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Im Schatten des Sprungturms
Barfuß radelten wir aus dem Dorf. Ich fuhr einhändig, die Pedale schnitten in meine Sohlen und die Badehose zwickte. Kurz nach Mitternacht erreichten wir unser Ziel, ließen die Räder stehen und kletterten über den Zaun. Ich achtete darauf, mit dem falschen Arm nicht hängen zu bleiben. Die Steinplatten waren noch warm vom Tag. Jasmin sagte, sie könne unter Wasser Gedanken hören.
Ich lachte.
Es roch nach Chlor und irgendetwas Modrigem. Unterwasserlampen warfen grünliches Licht durchs Becken. Das kommt von unsichtbaren Algen, behauptete Jasmin und sprang kopfüber ins Wasser. Ich sah ihre Beine, weiß und verschwommen. Dann tauchte sie wieder auf.
Du denkst an mich, sagte sie und bemerkte meinen Blick. Oder an deinen Vater?
Du hast gesagt, Wasser verbrennt dich.
Nachts ist es erträglicher.
Jasmin verschränkte die Arme auf dem Beckenrand.
Vergiss den Streit mit deiner Mutter. Wir brauchen das Geld eh nicht.
Ich zuckte mit den Schultern und schaute in den Nachthimmel.
Ja, sagte ich.
Die Nacht war mondlos.
Stark, wie du den Automaten aufgebrochen hast!
Ich wollte ihr in die Augen sehen, doch mied ihren Blick. Guckte stattdessen auf das weiße Speedo-Logo auf ihrem Badekleid.
Es war scheiße! Mein Vater hätte sowas gemacht!
Tut mir leid.
Jasmin kam aus dem Wasser. Es sah ganz leicht aus. Ich dachte daran, wie sehr mein Arm mich dabei behindern würde. Ihre Hand legte sich in meine und vertrieb den Gedanken. Wir blickten hoch zum Sprungturm.
Da oben sind wir der Nacht näher, sagte sie. Wenn du nach unten fällst, bist du schwerelos.
Sie führte mich in den Schatten des Sprungturms und wir stiegen die Leiter hinauf. Schwiegen eine Weile und rauchten auf dem Dreimeterbrett. Saßen uns gegenüber und ließen die Beine baumeln. Ihr kurzes Haar glänzte und roch nach Zitrone. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken. Ich rollte einen Ärmel nach oben, meine Finger glitten über den Verschluss am Schaft.
Hast du Schmerzen?
Nein, es juckt nur ein wenig. Die Hitze.
Soll ich dich massieren?, fragte sie und rückte so nahe, dass ich ihren Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Ohne das ich ihr die Griffe zeigen musste, entfernte sie die Armprothese. Legte sie zwischen uns aufs Brett. Die Berührung ihrer Fingerspitzen strahlte in meine Schulter aus, kribbelte bis in den Hals. Einen Moment vergaß ich, wo ich war. Dann stoppte sie, setzte den Schaft sanft zurück auf meinen Stumpf.
Sie stand auf, blickte nach unten. In der weichen Reflexion der Oberfläche tanzten Wellen auf ihrem Gesicht.
Lass uns Nacktbaden, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
Komm schon!, ermunterte sie mich und streifte die Träger ihres Badekleids nach unten. Im diffusen Beckenlicht konnte ich ihren Körper sehen, die Brandnarben am Bauch.
Hilf mir bitte, sagte sie. An den Trägern zog ich das Kleid über ihre Hüften. Unabsichtlich berührte ich sie mit meinen echten Fingern am Oberschenkel. Dann fiel es zwischen ihre Füße. Sie stand so dicht vor mir, dass ich mit meiner Zungenspitze über ihre Scham hätte fahren können. Schwerfällig stand ich auf. Das Brett wippte und einen Moment musste ich ums Gleichgewicht kämpfen.
Zieh dich aus! Ich schau auch weg, wenn du willst.
