

Grenzwertig bzw. bin hin und her gerissen, ob das gut oder kitschig und leicht schief ist. Denn genau genommen müsste es "Stecknadelkopfsterne" heißen, die generische Form einer Stecknadel hat ja nichts mit einem Stern zu tun – und wenn diese Form vor dem inneren Auge aufpoppt, dann reibt es. Ist aber nur meine Meinung.
So oder so klingen das Wort oder besser der ganze Satz schon nach naiver Kindergeschichte. Ist das die Wortwahl/der Erlebniskosmos eines Teeniejungens? Oder eines Mannes, der erzählt?

Jasmin sagte, sie könne unter Wasser Gedanken hören. Ich lachte.
Es roch nach Chlor und irgendetwas Modrigem. Unterwasserlampen warfen grünliches Licht durchs Becken. Das kommt von unsichtbaren Algen, behauptete Jasmin und sprang kopfüber ins Wasser. Ich sah ihre Beine verschwinden, weiß und verschwommen.

Was verschwunden ist, kann nicht weiß und verschwommen aussehen.

Dann tauchte sie wieder auf.
Du denkst an deinen Vater, sagte sie. Dass du ihm ähnlich wirst.
Ich sagte nichts.
Vergiss den Streit mit deiner Mutter. Wir brauchen das Geld eh nicht.
Ich zuckte mit den Schultern.

Hat mich rausgehauen. Hier fehlt in meinen Augen Kontext. In was für einem Verhältnis stehen die beiden? Warum brauchen sie Geld (nicht)?

Stark, wie du den Automaten aufgebrochen hast!

Würde ich kicken. Klingt wie eingestreutes Klischeematerial, zumal du die Figurenzeichnung nicht weiter vertiefst. Da hängt diese Info in der Luft. Welchen Automaten? Wann und wozu aufgebrochen? Warum findet sie das gut? Du beginnst hier mit Charakterschattierungen, führst sie dann aber im Grunde überhaupt nicht aus. Das wirkt auf mich unentschieden, was der Text will: Skizze sein? Oder von zwei plastischen Figuren erzählen? Ich denke, du musst dich entscheiden: Radikale Verknappung oder nicht nur A, sondern auch B sagen und Backstory liefern.

Wir schwiegen eine Weile und rauchten auf dem Dreimeterbrett.

Ein wenig fehlt mir die Begleitung durch die Bewegung der Figuren. Du bist erst minutiös dran an ihren Bewegungen, dann sitzen sie plötzlich auf dem Brett, ohne hochgeklettert zu sein. Kann man machen, aber ich sehe keinen Grund dafür, hier nicht weiter nah dran zu bleiben und den Bewegungen und Reaktionen ganz genau zu folgen. Das ist ja schließlich der Kern des Textes, hier muss nicht ökonomisch gedacht werden. Vielmehr wird hier die Wirkung beim Leser erzielt, denke ich.

Ihr kurzes Haar glänzte und mein T-Shirt klebte mir am Rücken. In einem nahen Feld zirpten die Grillen.

Auf jeden Fall streichen – Grillen dürfen niemals zirpen, sonst setzt im Kopf des Leser direkt Jürgen Drews an: "Die Grillen zirpen und es duftet nach Heu ..." :-)

Wollen wir Nacktbaden?, fragte sie.
Ich weiß nicht.
Komm schon!, ermunterte sie mich und begann, sich auszuziehen.

Wieder: Meinem Empfinden nach sitzen sie hier noch, sie müsste also erst einmal aufstehen. Das wiederum ist auf einem dunklen Dreimeterbrett doch ein kleines Kunststück, dem man sich als Erzähler widmen müsste.

Im diffusen Beckenlicht konnte ich ihren Körper sehen, die Narben am Bauch.

Woher kommen die Narben? – Hier wirkt das sparsame Erzählen für mich wie Effekthascherei. Ich arbeite in der Kommunikation und da dreht sich auch alles um maximale Ökonomie, wenn man Informationen zusammenstellt. Aufmerksamkeit ist ja immer knapp. Also richtet man sich immer nach der Relevanz: Welche Informationen sind am relevantesten, welche kann man vernachlässigen?

Vor diesem Hintergrund muss man sagen: In einem Text, der quasi einer einzigen Figur/Person gewidmet ist, der eine einzige Erinnerung ist und dabei diese Figur/Person vorstellt, hat alles höchste Relevanz, was diese Person charakterisiert, ihr also eigen ist, sodass sie unverwechselbar wird. Narben am Bauch sind demnach von allerhöchster Relevanz. Sie erzählen von Schmerz, Versehrtheit, Scham ... usw. Das kann man nicht einfach in einem Nebensatz einstreuen, da muss der Text näher drauf eingehen, ansonsten betrügt er den Leser geradezu, zeigt ihm die lange Nase: "Hier wäre das Info-Gold, das du suchst, aber ich lasse es nur aufblitzen! Ätsch" – Ja schönen Dank!

Auffällig ist hier auch, dass du von "NarbeN" schreibst. Eine Narbe würde man quasi sicher mit einem Kaiserschnitt in Verbindung bringen. Das würde die Tür zu einer Backstory öffnen, die sich bereits abzuzeichnen beginnt. Wobei auch hier nicht viel klar werden würde, denn bei der Scham des Erzählers wäre er sicher nicht der Erzeuger gewesen. Trotzdem: Hier würde man etwas Fleisch an den Knochen bekommen. Aber mit "Narben"? Das führt als Info nirgendwohin.

Sie stand so dicht vor mir, dass ich mit meiner Zungenspitze über ihre Scham hätte fahren können. Schwerfällig stand ich auf. Das Brett wippte und einen Moment musste ich ums Gleichgewicht kämpfen.

Da du vorher nicht eng an den Bewegungen dran geblieben bist, wirkt dieses Stelle für mich schwer visualisierbar: Sie steht auf dem schmalen Brett vor ihm. Das geht nur, wenn sie sich vorher mit gespreizten Beinen gegenübergesessen haben. Das wäre aber erwähnenswert gewesen, weil erotisch aufgeladen. Außerdem hätten sie sich dann in die Augen gucken müssen und gegenseitig den Rauch ins Gesicht geblasen.

Zieh dich aus! Ich schau auch weg, wenn du willst.
Du siehst doch eh nie richtig hin, sagte ich.

Dieser Satz hat für mich irgendwie nicht die richtige Resonanz erzeugt. Ihr Verhältnis, aber auch ihr Alter und ihre Reifegrade sind bis hier für mich noch überhaupt nicht greifbar. Meint er das in Bezug auf ihr sexuelles Verhältnis? So klang es im ersten Moment für mich. Aber dann erscheint es mir doch unverfänglicher gemeint zu sein. Ist es aber auch nicht – er ist verkrüppelt, wie wir indes erst später erfahren.

Kurz: In der Story stimmt für mich die Infokaskade nicht ganz. Du hättest seine Behinderung irgendwie schon andeuten müssen, denke ich. Sonst läufst du in einen Fehler rein, den viele hier im Forum machen, in meinen Augen: zu denken, dass eine rückwirkende Enthüllung einen nennenswerten Effekt beim Leser hat. Wahrscheinlich spekulierst du darauf, dass dieser Satz hier dann später seinen ganzen Sinn entfalten wird. Aber das ist ein Trugschluss: Beim einmaligen Lesen ist dieser Satz, sobald man an der Stelle weiter unten, wo es mit der Behinderung klar wird, ankommt, längst vergessen.

Anders herum würde ein Schuh draus werden: Der Leser erfährt erst von der Behinderung und speichert das als relevante Info ab. Dann kommt dieser Satz hier und weil es schon den Nährboden fürs Verständnis gibt, klickt es: Aha, er will mehr, fühlt sich aber aufgrund seines Makels abgelehnt! Das Bild formt sich damit beim Lesen selbst, nicht in irgendeiner rückwirkenden Betrachtung, die meistens eh nie zustande kommt, weil man Texte in der Regel nur einmal liest und dann auch nicht gezielt interpretiert.

Sie lächelte müde und legte mir die Hände auf die Schultern. Ihr Haar roch nach Zitronenshampoo.

In meiner Lesart kommt er ihr hier nicht näher als zuvor, sodass diese Info hier nicht aus der Situation geboren wird.

Ihr Blick hielt mich fest. In diesem Moment fühlte ich, dass sie mich wirklich sah.

Für mich etwas schief, weil sie ihm ja zwei Sätze vorher die Hände auf die Schultern legt, sie ihn also gerade nicht metaphorisch festhält. Kannst du abfangen, indem du drauf eingehst:

"Sie lächelte müde und legte mir die Hände auf die Schultern. Doch es war ihr Blick, der mich festhielt."

Du musst dich nicht schämen, sagte sie.
Schwül drückte die Nacht.

Groschenromansound.

Unsicher überlegte ich, ob ich sie küssen sollte.

Dass er unsicher ist, haben wir längst verstanden ;-)

Kommst du morgen zur Schule?, fragte ich stattdessen.
Vielleicht, sagte sie. Kommt drauf an. Vielleicht bleib ich einfach unter Wasser. Ist leiser da. Nur wir. Deine und meine Gedanken.

Seltsamer Satz, da sie ja nicht unter Wasser ist. Warum also "bleiben"? Eher:

"Vielleicht tauche ich einfach unter."

Das würde sich dann – falls man es zwei Mal liest oder interpretiert – als ganz nette Andeutung des Endes entpuppen.

Ich wollte etwas erwidern, aber sie kam mir zuvor: Ich will einfach mal anhalten. Stehenbleiben.
Ich nickte, auch wenn ich nicht verstand. Widerstandslos ließ ich sie gewähren, als sie mir das T-Shirt über den Kopf und die Badehose auszog.
Bist ja ganz schön aufgeregt!, neckte sie mich und lachte leise.

Psychologisch nicht ganz stimmig für mich. Kurz vorher nimmt sie ihm seine Unsicherheit. Warum sollte sie diese jetzt wieder wachrufen? Führt sie die Situation nun souverän an oder ist sie selbst unreif?

Ich spürte ihre warme Hand und schloss die Augen. Dann sprang sie vom Brett und das Letzte, was ich hörte, war das Klatschen ihres Körpers auf dem Wasser. Der Strom fiel aus. Kein Licht. Keine Pumpen. Selbst die Grillen verstummten. Die Wasseroberfläche blieb glatt, schwarz und still.

Wieder etwas unsauber: Die Wasseroberfläche muss ja zunächst aufgewirbelt werden, bevor sie sich wieder glättet und dann so bleibt. Erneut folgt der Text der Szene nicht wirklich gewissenhaft, sondern macht so einen unkonsistenten Sprung.

Ich rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Wie betäubt nahm ich meine Hose, das T-Shirt und ihr Badekleid, kletterte mit wackligen Beinen die Leiter vom Sprungturm hinab.
Ich sprang ins Becken. Tastete. Tauchte. Schwamm bis zum Grund.

Fände es logischer, wenn er vom Turm springt. Das wäre für mich psychologisch plausibler und der benötigte Wendepunkt: Er ist die ganze Zeit unsicher, erst in der Krise wird er mutig, aber dann ist es zu spät. Es würde auch besser zeigen, was sie ihm bedeutet: Angesichts der Gefahr denkt er über sein eigenes Wohl nicht mehr nach.

Ein Blubbern in meinen Ohren.

Würde ich ersetzen – klingt zu kindlich für die Schlüsselstelle.

Herzklopfen. Bis der Schmerz in meinen Lungen mich zum Auftauchen zwang.

Spontan würde ich sagen: Wenn einem die Luft ausgeht, hat man keine Schmerzen in der Lunge. Das Gefühl ist anders. Vielleicht mit einem Vergleich arbeiten?

Sie war nicht mehr da. Nur ihr Fahrrad lehnte noch neben meinem am Zaun.

Finde ich nicht ganz plausibel verknüpft: Sie versinkt im dunklen Wasser – ob nun real oder in einem surrealen Akt. Was hat das mit dem Fahrrad zu tun?

Für mich löst sich hier die Szene falsch auf: Müsste er nicht zunächst Licht erzeugen oder auftreiben, um den rabenschwarzen Grund abzusuchen? Er sieht doch gar nichts unter Wasser? Woher weiß er also, dass sie nicht mehr im Pool ist?

Das Fahrrad zeigt also in der Szene an, dass sie noch da sein müsste – und ist nicht als Überbleibsel zu werten.

Erinnerungen fluteten mich.

Hier ist er, wenn man sich die Absätze des Textes ansieht, noch vor Ort in der Situation. Da finde ich sein Verhalten unplausibel. Wie gesagt: Ohne Lichtquelle muss er sie auf dem Grund des Pools vermuten. Da ist Panik und Hilfeholen angesagt. Stattdessen beginnt er in Erinnerungen zu schwelgen?

Ich finde, die poetische Note rettet den Text hier nicht; er sollte die Situation plausibel auflösen und die Erinnerungen später bringen.

Wie wir im Dämmerlicht auf der Veranda saßen. Wie sie auf ihre Hände starrte und sagte: Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin gar nicht richtig hier. Als ob ich langsam unsichtbar werde. Nicht für alle, nur für diejenigen, die mich nicht mehr sehen wollen. Damals hätte ich am liebsten protestiert, aber heute weiß ich es besser.
Oder ein paar Wochen vor unserem nächtlichen Ausflug: Wir lagen nebeneinander auf der Wiese und blickten in den Himmel. Weißt du, sagte sie, wir sind nur Schatten von dem, was wir einmal waren. Ich drehte meinen Kopf, wollte fragen, was sie damit meinte, aber sie schaute weg. Es gibt einen Ort hinter der Welt, einen Ort, wo niemand ist. Vielleicht bin ich schon halb dort und irgendwann springe ich komplett hinein.

Das sind gute Passagen. Sie machen den Text surreal, weil sie etwas Übersinnliches beschreiben, was dann ja wirklich einzutreten scheint.

Sie mochte Gewitter. Da hört man nichts außer Wasser und Wind, hatte sie gesagt, als wir im Schützenhaus saßen und die Blitze unsere Gesichter leichenblass, aber doch so lebendig wirken ließen.

Hört man bei einem Gewitter nicht vor allem Donner?

Ich tauchte unter, mit offenen Augen, ignorierte das Brennen. Durchschwamm die Dunkelheit und das Gefühl des kühlenden Wassers, in dem ich mich auflöste, wurde mit jedem Beinschlag ohnmächtiger. Ich suchte nach ihren Gedanken, nach ihrer flüchtigen Stimme. Du wirst mich finden, selbst wenn ich verschwunden bin. Sie hatte es mir versprochen.

Diese Stelle ist für mich nicht gut platziert und revidiert das Suchen nach ihr weiter oben. Würde ich streichen, auch weil die surrealen Andeutungen hier langsam etwas viel werden.

Ich erzählte nie jemandem, dass wir dort waren. Sie suchten den Fluss ab, das alte Industriegelände, die umliegenden Baggerseen. Nichts. Zwei Wochen später fand ein Fischer ihr Fahrrad unter einer Brücke. Kein Helm, kein Handy, nur das Rad. Sein Rahmen hatte bereits Rost angesetzt.
Ich wurde nie befragt. Niemand wusste, dass wir uns nahe standen.

Doppelte Info

Ihre Eltern konnte man nicht fragen, weil sie längst tot oder über alle Berge waren. Aber die Heimleitung bekam es mit der Polizei zu tun. Heute ist das Gelände eine überwucherte Brache, Unkraut und Dornengestrüpp.

Kicken: Das ist wie die Erwähnung der Narben unschlüssiger Nebel ohne Wert.

Manchmal träume ich von ihr. Dass sie noch da ist, irgendwo in den Rohren, in der Filteranlage. Dass sie bei Gewitter zurückkommt, die unsichtbaren Algen im Haar und mit offenen Augen, mit denen sie mich ansieht wie damals auf dem Dreimeterbrett. Oder dass sie unter Wasser lebt, in der Stille, meine Gedanken sie erreichen, und dass sie so subtil antwortet, dass ich Mühe habe, die Zeichen zu verstehen.

Würde ich kicken. Hier kippt der Text zu sehr ins Bildliche und das funktioniert für mich stimmungstechnisch nicht. Die erste Fantasie macht sie zu einer kitschigen Moorhexe wie auf einem Gustav-Klimt-Bild, die zweite passt überhaupt nicht, weil der Pool bei Licht ja einsehbar ist. Bei dieser Transparenz würde mich sich doch kein Wesen "unter Wasser" vorstellen, das wäre ja eine völlig kuriose Vorstellung, nahe dran an einem Fisch im Aquarium.

Ich denke an sie, wenn ich trinke, am Fluss entlang spaziere und mich wasche.

? – Er geht trinkend an den Fluss, um sich zu waschen? Ist er obdachlos?

Am intensivsten ist es, wenn ich meine Armprothese abnehme und den Stumpf einseife. Dann spüre ich sie, oder das, was von ihr geblieben ist.

Durch die sexuelle Konnotation bekommen diese Sätze etwas unfreiwillig Komisches: Er wichst sich hier buchstäblich den Stumpf und denkt an sie :lol::lol:

Und wenn auch meine körperlichen Narben nie heilen, so zumindest die seelischen.
Mein Vater ist im Gefängnis gestorben, Mutter steckten sie ins Pflegeheim. Manchmal radle ich barfuß und in Badehose durch die umliegenden Wälder und überlege, ob ich sie hätte besuchen sollen. Heute habe ich meine Arbeit verloren, weil das Postamt im Dorf dichtgemacht hat. Ich werde die Chance ergreifen und wegziehen.

Kicken: Hier kommen erneut die Nebelmaschine und der Theaterdonner zum Einsatz.

Zu "und überlege, ob ich sie hätte besuchen sollen": Wen besuchen? Die Eltern?

Am Tag bin ich nie mehr ins Freibad gegangen. Nur nachts ein paar Mal. Setzte mich ans Beckenrandgitter und hielt die Füße ins Wasser. Den Sprungturm haben sie irgendwann wegen eines Unfalls abgerissen.
Ich erinnere mich oft daran, wie sie sagte, wir seien nur noch Schatten unserer selbst. Wenn wir damals Schatten waren – was bin ich dann heute? Wenn es still ist, so wie in jener Nacht, und die Grillen für einen Augenblick innehalten, dann meine ich Jasmin sagen zu hören, ganz nah bei meinem Ohr: Danke, dass du immer noch an mich denkst.

Würde ich auch streichen. Der Satz davor ist – "Wenn wir damals Schatten waren – was bin ich dann heute? " – ist ein idealer Schlusssatz. Danach driftet es nur ins Pathetische ab.

Fazit: Ich sehe, dass der Text viel Potenzial hat, gerade in seiner Atmosphäre – deshalb lohnt sich der genauere Blick.

Freundliche Grüsse

Henry

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @deserted-monkey

Ein gut geschriebener Text, der liest sich leicht runter und einige Passagen fand ich sehr schön zu lesen. Insgesamt ist mir das alles aber dann doch zu sehr geraunt.

Jasmin sagte, sie könne unter Wasser Gedanken hören.
Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin gar nicht richtig hier.
Weißt du, sagte sie, wir sind nur Schatten von dem, was wir einmal waren.
Es gibt einen Ort hinter der Welt, einen Ort, wo niemand ist.
Du wirst mich finden, selbst wenn ich verschwunden bin.
Das ist, wenn man das zusammennimmt, und in Anbetracht der Tatsache, dass ich kaum etwas über Jasmins Hintergrund erfahre - "Heim" und "Narben" ist ja im Grunde genommen auch nur geraunt - eine ganz schöne Ansammlung von Leerformeln. Ja, da ist offenbar Schmerz, da ist die Sehnsucht des Verschwindens, okay. Aber warum, weshalb? Ansonsten unterschreibe ich so ziemlich alles, was @H. Kopper angemerkt hat, zumindest, wenn ich den Text "realistisch" lese. Die Gewichtung stimmt nicht so recht, es ragen Andeutungen aus dem Text, die nirgendwohin führen, die Armprothese wird viel zu spät erwähnt. (Ich habe übrigens zuerst gedacht, der Verlust des Arms sei eine Folge des Zwischenfalls und bin noch mal zurück, weil ich dachte, ich hätte etwas überlesen.)

Bei einer zweiten Lektüre habe ich versucht, den Text bona fide und stärker unter dem Tag "seltsam" zu lesen. Schliesslich ist Jasmins Verschwinden ja unerklärbar, ein übernatürliches Geschehen gewissermassen. Mich hat diesbezüglich auch die Sache mit dem Fahrrad beschäftigt. Wieso findet ein Fischer es unter einer Brücke? Wer hat es dorthin gestellt? Wieso hat es nach zwei Wochen (im Sommer) schon Rost angesetzt, wenn es doch im Trockenen steht? Und da auch der Erzähler Narben hat, beginne ich zu spekulieren: Wie zuverlässig ist der eigentlich? Entspringt Jasmin womöglich seiner Einbildungskraft? Mir ist auch die Hypothese durch den Kopf, dass der Erzähler Jasmin umgebracht haben könnte. Anschliessend habe ich versucht, diese Lesarten am Text festzumachen, bin aber gescheitert, ich finde da keine Stellen, wo ich so richtig einhaken kann, und viele Stellen, die solchen Lesarten entgegenstehen. Das führt letzlich dazu, dass ich den Text als eine Coming-of-Age-Geschichte mit einem etwas willkürlich wirkenden seltsamen Kernelement (Jasmins rätselhaftes Verschwinden) lese oder aber als einen Text, der über eine solch profane Lesart hinausweisen will, ich aber nicht kapiere, wohin.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hoi @deserted-monkey
Ja, feiner Text mit gutem Sound und ich unterschreibe @H. Koppers und @Peeperkorns Überlegungen zu 100%, da sie genau meinem Leseempfinden entsprechen.

Deshalb hier nur eine Kleinigkeit von mir.

Dann sprang sie vom Brett und das Letzte, was ich hörte, war das Klatschen ihres Körpers auf dem Wasser.
Das würde das Brett ganz schön ins Wackeln bringen und damit den Erzähler aus dem Gleichgewicht. Bleibt aber aus.
Deshalb: Dann liess sie sich fallen und das Letzte ...

Ich habe übrigens zuerst gedacht, der Verlust des Arms sei eine Folge des Zwischenfalls und bin noch mal zurück, weil ich dachte, ich hätte etwas überlesen.
Ging mir ganz genau so. Protese unbedingt früher bringen.

Fazit: Im Moment erscheint mir das ganze weder Fisch, noch Vogel zu sein.
Aber ich habe den Text fürs erste wirklich gern gelesen und bin gespannt, ob und in welche Richtung du die Geschichte überarbeitest.

Liebgruss dot

 

Wollen wir Nacktbaden?, fragte sie.

Moin,

DAS darf sie natürlich nicht fragen! Das muss einfach passieren. DA ist doch der erste Einstieg, die auch die Atmo für den Text setzt: sie zieht sich einfach aus und springt ins Wasser, und ihm verschlägt es die Sprache. In den 80ern waren wir da echt schon weiter, auch wenn da aus heutigen moralischen Aspekten sicher ein paar bedenkliche Sachen dabei waren, gerade im Bereich Kino, aber heute wird das alles ja noch viel braver, viel biederer. Hier ist doch auch das Potential die Frauenfigur mal als aktiv darzustellen, die fragt nicht erst, die macht einfach. Setzt ja auch die Beziehung der beiden in ein Verhältnis, oder?

Ich denke an sie, wenn ich trinke, am Fluss entlang spaziere und mich wasche. Am intensivsten ist es, wenn ich meine Armprothese abnehme und den Stumpf einseife. Dann spüre ich sie, oder das, was von ihr geblieben ist.
Also, warum und wie ist das Mit der Prothese passiert? Oder habe ich da etwas überlesen? Ist das bei der Suche nach ihr passiert? Und warum denkt er genau dann an sie, wenn er trinkt, am Fluss entlang spaziert oder sich wäscht? Es wird konkrekt erwähnt, dann sollte man es auch beantworten können. Drei sehr unterschiedliche Dinge, die aber alle das gleiche heraufbeschwören, eine Erinnerung an sie. Das will ich wissen. Warum ist da so?
Ich wurde nie befragt. Niemand wusste, dass wir uns nahe standen.
Wirklich keiner? Warum war das denn ein solches Geheimnis? Durfte das niemand wissen? Wenn nicht, warum nicht?
Mein Vater ist im Gefängnis gestorben, Mutter steckten sie ins Pflegeheim.
Das sind auch so direkt die big guns. Ich finde, es reicht doch, was da passiert ist. Ihre Eltern tot, sie kommt aus dem Kinderheim, seine Eltern auch total verkracht, also da wird jetzt aber das Drama ergötzlich potenziert, das hat der Text gar nicht nötig, das ist so ein Nebenschauplatz, es lenkt auch ab. Das sie nach dem Sprung einfach verschwunden ist, das ist krass genug, oder?
Es gibt einen Ort hinter der Welt, einen Ort, wo niemand ist. Vielleicht bin ich schon halb dort und irgendwann springe ich komplett hinein.
Das ist der Kern. Mir ist das schon eine Spur zu deutlich, sie müssten über solche Themen doch früher schon einmal gesprochen haben, oder nicht? Eine Möglichkeit wäre es, wenn sie ihn mitnimmt, damit er Zeuge wird von diesem Übertritt in die andere Welt, oder so etwas in der Richtung, es steht für sie fest, sie kennt diese Welt, aber er will ihr nicht glauben. Die klingen mir für ihr angenommenes Alter auch ein wenig altklug, die reden wie in einem Lebensratgeber, ein wenig wie Kalendersprüche.
Ich wollte Hilfe holen, doch Erinnerungen fluteten mich. Wie wir im Dämmerlicht auf der Veranda saßen. Wie sie auf ihre Hände starrte und sagte: Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin gar nicht richtig hier. Als ob ich langsam unsichtbar werde. Nicht für alle, nur für diejenigen, die mich nicht mehr sehen wollen. Damals hätte ich am liebsten protestiert, aber heute weiß ich es besser.
Oder ein paar Wochen vor unserem nächtlichen Ausflug: Wir lagen nebeneinander auf der Wiese und blickten in den Himmel. Weißt du, sagte sie, wir sind nur Schatten von dem, was wir einmal waren. Ich drehte meinen Kopf, wollte fragen, was sie damit meinte, aber sie schaute weg. Es gibt einen Ort hinter der Welt, einen Ort, wo niemand ist. Vielleicht bin ich schon halb dort und irgendwann springe ich komplett hinein

Das ist geballt und man liest das und seufzt ein wenig. Auch die gesamte Situation: Er will Hilfe holen, denkt aber eigentlich GENAU an diese Situationen? Warum? Ist das realistisch? Und bei all dem, sie liegen da auf der Wiese rum, reden über das Verhältnis zu seinen Eltern, da hat sie nie einer gesehen? Das klingt doch eher, als hätten die sehr viel Zeit auch in der Öffentlichkeit verbracht, oder nicht? Mir wird nie klar, warum das ein Geheimnis sein sollte. Es muss nicht beleuchtet werden in all seine letzten Winkel, aber wenigstens angedeutet. Vielleicht existiert diese Person, dieses Mädchen ja gar nicht wirklich? Das wäre ein Möglichkeit, das so zu erzählen, dass dies mitschwingt, wie bei Donnie Darko, wo man auch nie genau weiß, was eigentlich genau wahr ist und was nicht.


Also, das plötzliche Verschwinden ist einfach das für mich momentan krasseste Thema. Hier, in meiner Heimatstadt ist während meiner Jugend genau so etwas passiert, zwei Jungs spielen in einer Industriebrache, nur einer kommt zurück. Den anderen hat man nie gefunden, bis heute nicht. Man vermutete aufgrund eines PKWs irgend eine Verbindung zu Rumänien etc, aber da hat sich nie etwas verdichtet. Ich recherchiere auch gerade über die Fort Worth Three, auch so ein Fall. Du hast hier dieses fast schon märchenhafte Element, das finde ich superstark, das würde ich versuchen, deutlicher zu machen, ich weiß nicht, wie genau, aber da würde ich nochmal gucken, da steckt noch unendlich viel Potential drin. Vielleicht stellst du auch die Parameter der fiktiven Welt auf den Kopf, ein bißchen wie bei Stranger Things, wo die Welt auf den ersten Blick wie unsrige wirkt, aber dann doch in entscheidenden Dingen, die sich aber erst ergeben, anders ist.

Ja, da steckt viel drin, ich würde mir den Text feiner gestaltet wünschen, die Charaktere wirklich einführen, ein Feld der Möglichkeiten erschaffen, mehr Interaktion, tiefergehende Interaktion, dann die Zeit danach, was macht das alles genau mit ihm, warum bedeutet ihm das so viel?, da ist so viel Potential, ich würde mich freuen, wenn du den mal aufbläst auf 7 oder 8k, mal wirklich Strecke machen, aber ist ja dein Text, ich würde ihn nur gerne so lesen.

Gruss, Jimmy

 

Guten Abend @deserted-monkey !

Eine mysteriöse Geschichte mit dichter Atmosphäre, genau mein Geschmack; ich ließ mich gern fesseln. Der Zug stimmt, die Sprache, passt alles. Die Behinderung des Protagonisten wird zu spät erwähnt, das ändert ja schon einiges an der Lesart des Vorangegangenen.

Kommen wir zu dem, was ich dir raten würde.
Ich meine, im zweiten Teil der Story, demnach nach dem Verschwinden, sind es zu viele 'nachgekartete', konkrete Interpretationsangebote. Die helfen dem Klang der Geschichte nicht, sondern stören ihn. Sie sind da einfach auch 'zu spät'.
Ich zitiere Passagen und empfehle da deutliche Striche; es erscheint mir stärker, das Mysterium nicht so sehr zu 'belästigen'.

Oder ein paar Wochen vor unserem nächtlichen Ausflug: Wir lagen nebeneinander auf der Wiese und blickten in den Himmel. Weißt du, sagte sie, wir sind nur Schatten von dem, was wir einmal waren. Ich drehte meinen Kopf, wollte fragen, was sie damit meinte, aber sie schaute weg. Es gibt einen Ort hinter der Welt, einen Ort, wo niemand ist. Vielleicht bin ich schon halb dort und irgendwann springe ich komplett hinein.
Einmal sind wir über den Dachboden ins Schützenhaus eingebrochen. Wir tranken eine Flasche Wein und schauten dem Gewitter zu. Nachdem wir uns geküsst hatten, ließ ich meine Zunge durch den Mund gleiten, schmeckte sie. Trotzdem kam ich mir ungelenk vor. Bei jedem Donnerschlag stirbt irgendwo ein Mensch, sagte sie. Die Blitze ließen ihr Gesicht leichenblass, aber doch so lebendig wirken. Am liebsten wäre ich für immer in diesem Moment geblieben. Bis sie mir die Frage stellte, die mich bis heute nicht mehr loslassen sollte: Willst du deine Zigarette auf meinem Bauch ausdrücken?
Nein, bitte nicht diese 'Erklärungs'Sachen@Peeperkorn - Strich.
(Das 'wäre ich für immer in diesem Moment geblieben' liest sich etwas gespreizt).

Heute ist das Gelände eine überwucherte Brache, Unkraut und Dornengestrüpp.
Manchmal träume ich von ihr. Dass sie noch da ist, irgendwo in den Rohren, in der Filteranlage. Dass sie bei Gewitter zurückkommt, mit offenen Augen, mit denen sie mich ansieht wie damals auf dem Dreimeterbrett. Oder dass sie unter Wasser lebt, in der Stille, meine Gedanken sie erreichen, und dass sie so subtil antwortet, dass ich Mühe habe, die Zeichen zu verstehen.
Ich denke an sie, wenn ich trinke, oder am Fluss entlang spaziere, ich denke an sie, wenn ich mich wasche. Am intensivsten ist es, wenn ich meine Armprothese abnehme und über den Stumpf streiche. Dann spüre ich das, was von ihrer Berührung geblieben ist. Und wenn auch meine körperlichen Narben nie heilen, so zumindest die seelischen.
Mein Vater ist im Gefängnis gestorben, Mutter steckten sie ins Pflegeheim.
Manchmal radle ich barfuß und in Badehose durch die umliegenden Wälder und überlege, ob ich sie hätte besuchen sollen. Heute habe ich meine Arbeit verloren, weil das Postamt im Dorf dichtgemacht hat. Ich werde die Chance ergreifen und wegziehen.
Am Tag bin ich nie mehr ins Freibad gegangen. Nur nachts ein paar Mal. Setzte mich ans Beckenrandgitter und hielt die Füße ins Wasser. Den Sprungturm haben sie irgendwann wegen eines Unfalls abgerissen. Ich erinnere mich oft daran, wie sie sagte, wir seien nur noch Schatten unserer selbst. Wenn wir damals Schatten waren – was bin ich dann heute?

@Peeperkorn hat diese Stellen auch schon gelistet, und ich bin der Meinung, dass dies schwächt, ich zitiere die Liste hier noch mal:

Jasmin sagte, sie könne unter Wasser Gedanken hören.
Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin gar nicht richtig hier.
Weißt du, sagte sie, wir sind nur Schatten von dem, was wir einmal waren.
Es gibt einen Ort hinter der Welt, einen Ort, wo niemand ist.
Du wirst mich finden, selbst wenn ich verschwunden bin.
Das ist, wenn man das zusammennimmt, und in Anbetracht der Tatsache, dass ich kaum etwas über Jasmins Hintergrund erfahre - "Heim" und "Narben" ist ja im Grunde genommen auch nur geraunt - eine ganz schöne Ansammlung von Leerformeln.
Das ist addiert, zu viel des Guten. Ein oder zwei solcher Aussagen ... genügen, um die Fantasie anzukurbeln.
Bin gespannt, was da noch draus wird!

Gruß
Flic

 

@deserted-monkey


Hallo deserted-monkey,

an dieser Geschichte gefällt mir besonders die sprachliche Gestaltung: poetisch und präzise. Gelungen auch, wie du den Text durch wiederkehrende Bilder vertiefst: - Wasser, Licht/Dunkel, Schatten und Unsichtbarkeit - das hält den Text für mich thematisch zusammen.

Kleine Anregung zum Ausdruck:

Dann ließ sie sich vom Brett fallen und das Letzte, was ich hörte, war das Klatschen ihres Körpers auf dem Wasser

(...) klatschen wirkt hier für mein Gefühl zu hart – Aufschlag oder Eintauchen klänge passender...

Manchmal träume ich von ihr. Dass sie noch da ist, irgendwo in den Rohren, in der Filteranlage.

(...) gute Idee – könnte durch stärkere bildliche Ausarbeitung noch bedrückender wirken. Mein Vorschlag: Hier würde eine zusätzliche Zeile gut passen: "Ich stelle mir vor, wie ihr Haar sich im Strömungsfilter verfangen hat."

Insgesamt eine sehr gut erzählte Geschichte, die berührt ohne kitschig zu wirken.

Herzliche Grüße.

rubbe rsole

 

Hi @deserted-monkey,

ich hoffe, ich hab eines anderen Tages noch mal Zeit für mehr, die Geschichte macht mir schon Spaß, deswegen würde ich gerne was dazu sagen. Jetzt hab ich die Zeit nicht, aber etwas springt mich gerade so an, dass ich keine Geduld habe, das zurückzuhalten.

Nämlich:

Sie stand so dicht vor mir, dass ich mit meiner Zungenspitze über ihre Scham hätte fahren können. Schwerfällig stand ich auf. Das Brett wippte und einen Moment musste ich ums Gleichgewicht kämpfen.
Da du vorher nicht eng an den Bewegungen dran geblieben bist, wirkt dieses Stelle für mich schwer visualisierbar: Sie steht auf dem schmalen Brett vor ihm.
- wo lässt sie ihre Kleidung? Wirklich oben auf dem Brett?

Du siehst, ich zitiere nicht direkt aus dem Text, sondern aus einem Kommentar dazu. Hintergrund ist, dass die Frage nach der Kleidung für mich nur am deutlichsten zeigt, dass ich die Szene insgesamt nicht schlüssig vor mir entwerfen kann, und die Gründe dafür sind mir gerade durch @H. Kopper s Kommentar erst richtig klar geworden.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Hallo @Nicolaijewitsch

Danke für deinen kurzen und knackigen Kommentar. Ja, vielleicht habe ich tatsächlich etwas zu tief in die Melancholie-Mottenkiste gegriffen, das kann gut sein! Dass Jasmins Verschwinden "vorprogrammiert" ist, wie ja auch @Frieda Kreuz schreibt, hat mich ehrlich gesagt etwas verblüfft, ein erster Kommentator (ausserhalb des Forums) hat das Verschwinden als überraschend bezeichnet ... Aber so sind die Lesarten/Leseerfahrungen eben verschieden. Anyway, meinen herzlichen Dank fürs Lesen!

Hallo @Frieda Kreuz

Auch Dir besten Dank fürs Lesen und deinen Kommentar. Schön, dass Dir die Story mehr zusagt als meine anderen, das hat mich sehr gefreut. Nun ja, kompliziert, ich weiss nicht, ich würde schon gerne komplexere Stories schreiben, aber bisher gelingt mir das leider (noch) nicht ... Freut mich, wenn die Geschichte deine eigenen Erinnerungen und Erlebnisse "heraufbeschwören" konnte. Das ist super.

Hallo @H. Kopper @Peeperkorn @dotslash @jimmysalaryman @FlicFlac

Und vielen Dank, dass ihr euch so intensiv mit meinem Text befasst habt! Ich habe die Kommentare gesichtet und auch schon das ein oder andere am Text gemacht, gewisse Stellen leicht umgeschrieben und/oder umgestellt. Der "weder-Fisch-noch-Vogel"-Vergleich leuchtet mir ein, das trifft den Nagel wohl auf den Kopf: Ursprünglich als Gehversuch in Flash Fiction geplant, habe ich dann den Text ein wenig ausgebaut, weil er mir etwas gar kurz erschien (er umfasste nur die Eingangsszene). Also ich denke, ich kann keine Flash Fiction schreiben, da habe ich einfach zu wenig Raum zur Verfügung (selbstgesetztes Ziel war unter 1000 Wörtern zu bleiben), das klappt so nicht. Aber eine wirkliche Kurzgeschichte ist jetzt eben auch nicht daraus geworden ... Noch nicht!

Ich merke gerade auch, dass ich diesen Text ernster nehmen sollte, sehe das an den Rückmeldungen, es wird mir wirklich erst jetzt bewusst. Ich habe mir zu wenig Zeit genommen. Daher kommt auch das substanzlose Geraune: Anstatt richtig Fleisch an die Knochen zu hängen bin ich einfach viel zu locker drüber gewischt. Das ist Kacke und ich sehe, dass der Grossteil der Arbeit noch gemacht werden muss, wenn aus dem Text etwas (oder mehr) werden soll. Viele haben den Stil hervorgehoben, das ist natürlich schön, aber er ist vielleicht eben auch das: Eine Art sprachlicher Blender und wenn man nach Substanz sucht, trifft man auf Widersprüche (oder findet Kalendersprüche). Ich gelobe Besserung. Der Text wird von mir laufend bearbeitet (und hoffentlich erweitert, ich denke, das entspricht eher der Richtung, in die ich gehen möchte). Danke für die anspornenden Worte! Ich melde mich die Tage ausführlicher.

Hallo @rubber sole

Danke auch Dir für deinen Kommentar. Es freut mich sehr, dass Du die Sprache als poetisch und präzise empfindest. Auch das die Geschichte Dich berührt hat ohne in den Kitsch abzudriften, habe ich natürlich gerne gelesen. Aber ja, ich geh mal in mich, da geht vielleicht noch mehr :-) Kurz zu deinen Anregungen: Das Klatschen ist schon bewusst so gewählt, aber ich gebe Dir recht, das klingt so für sich genommen zu hart, ich muss da noch bisschen beifüttern. Deiner zweiten Anmerkung bzw. der Richtung, die Du vorschlägst, kann ich durchaus etwas abgewinnen, aber ich glaube, der Text bewegt sich jetzt schon an der Grenze "des Erträglichen", ich muss aufpassen, nicht zu schwülstig (oder groschenromansoundig) zu werden. Danke fürs Lesen und deinen Kommentar!

Hallo @erdbeerschorsch

Und danke für deinen Kurzbesuch! Natürlich würde ich mich freuen, Dich an einem anderen Tag wieder zu lesen, das wäre genial :-) Aber wie ich weiter oben geschrieben habe, der Text wird sich bestimmt noch verändern! Danke auch, dass Du mir eine Stelle genannt hast, wo Du Mühe hattest, Dir die Szene vorzustellen. Es ist wohl zu verknappt. Ich arbeite daran.

Beste Grüsse,
d-m

 

Ich finde die Geschichte sehr gelungen.

Was mich sehr überrascht hat, war, dass sie so unvorhersehbar ist. Zu Beginn dachte ich, dass es nur eine kleine Liebesgeschichte wird, doch dann wurde es etwas düsterer mit den Erinnerungen an vorherige Tage und der der Zigaretten-Frage. Das Verschwinden hat mich dann komplett umgehauen.

Ich finde ich besonders gelungen, da es viel Platz für Interpretation lässt. Hat die Geschichte womöglich eine fantastische Komponente und das Mädchen ist der Welt tatsächlich in eine andere entflohen? Ist sie einfach nur verunglückt und verschwunden? Oder bildet sich der Protagonist das letzte Treffen einfach nur ein, weil er mit dem Verschwinden/Selbstmord seiner Freundin nicht klarkommt? Ich finde die Geschichte punktet genau damit, dass sie diese Fragen aufwirft und doch offen lässt.

Der letzte Abschnitt hat mich allerdings ein bisschen rausgerissen. Zwar ist das Ende mit dem Schatten seiner Selbst sehr poetisch, allerdings finde ich, dass dies vielleicht in einer separaten Geschichte besser aufgehoben wäre. Wo es zu Beginn der Handlung um die Beziehung der Beiden, Traumata und Fragen nach eine Ausweg von dem Ganzen geht, widmet sich das Ende einer komplett anderen Thematik, des Älter werdens und dem Verfall des eigenen Lebens.

Das ist natürlich sehr subjektiv, weshalb ich den Text auch unabhängig von dieser Kritik sehr gut finde.

Er regt auf jeden Fall zum Nachdenken an. :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @deserted-monkey!

Ehrlich von dir. Ich mag es, wenn eine Story mysteriös ist, man sich die Hintergrundgeschichte als Leser selbst puzzeln muss. Aaaber ...

Ich merke gerade auch, dass ich diesen Text ernster nehmen sollte, sehe das an den Rückmeldungen, es wird mir wirklich erst jetzt bewusst. Ich habe mir zu wenig Zeit genommen. Daher kommt auch das substanzlose Geraune: Anstatt richtig Fleisch an die Knochen zu hängen bin ich einfach viel zu locker drüber gewischttor
... ich gehe davon aus, dass der Autor, auch wenn seine Lesart nicht die Einzige sein mag, einen geeigneten Hintergrund konstruiert hat, kurz: dass du eine Vorstellung davon hast, wie/warum/wohin dieses Mädchen verschwunden ist. Ergo eine Lösung anzubieten hättest. Andernfalls wäre das sehr beliebig und – da bin auch ich ehrlich – Zeitverschwendung für mich, mich damit zu befassen. Obwohl das objektiv ja weiterhin interpretierbar ist.

Das ist so wie bei dieser Mystery-Serie – 'LOST'. Die Autoren machten ein Rätsel nach dem anderen auf, verloren aber (was sie später einräumten) den Überblick und schafften es nicht mehr, Auflösungen ihrer eigenen Rätsel zu schreiben, sodass am Ende das meiste durchhing bis ins Nirgendwo und in einem Ultra-Quark endete.

Die Frage ist also: Was hast du dir selbst dabei gedacht?

Gruß
Flic

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @H. Kopper

Jetzt aber! Danke Dir sehr für deinen ausführlichen Kommentar. Der hat mir an den richtigen Stellen die passenden Impulse gegeben und ich habe jetzt einiges bzw. eigentlich fast alles, was Du angemerkt hast, im Text verändert. Ich gehe mal durch:

deine Geschichte habe ich ganz gerne gelesen.
Ich sehe, dass der Text viel Potenzial hat, gerade in seiner Atmosphäre – deshalb lohnt sich der genauere Blick.
Danke dafür! Das hat mich enorm gefreut, besonders weil Du mit meinen zwei letzten Texten, die Du kommentiert hattest, so gar nichts anfangen konntest.

Mit dem "radeln" setzt du bereits auf ein leichtgängiges Wort, da braucht es nicht noch eine "im Schritt zwickende Badehose". Das ist zu Nahe am Reim, nimmt dem viel schöneren Bild von den einschneidenden Pedalen direkt die Wirkung und macht den ersten Satz direkt auf eine nicht so ästhetische Weise anzüglich.
Haha :D Verstehe, was Du meinst. Die Badehose zwickt jetzt nur noch, nicht mehr 'im Schritt'.

Gut! – Vielleicht aber besser "Betonboden" oder "die Steinplatten".
Ja, kann man so sehen, aber 'Betonboden' oder 'Steinplatten' ist mir irgendwie zu umständlich von den Worten her, ich denke, man versteht das doch gut ohne, welcher Beton sollte sonst gemeint sein? :-)

Grenzwertig bzw. bin hin und her gerissen, ob das gut oder kitschig und leicht schief ist. Denn genau genommen müsste es "Stecknadelkopfsterne" heißen, die generische Form einer Stecknadel hat ja nichts mit einem Stern zu tun – und wenn diese Form vor dem inneren Auge aufpoppt, dann reibt es. Ist aber nur meine Meinung.
Habs leicht verändert, obs besser ist, weiss ich aber ehrlich gesagt gerade nicht. Zum Erlebniskosmos eines Mannes oder Teeniejungens: In der ursprünglichen Version stand was von 'Heute bin ich schon alt', das ist jetzt revidiert, man weiss nicht genau, wie alt der Erzähler in der Reflektion ist, das bleibt nun offen(er), weil ich paar Dinge gekickt habe. Hoffe, es ist jetzt bisschen stimmiger.

Was verschwunden ist, kann nicht weiß und verschwommen aussehen.
Guter Hinweis, die Stelle ist angepasst.

Hat mich rausgehauen. Hier fehlt in meinen Augen Kontext. In was für einem Verhältnis stehen die beiden? Warum brauchen sie Geld (nicht)?
Ich habe es mir so vorgestellt bzw. folgende Überlegung beim Schreiben gemacht: Die beiden rauchen ja auf dem Dreimeterbrett. Der Erzähler wollte Geld von der Mutter schnorren, um sich Zigaretten am Automaten zu ziehen (wahrscheinlich hat er irgendeinen Vorwand vorgeschoben, er ging ja noch zur Schule und würde wohl nicht sagen, dass er die Kohle für Fluppen braucht). Das hat nicht geklappt und endete in einem Streit. Er hat sich dann kurzerhand entschlossen, den Zigarettenautomaten einfach aufzubrechen (ist nicht allzu schwer, ist eine meiner Jugendsünden! :D). Deshalb sagt Jasmin auch: Wir brauchen das Geld eh nicht (weil du den Automaten aufbrechen konntest). Macht das Sinn?

Das wirkt auf mich unentschieden, was der Text will: Skizze sein? Oder von zwei plastischen Figuren erzählen? Ich denke, du musst dich entscheiden: Radikale Verknappung oder nicht nur A, sondern auch B sagen und Backstory liefern.
Ja, was ich eingangs in meinem ersten Posting geschrieben hatte. Ich sehe das schon auch, der Text wirkt -- auch jetzt noch -- ein wenig unentschlossen: Was will er sein? Ich bin mir ehrlich gesagt noch unschlüssig, aber mit Zeit kommt Rat, und dein Beitrag war da schon mal sehr hilfreich.

Ein wenig fehlt mir die Begleitung durch die Bewegung der Figuren. Du bist erst minutiös dran an ihren Bewegungen, dann sitzen sie plötzlich auf dem Brett, ohne hochgeklettert zu sein. Kann man machen, aber ich sehe keinen Grund dafür, hier nicht weiter nah dran zu bleiben und den Bewegungen und Reaktionen ganz genau zu folgen. Das ist ja schließlich der Kern des Textes, hier muss nicht ökonomisch gedacht werden. Vielmehr wird hier die Wirkung beim Leser erzielt, denke ich.
Wieder: Meinem Empfinden nach sitzen sie hier noch, sie müsste also erst einmal aufstehen. Das wiederum ist auf einem dunklen Dreimeterbrett doch ein kleines Kunststück, dem man sich als Erzähler widmen müsste.
Auch gute Inputs. Hab bisschen beigefüttert.

Auf jeden Fall streichen – Grillen dürfen niemals zirpen, sonst setzt im Kopf des Leser direkt Jürgen Drews an: "Die Grillen zirpen und es duftet nach Heu ..." :-)
Ich kenne den Spruch oder das Lied nicht, aber die Grillen sind gekickt.

Woher kommen die Narben?
Sollte jetzt schlüssiger sein.

Da du vorher nicht eng an den Bewegungen dran geblieben bist, wirkt dieses Stelle für mich schwer visualisierbar
Kurz: In der Story stimmt für mich die Infokaskade nicht ganz. Du hättest seine Behinderung irgendwie schon andeuten müssen, denke ich.
Auch da habe ich gewisse Dinge verändert, es ist jetzt hoffentlich besser. Die Prothese wird früher eingeführt. Immer noch zu spät?

In meiner Lesart kommt er ihr hier nicht näher als zuvor, sodass diese Info hier nicht aus der Situation geboren wird.
Habe ich auch verändert bzw. die Stelle mit dem Schampoo dort eingefügt, wo ihre kurzen Haare zur Sprache kommen.

Für mich etwas schief, weil sie ihm ja zwei Sätze vorher die Hände auf die Schultern legt, sie ihn also gerade nicht metaphorisch festhält. Kannst du abfangen, indem du drauf eingehst: "Sie lächelte müde und legte mir die Hände auf die Schultern. Doch es war ihr Blick, der mich festhielt."
Sehr gut, habe ich praktisch 1:1 so übernommen.

Groschenromansound.
Dass er unsicher ist, haben wir längst verstanden ;-)
Seltsamer Satz, da sie ja nicht unter Wasser ist. Warum also "bleiben"?
Psychologisch nicht ganz stimmig für mich.
Wieder etwas unsauber: Die Wasseroberfläche muss ja zunächst aufgewirbelt werden, bevor sie sich wieder glättet und dann so bleibt.
Würde ich ersetzen – klingt zu kindlich für die Schlüsselstelle.
Spontan würde ich sagen: Wenn einem die Luft ausgeht, hat man keine Schmerzen in der Lunge. Das Gefühl ist anders. Vielleicht mit einem Vergleich arbeiten?
Alles verändert/angepasst.

Hier ist er, wenn man sich die Absätze des Textes ansieht, noch vor Ort in der Situation. Da finde ich sein Verhalten unplausibel. Wie gesagt: Ohne Lichtquelle muss er sie auf dem Grund des Pools vermuten. Da ist Panik und Hilfeholen angesagt. Stattdessen beginnt er in Erinnerungen zu schwelgen?
Das ist ein guter Punkt. Ich habe die Lösung noch nicht gefunden, arbeite aber daran.

Hört man bei einem Gewitter nicht vor allem Donner?
Ja. Die Stelle ist gekickt und andernorts verändert eingefügt.

Diese Stelle ist für mich nicht gut platziert und revidiert das Suchen nach ihr weiter oben. Würde ich streichen, auch weil die surrealen Andeutungen hier langsam etwas viel werden.
Habe die Stelle aufgelöst und weiter oben bei der Suche nach ihr einfliessen lassen.

Doppelte Info
Die eine Info ist jetzt raus.

Kicken: Das ist wie die Erwähnung der Narben unschlüssiger Nebel ohne Wert.
Davon konnte ich mich bis jetzt noch nicht trennen. Mal schauen.

Würde ich kicken. Hier kippt der Text zu sehr ins Bildliche und das funktioniert für mich stimmungstechnisch nicht. Die erste Fantasie macht sie zu einer kitschigen Moorhexe wie auf einem Gustav-Klimt-Bild, die zweite passt überhaupt nicht, weil der Pool bei Licht ja einsehbar ist. Bei dieser Transparenz würde mich sich doch kein Wesen "unter Wasser" vorstellen, das wäre ja eine völlig kuriose Vorstellung, nahe dran an einem Fisch im Aquarium.
:D Ja, die Stelle ist jetzt verkürzt, so dass sie hoffentlich nicht mehr als kitschige Moorhexe erscheint und der zweite Punkt zumindest stark abgeschwächt ist.

? – Er geht trinkend an den Fluss, um sich zu waschen? Ist er obdachlos?
Nein, das ist mir wohl zu verknappt geraten: Das sind drei verschiedene Dinge. Also er soll an sie denken, wenn er trinkt, wenn er spazieren geht am Fluss, wenn er sich wäscht. Wasser ist das verbindende Element. Ich habe das jetzt so in den Text eingefügt.

Durch die sexuelle Konnotation bekommen diese Sätze etwas unfreiwillig Komisches: Er wichst sich hier buchstäblich den Stumpf und denkt an sie :lol::lol:
Ja, natürlich kann man das so lesen! :D :D Ich habe im ersten Block noch eine kleine Szene eingefügt, die dies hoffentlich etwas anschaulicher macht bzw. dass die Stelle hier dann darauf referenziert und es dadurch hoffentlich nicht mehr ganz so Komödiantisch ist.

Kicken: Hier kommen erneut die Nebelmaschine und der Theaterdonner zum Einsatz. Zu "und überlege, ob ich sie hätte besuchen sollen": Wen besuchen? Die Eltern?
Ist beides raus.

Würde ich auch streichen. Der Satz davor ist – "Wenn wir damals Schatten waren – was bin ich dann heute? " – ist ein idealer Schlusssatz.
Ja, danke, habe den letzten Satz rausgeschmissen. Aber ich sehe auch, dass @GreyofDeath da einen Punkt hat bezüglich dem jetzigen letzten Satz. Muss ich mir noch einmal anschauen.

Also, Henry, Du siehst, ich habe Dir praktisch überall beigepflichtet und die entsprechenden Stellen verändert. Ich denke, oder hoffe es zumindest, es hat den Text ordentlich vorangebracht. Deine Inputs waren wirklich super hilfreich! Ich danke Dir für deine Zeit und für deinen Kommentar.

Beste Grüsse,
d-m

 

Moin @FlicFlac

Ich ziehe deinen zweiten Kommentar kurz vor, weil ich den für einen sehr berechtigten Einwand halte:

Andernfalls wäre das sehr beliebig und – da bin auch ich ehrlich – Zeitverschwendung für mich, mich damit zu befassen.
Das ginge mir genauso. Also, ich habe mir schon etwas überlegt, mit 'kurz drübergewischt' meinte ich eher, dass ich mir zu wenig Mühe gegeben habe, meine Intention stärker herauszustellen. Da sind und waren auch ein paar Nebelkerzen drin, ja, z.B. das mit dem Rost am Fahrrad hat nicht wirklich Sinn gemacht. Ich arbeite daran, meine Überlegungen stärker im Text zu verankern.

Beste Grüsse,
d-m

p.s.: Ja, LOST habe ich irgendwann abgebrochen, weil ich die ganzen Ereignisse nicht mehr mitschnitt, die nicht in einen sinnvollen Zusammenhang bringen konnte.

 

Hallo @deserted-monkey

ich steige direkt mal ein:

Ich achtete darauf, mit meinem anderen Arm nicht hängen zu bleiben.
Man fragt sich: Warum anderer Arm? Vorher fährt er schon einhändig - es muss also was mit seinem Arm sein. Das ist wahrscheinlich so beabsichtigt, dass dieses Fragezeichen beim Leser aufploppen soll. Ich finde es aber auch ein wenig ungelenk an dieser Stelle. Vlt. könnte man es anders aufbauen? Einen Verbesserungsvorschlag habe ich allerdings nicht anzubieten.

Ich sah ihre Beine, weiß und verschwommen. Dann tauchte sie wieder auf.
Du denkst an deinen Vater, sagte sie. Dass du ihm ähnlich wirst.
Ich sagte nichts.
Vergiss den Streit mit deiner Mutter. Wir brauchen das Geld eh nicht.
Ich zuckte mit den Schultern.
Stark, wie du den Automaten aufgebrochen hast!
Mir ist das (auch schon davor) alles ein wenig zu getaktet von der Abfolge. Das sind viele kurze Sätze hintereinander. Da werden Infos hingeworfen, aber so ganz ineinander greift das an dieser Stelle für mich noch nicht.

Die Berührung ihrer Fingerspitzen strahlte in meinen Oberkörper aus und einen Moment vergass ich, wo ich war und wer ich war.
Wirklich? Ich finde die Formulierung ein wenig zu drüber. Das ist ja nicht so, dass man das wirklich vergisst. Ich würde es vlt ein wenig anders formulieren. Wenn du aber dabei bleibst, könntest du vlt. die Dopplung entfernen. (...) wo und wer ich war.

mit einer Leichtigkeit, als ob sie schwerelos war.
Auch hier empfinde ich die Formulierung als nicht so ganz getroffen. Sie zieht sich aus. Da würden mir andere Bilder einfallen. Aber es ist vielleicht am Ende auch eine Geschmacksfrage.

Ich suchte nach ihren Gedanken, nach ihrer flüchtigen Stimme. Du wirst mich finden, selbst wenn ich verschwunden bin. Das hatte sie mir versprochen.
Wann und wo? Das ist mir ein wenig zu hingeworfen. Mir fehlt der Kontext, die konkrete Situation. Und wenn ich drüber nachdenken, fehlt mir eigentlich auch die Beziehung der beiden. Woher kennen sie sich? Wie stehen sie eigentlich wirklich zueinander? Auch später im Text wird da vieles angedeutet (und das ist auch spannend und interessant), aber es verfängt bei mir nicht, weil mir da noch etwas fehlt. Ich würde mich hier den anderen Kommentaren, die in diese Richtung gingen, anschließen. Der Text würde sicherlich davon profitieren, dass du ihn ausbaust! Das hast du aber selbst ja auch bereits geschrieben.

Klamm kletterte ich aus dem Wasser.
Klingt komisch: Klamm kletterte. Außerdem ist ja klar, dass er nass ist, wenn er da aus dem Wasser kommt.

Einmal sind wir über den Dachboden ins Schützenhaus eingebrochen. Wir tranken eine Flasche Wein und schauten dem Gewitter zu. Nachdem wir uns geküsst hatten, ließ ich meine Zunge durch den Mund gleiten, schmeckte sie. Trotzdem kam ich mir ungelenk vor. Bei jedem Donnerschlag stirbt irgendwo ein Mensch, sagte sie. Die Blitze ließen ihr Gesicht leichenblass, aber doch so lebendig wirken. Am liebsten wäre ich für immer dort geblieben. Bis sie mir die Frage stellte, die mich bis heute nicht mehr loslassen sollte: Willst du deine Zigarette auf meinem Bauch ausdrücken?
Bitte mach mich unsichtbar, flüsterte sie.
Finde ich eine gute Stelle und gleichzeitig wird hier für mich das sinnbildliche Problem, das ich mit deinem Text habe, deutlich. Du machst hier ganz viele Sachen auf - aber es reicht mir nicht. Da bleibt für mich zu viel im Unklaren und es reicht mir auch noch nicht aus, dass ich die beiden einschätzen kann. Gerade nach diesem Abschnitt dachte ich, dass es wert wäre, hier noch mehr zu erfahren. Nicht ausbuchstabiert und haarklein - dann würde vieles von deinem Text verloren gehen, aber eben so, dass sich ein (auch gerne mysteriöses und diffuses) Bild vor meinen Augen entfaltet.

Zwei Wochen später fand ein Fischer ihr Fahrrad unter einer Brücke.
Aha, spannend! Es war doch so, dass es eigentlich noch beim Schwimmbad stand, oder? Zumindest als er panisch nach ihr gesucht hat. Gute Stelle!

Klingt bisher alles eher kritisch, aber insgesamt gefällt mir dein Text sehr! Ich finde den vom vibe her echt gelungen. Sommernacht, Schwimmbad, ein mysteriöses Verschwinden usw. Das triffst du gut! Ein paar Formulierungen sind mir ein wenig zu drüber oder passen noch nicht. Das mag aber eine Geschmacksfrage sein. Grundsätzlich würde ich (wie andere auch) dafür plädieren, dass du den Text ausbaust. Denn ich glaube, dass da noch Potenzial drinsteckt. Falls du mal eine erweiterte Version hier einstellst, werde ich sie lesen!

Beste Grüße
Habentus

 

Hallo @deserted-monkey,

meine Gedanken zu deinem Text kommen in Bruchstücken, getriggert von den isolierten Hinweisen, die immer wieder, in der Luft schwebend, eingestreut sind. Gut, dass sich insgesamt eine informative Ebene entwickelt, die das Seltsame als Widerpart ergänzt. Interessant, dieser Jugendgeschichte eine seltsame Note zu geben: Das Erwachsenwerden, die Erkenntnisse über die Bedeutung von Beziehungen sind schließlich verschlungen und mysteriös.

Das hier ist stark ausgedrückt:

Aber es waren ihre Augen, die mich festhielten. In diesem Moment fühlte ich, dass sie mich wirklich sah.
Dieses 'Gesehen-Werden' bzw. 'Verschwinden-Wollen' zieht sich durch die ganze Geschichte, hat mir gut gefallen.

Das ist mir zu esoterisch:

Ich suchte nach ihren Gedanken, nach ihrer flüchtigen Stimme.

Und hier gibts doch arg viel Philosophie und Rückgriff auf vergangene Lebenszeit - es handelt sich doch um Jugendliche:
Weißt du, sagte sie, wir sind nur Schatten von dem, was wir einmal waren.
+
Ich achtete darauf, mit dem falschen Arm nicht hängen zu bleiben.
Geschickte Andeutung!

Der Beton war noch warm vom Tag
Hier ist nicht ganz klar welcher (der Betonboden?).

Du denkst an deinen Vater, sagte sie. Dass du ihm ähnlich wirst.

Vergiss den Streit mit deiner Mutter. Wir brauchen das Geld eh nicht.
Der Leser wird hier zwar allein gelassen, er weiß nicht, um was es geht. Seltsamerweise hat es mich nicht gestört, die Relevanz der Geschichte liegt im Handeln und Empfinden der Protagonisten, da genügen begrenzte Hintergrundinformationen.


Du hast gesagt, Wasser verbrennt dich.
Ein schöner Widerspruch, nehm ich mal als Hinweis auf das 'Sich-Anders-Fühlen', auch auf das unerklärliche Verschwinden.

Bis sie mir die Frage stellte, die mich bis heute nicht mehr loslassen sollte: Willst du deine Zigarette auf meinem Bauch ausdrücken?
Bitte mach mich unsichtbar, flüsterte sie.

Wieder so ein Gegensatz: Eigentlich dient der Schmerz der Selbstwahrnehmung - wäre sie aber unsichtbar, bräuchte sie ihn nicht.

Du merkst, mich hat der Text angesprochen, die Form und der Inhalt (auch wenn das Ende absehbar ist). Ich mag die erzählerische Dichte, die Stimmung, die der Text vermittelt.

Gerne gelesen,

l G,

Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Peeperkorn @dotslash @jimmysalaryman @FlicFlac @rubber sole @erdbeerschorsch @GreyofDeath @Habentus @Woltochinon

Als erstes möchte ich mich für die lange Wartezeit von mehr als einem Monat entschuldigen und mich natürlich auch für eure inspirierenden und anspornenden Kommentare bedanken! Ich habe kurz nach euren Nachrichten begonnen, die Geschichte zu erweitern, das flowte auch alles super, innerhalb nur zwei, drei Tagen ist die Story um ein vielfaches angewachsen, nur im letzten Viertel biss ich dann irgendwie auf Granit ...

Nun ist es aber soweit: Ich habe die Geschichte komplett überarbeitet und ein gutes Stück erweitert. Ich habe jimmys Kommentar dabei nicht als Massstab für den Umfang genommen, aber er ist damit

ich würde mich freuen, wenn du den mal aufbläst auf 7 oder 8k
ziemlich gut hingekommen: Der Text ist jetzt von 1050 Wörtern auf ca. 9,5k angewachsen.

Der Text sollte nun feiner gearbeitet sein, die Charaktere und ihre Beziehungen vertiefter, weniger Geraune, keine esoterischen Ausflüchte mehr, die Atmosphäre -- und der Text allgemein, trotz der Länge -- hat im besten Fall nichts von seiner Dichte verloren, den ursprünglichen Sound konnte ich hoffentlich beibehalten, die Leerstellen sollten gefüllt, und aus dem Teil, das weder Fisch noch Vogel war, eine Kurzgeschichte geworden sein. Da steckt jetzt also einiges mehr drin, denke ich. Es wäre toll, wenn ich die Balance aus Hoffnung und Resignation, aus Nähe und Distanz, aus Gewalt und sanfter Körperlichkeit einigermassen gut getroffen habe und das die Chronologie nicht zu stark drunter und drüber geht.

Das soll jetzt keine Aufforderung sein, dass ihr diesen ellenlang gewordenen Text durchlest (natürlich freue ich mich, falls es doch jemand tut!), ich wollte euch in erster Linie kurz informieren, dass ihr mir da ordentlich Rückenwind gegeben habt, mich intensiver mit der Geschichte zu beschäftigen! Es war auf jeden Fall eine super Übung!

Selbstverständlich melde ich mich auch schnellstmöglich noch auf die unbeantworteten Kommentare, also bis die Tage!

Beste Grüsse,
d-m

 

Moin, @deserted-monkey!

Ich kenne die Kurzversion nicht, daher kann ich dir nur meinen Leseeindruck zur langen Version schildern.

Erstmal denke ich, dass das eine starke Geschichte ist. Hatte sie zum Lesen ausgedruckt. Die "Länge" hat man kaum gespürt, das Ding liest sich gut runter. Ich frag mich trotzdem, wie die kurze Version klingt.

Ein paar Stellen hab ich gefunden, an denen ich "was auszusetzen hab":

An den Anführungszeichen!
Ausgedruckt ging das klar, aber als ich kurz hier reingeguckt hab, bin ich an manchen Stellen gestolpert. Ist meine persönliche Präferenz also whatever, mach wie du denkst. ;)

Im Text:

Ich wollte ihr in die Augen sehen, doch mied ihren Blick. Speedo stand in Weiß auf dem Badekleid.
Hat mich ein bisschen verwirrt. Vielleicht etwas nachbessern. "...mied ihren Blick. Guckte stattdessen ..." Anschließend dann den Speedo Satz.

Zitronenshampoo.
Würd das Shampoo weglassen. Zitrone reicht doch, weiß er ja nicht, ob sie sich nicht vorher die Birne mit Zitronensaft eingerieben hat.

Mein T-Shirt klebte mir am Rücken. Ich rollte einen Ärmel nach oben
Bei T-Shirt und Ärmel bin ich etwas hängengeblieben. Klar, versteh ich, wenn ich's zwei Mal lese, aber im ersten Gedanken war dann so T-Shirt + langer Ärmel. Vielleicht sowas wie "zog den Stoff über meinen Oberarm." Dann wird das klar ersichtlicher.

In der weichen Reflexion der Oberfläche sah ihr Gesicht noch schöner aus. Wellen tanzten darauf.
In der weichen Reflextion der Oberfläche tanzten Wellen auf/über ihre(m) Gesicht.
Sie sah noch schöner aus würde ich streichen. Weil du sie vorher glaub nie als schön beschreibst. Das ist ja auch klar, dass sie gut aussehen muss, der Prot ist verschossen.

Du hast gesagt, Wasser verbrennt dich.
Versteh ich nicht. Sie war doch vorher schon im Wasser, oder?

Ich hätte in der Schule Mathe und Physik gehabt.
Ist klar, dass er das in der Schule hat. Und wird auch durch die Briefe des Lehrers klar. Würde ich streichen.

Machte mir ein Sandwich mit Toastbrot und Schinken.
Sie machte

Du nutzt an manchen Stellen Wörter, da merkt man der Autor kommt raus. Wie alt ist der Junge? Weiß nicht, ob er das in dem Zusammenhang so sagen würde. Gibt noch ein paar Beispiele, wo ich denke, da merkt man dich.

als versuche sie, es in die Reihe der anderen einzupassen, fände aber nicht den richtigen Platz.
Dieses einzupassen stört mich irgendwie. Ich weiß ja, was du meinst. Ich müsste überlegen, wie man das lösen könnte. Vielleicht fällt's mir noch während des Schreibens ein.

Mein Blick blieb an dem Foto mit dem Planschbecken haften. An Vaters Hand an meinem Bauch.
Satzende. An Vaters Hand. Da stock ich. "Ich sah seiner Hand an meinem Bauch." Vielleicht so.
Der Schinken schmeckte nach Pampe. Ich legte das halbgegessene Sandwich auf den Tisch und stand neben sie.
Während des Lesens war ich drin in der Story, in meinen Gedanken hatte er aber noch gar nicht abgebissen. Da war zwar das Sandwich aber es war noch unberührt.
Das "stand neben sie" sollte wahrscheinlich "stellte mich neben sie" oder "stand neben ihr" sein.

Eine Mädchenstimme?
Würde da einen Punkt machen. Oder "War das 'ne Mädchenstimme?"

Das Licht aus dem Flur ließ das Laken grau, den ganzen Raum eintönig und kalt wirken, wie ein Krankenzimmer, in dem Albträume auf meine Mutter warteten.
Das Licht aus dem Flur ließ das Laken grau wirken. Der ganze Raum war eintönig und kalt wie ein Krankenzimmer.
Würde ich umstellen. Albträume die auf die Mutter warten würde ich rausstreichen. Ich weiß nicht warum, aber so wirkt das für mich stärker.

Ich löschte das Licht. In der Küche nahm ich den Karton, den sie hatte stehenlassen, und schaute mir die ganze Nacht lang Fotos an.
Würde die Stelle streichen. Offensichtlich hat sie ihn nicht mitgenommen. Hast es im Text ja auch nicht geschrieben.

Im Dämmerlicht saßen wir auf der Veranda.
Wir saßen im Dämmerlicht auf der Veranda.
Warum unnötig starten?

Auf meiner Boombox lief Reggae und Ska, ausgesucht von Jasmin.
Hast kurz vorher schon "auf der Veranda". Ah, vielleicht hast du auch deswegen mit "Im Dämmerlicht" gestartet. War das der Gedanke, dass es dann besser klingt dieses zwei Mal "auf"? Okay, got it. Kommt mir jetzt so gerade. :D Andernfalls irgendwie eins killen. ;)

Mein Vater war ein Profi darin, zur falschen Zeit aufzutauchen.
Show us! Denke da könntest ein Beispiel mit reinbringen.

den Tatort
Tatort reicht.

Nach ein paar Zügen reichte sie mir den Joint.
Wir schwiegen und ich reichte ihr den Joint zurück.
reichte, reichte zurück. Würde im zweiten das zurück streichen und bei einem "gab" nutzen.

Meine Prothese war keine Prothese mehr, sondern einen Arm.
Hab in meiner derzeitigen Story eine ähnliche Szene. Da musste ich kurz lachen, weil wir wohl den selben Gedanken hatten. Also ist bei mir weder Prothese noch Arm, aber auch die Vorstellung des Prots, in der sich ein paar Sachen anders abspielen.

Willst du einen Kopfschuss?, fragte sie.
Oben sagt sie "Dope" Also warum nicht auch Shorty oder Shotgun? Ich kenn das gar nicht, Headshot, ich kenn nur die andern zwei Begriffe. Bei Shotgun denk ich an Cobain und weiß, er hat sich das Ding in den Mund gesteckt.

mich hart zusammennehmen
Würd ich streichen.

In mir platzte die Wut, als hätte sie mich mit einer Stecknadel gestochen.
Wurd er mal mit 'ner Stecknadel gestochen? Kriegt man da Wut? Finde das nicht so passend irgendwie. Da fällt dir bestimmt noch was ein.

Vater musste seit Jahren vergessen haben, sie zu schneiden.
Offensichtlich hat er sie vergessen zu schneiden. Warum dann nicht. Vater hatte sie seit Jahren nicht geschnitten?

Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob tatsächlich alle Männer elende Spieler und Trinker waren, die ihre Ehefrauen zu Brei prügelten, wann immer es ihnen passte.
Finde da steht der Prot nicht so hinter seinen Gedanken. Entweder Bier ablehnen oder der Vater bestimmt jetzt, Sohn, ich hol dir 'n Bier.

Blut schmeckte metallisch in meinem Mund.
Das Blut schmeckte in meinem Mund metallisch / Ein metallischer Geschmack in meinem Mund
So "Blut schmeckte metallisch in meinem Mund" funktioniert für mich nicht. Als wüsste er das alles Blut der Welt in seinem Mund metallisch schmeckt. Das ist vielleicht so, ja, aber passt hier nicht.

Ich fühlte mich, als hätte ich von einem Boxer einen Uppercut kassiert.
Woher weiß er wie sich ein Uppercut anfühlt? Zeig das. Vielleicht erinnert er sich, als er auf dem Schulhof mal eine kassiert hat. Oder als dem Vater mal die Hand ausgerutscht ist.

Ich tat so, als hätte ich keine Schmerzen, aber mein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass ich es nicht verstecken konnte.
Wenn er so tut, dann glaubt er dass sein Gesichtsausdruck verraten hat. Macht das Sinn?

"Ich hoffte so tun zu können, als hätte ich keine Schmerzen, aber ..."

Die Flasche hatte zum Glück einen Drehverschluss.
Würde da das "zum Glück" killen. Nutzt du später nochmal. Würde einfach schreiben: "Es war eine Flasche mit Drehverschluss."

als wäre sie bereits teilweise in den Ort hinter der Welt untergetaucht.
bereits, teilweise, das sind so Gegenstücke irgendwie. Würde mich für eins entscheiden.

Hast du schon mal Flaschendrehen gespielt?, fragte sie.
Warum hat der noch nie Flaschendrehen gespielt? Und warum dreht er dann zuerst? Also er kennt das Spiel hat's aber noch nicht gespielt. Ist für mich ein bisschen abstrus formuliert.

Die Kerzen löschten aus.
erloschen?

Obschon es nicht unangenehm war, streifte ich ihre Hand ab.
Da bist du wieder als Autor. Würde da was anderes als "obschon" wählen.

Sie nahm meine Hand mit der halb heruntergebrannten Zigarette.
"halb" kannst du streichen, find ich.


Mein Vater würde ganz verstört aus dem Wettbüro kommen, weil er wieder alles verloren hatte, und er würde mich suchen, die ganze Nacht lang, bis ihn die Polizei unter der Brücke fand, nass und schlotternd, und sie würden ihm erklären, dass sein Sohn fort war, verschwunden. Und das Einzige, was er machen könnte, wäre die Hände auszustrecken, seine Augen rot im Schein ihrer Taschenlampen, um zu sagen: Verhaften Sie mich. Ich bin ein schlechter Vater, ein Spieler und ein Trinker.
Sehr stark! Meine Lieblingsstelle. Ich erwähne jetzt nicht alle Stellen, die ich gut finde, sind viele dabei, würd dir lieber Feedback zu den Stolpersteinen geben, dass das Ding noch flüssiger wird. Aber das ist für mich die stärkste Stelle. Weiß nicht warum.

Die Nacht war mondlos.
Den Satz hast du zwei Mal drin. Komplett identisch. Vielleicht eine Anspielung auf ihre erste und letzte Begegnung, aber da müsste für mich noch etwas umgestellt werden.

Mein Vater hielt inne, als hätte ihn jemand zur Vernunft geschlagen.
Ist mit dem folgenden Satz nicht so gut gepaart, da fragt er ja gleich "Wer zum Teufel ist die Göre?" Offensichtlich hat ihn dann ja niemand zur Vernunft gebracht.

Aber Jasmins Lächeln bedeutete mir, einfach stehenzubleiben.
deutete?


Fünfzig Piepen und ich blas dir einen, sagte Jasmin.
Ihr Lächeln war verschwunden. Vater packte mich am Arm.
Halt dich von meinem Sohn fern, blöde Hure!, keuchte er. Jasmin fackelte nicht lange. Sie kickte meinem Vater zwischen die Beine. Auf seinem Gesicht ein Ausdruck, als klappe alles in ihm zusammen. Seine selbstverschuldete Wut, sein angetrunkener Stolz, seine beschissene Arroganz. All das geriet ins Wanken und ins Trudeln. Schwer schnaufend ging er in die Knie. Mein Koloss von einem Vater, zu Fall gebracht von einem Mädchen.
Meinst du, ich hab ihm den Ständer gebrochen?, fragte Jasmin.
Ich holte aus und klatschte die flache Hand ins Gesicht meines Vaters. Mir tat der Schlag wahrscheinlich mehr weh als ihm, aber das war mir egal.
Du beschissnes Arschloch, sagte ich zittrig und spuckte aus.
Auf meinen Wangen sammelten sich Tränen.
Das ist für mich noch 'ne Stelle, die ausgebaut werden muss. Irgendwie ist mir Jasmin zu "assi" mit dem Kick und dem Spruch und der Protagonist hat vorher nie Bock irgendwem weh zu tun und haut dann plötzlich auf den Vater drauf? Der Vater würde es wahrscheinlich sogar noch ganz gut finden, wenn sein Sohn ihm mal eine verpasst. "Endlich wirste zum Mann." Sowas in der Art. Das hier geht mir zu schnell.

Schließlich fand Jasmin seinen Rhythmus und die Maschine lief rund.
Den Rhythmus der Maschine. So klingt das im ersten Lesen als wäre Jasmin plötzlich n Typ.

aber die Polizisten waren zum Glück
Hier ist das zweite "zum Glück". Wie gesagt, eins ersetzen, auch wenn da viel Abstand zwischen ist.

Er hatte seinen Peugeot gegen einen Hydranten gesetzt.
Da merk ich wieder dich als Autor.

Es roch nach Plastik und Pappschuber,
Der riecht viel. Ist glaub ich das dritte oder vierte Mal, dass er den Geruch von etwas aufnimmt. Würde da vom Bauchgefühl eher drauf verzichten. Außer es ist irgendwie explizit. Also gegensätzliche Gerüche, die zwei Szenen, zwei Ebenen aufeinandertreffen lassen.

Wollt ihr das mitnehmen?, fragte er.
"Zum Mitnehmen?" Später sagt er ja auch "Ich bringe an den Tisch." Da ist die Figur nicht ganz in der Rolle.

Kebaps
Kebab. Im deutschen wird's mit b geschrieben. Im King Kebap kann's mit p bleiben, weil es ein Eigenname ist und die sich schreiben können wie sie wollen.

Kebaps assen
aßen

Dann muss ich dir was zeigen.
Dann erreichten wir unser Ziel.
Würde eins irgendwie killen.
Zwei Männer in leuchtend orangen Westen koppelten eine Lokomotive an eine Schlange von blauen Wagen, die eine hochentzündliche Flüssigkeit geladen hatten.
Musst du uns irgendwie zeigen, woher klar wird, dass da was Hochentzündliches drin ist.
+
vorher schreibst du was von flüssigem Zucker. Würde ein flüssig wegschaffen.
Wir warteten, bis der eine sich über das Bahnhofsgelände davonmachte
bis sich der eine ...

das sich seinen Weg gen Erde bahnte.
Autor. Passt finde ich nicht so zur Story.

plötzlich unglaublich gefährlich.
Würde hier "gefährlich" durch "dumm" ersetzen.

Im Licht des nächsten Blitzes sah sie unschuldig und erwachsen zugleich aus.
Irgendwo vorher nutzt du das schonmal, wenn ich mich richtig erinnere. Also die Kombination aus Licht und Blitz und ihrem Aussehen.


roch nach Eisen.
Der schwere Geruch
Da ist find ich nicht genug Abstand. Hatte es ja vorher schonmal geschrieben.


Wir gingen weiter, an Containerwagen, Kesselwagen und offenen Schüttgutwagen vorbei.
Da ist wieder so eine Autorenstelle. Klasse Satz, klingt geil, aber kennt der Prot den Unterschied? Er hatte ja auch noch nie Flaschendrehen gespielt.

In der Ferne zuckten die Blitze über den Horizont, das Gewitter war nun außerhalb der Stadt und der Regen fiel nur noch leicht. Neben uns glänzten die rostigen Wannen der Schüttgutwagen nass im Flutlicht.
Würde ich komplett rausnehmen. Hast 4 mal im Text "in der Ferne" und oft Blitze/Gewitter. Finde den Abschnitt stärker, wenn sie direkt antwortet.

Ich blickte nach oben, in dem Augenblick, als sie im Bauch des Güterwagens verschwand.
blickte und Augenblick. Unschön.

Ihr Gesicht sah schon wieder ganz ordentlich aus, hatte noch ein paar blaue Flecken.
Zeig uns die blauen Flecken. Ich will das fühlen.

Sie hatte ihre letzten Ersparnisse für die Prothese ausgegeben.
Bin da nicht so kundig. Kann sein, dass man die selbst zahlen muss, aber nach einem Unfall, gibt's da keine Krankenversicherung, die das zahlt?

Mein Vater hat sich fast totgesoffen und muss für mindestens fünf Monate in eine Klinik. Das hingegen ist mir scheißegal.
Da könntest du nochmal für mein Gefühl nachhaken. Die Beziehung zum Vater kommt mir noch etwas zu eindimensional. Da ist noch was versteckt. Ein Feuer. Vielleicht aber auch für 'ne ganz andere Story?

Ansonsten: Gern gelesen. Stark, flüssig. Nimm dir was du brauchst. Alles lieb gemeint und Gemecker auf höherem Niveau.

Jahny

 

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