Ich tat nichts.
Sie lächelte müde und legte mir die Hände auf die Schultern. Aber es waren ihre Augen, die mich festhielten. In diesem Moment fühlte ich, dass sie mich wirklich sah.
Du musst dich nicht schämen, sagte sie.
Die Nacht drückte. Ich überlegte, ob ich sie küssen sollte.
Kommst du morgen nach der Schule zu mir?, fragte ich stattdessen.
Vielleicht, sagte sie. Kommt drauf an. Wenn mich mein Bruder lässt.
Ich wollte etwas erwidern, aber sie kam mir zuvor: Lass uns untertauchen. Nur wir. Deine und meine Gedanken. Ich will einfach stehenbleiben.
Ich nickte. Widerstandslos ließ ich sie gewähren, als sie mir das T-Shirt über den Kopf und die Badehose auszog.
Kein Grund, nervös zu sein, sagte sie leise. Ich spürte ihre warme Hand und schloss die Augen. Dann ließ sie sich vom Brett fallen und das Letzte, was ich hörte, war das Klatschen ihres Körpers auf dem Wasser.
Der Strom fiel aus. Kein Licht. Keine Pumpen. Die Wasseroberfläche war glatt und schwarz. Ich rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Wie betäubt nahm ich meine Hose, das T-Shirt und ihr Badekleid, ließ alles neben dem Sprungturm in die Schatten fallen. Dann setzte ich einen Fuß vor den andern. Zuvor war ich erst einmal auf dem Dreimeterbrett gewesen. Wollte mir selbst beweisen, dass man es auch mit einem falschen Arm schaffen konnte.
Natürlich hatte ich versagt.
Kopf voran sprang ich ins Becken. Spürte den harten Schlag der Wasseroberfläche auf meiner Schädeldecke, weil ich die Arme zu wenig durchstreckte. Stecknadelsterne flimmerten in der Dunkelheit.
Ich tastete. Tauchte. Schwamm bis zum Grund. Ein stilles Knistern in den Ohren. Herzklopfen. Bis der Druck in meinen Lungen mich zum Auftauchen zwang. Das Gefühl, mich im kühlenden Wasser aufzulösen, wurde mit jedem Beinschlag ohnmächtiger.
Du wirst mich finden, selbst wenn ich verschwunden bin. Das hatte sie mir versprochen. In dem Moment kehrte der Strom zurück. Licht flackerte durch das Becken. Ich verfolgte die Linien der Schwimmbahnen. Sie war nicht mehr da.
Ich kletterte aus dem Wasser. Zog mich panisch am Zaun hoch. Ihr Fahrrad lehnte noch neben meinem. Mir fiel auf, dass ich meine Badehose vergessen hatte. Meine Prothese verfing sich in den Maschen und der Verschluss schnappte auf. Mit einem erstickten Schrei stürzte ich, mein Hinterkopf machte Bekanntschaft mit dem Beton.
Erinnerungen fluteten mich.
Wie wir nebeneinander auf einer Decke lagen und durch unsere Sonnenbrillen in den Himmel blickten. Ich hätte Mathe und Physik gehabt. Herr Mathis hatte es aufgegeben, meinen Eltern Briefe zu schicken. Die Sonne stand über dem Wald, ich hörte Vögel rufen. In der Ferne brummte ein Auto. Eine tiefe Ruhe erfüllte mich. Eine Sehnsucht, dass ich glaubte, den Geruch der Welt einatmen und ihn in meinen Lungen aufstauen zu können.
Ich mag es, sagte sie, dem Wandern der Schatten zuzusehen.
Ich auch, pflichtete ich bei.
Wenn ich sie lang genug verfolge, dann finde ich ihn.
Den Ort hinter der Welt?
Ja. Sie lächelte. Noch nie ist jemand mitgekommen. Außer du.
Wo ist er jetzt?
Er ist immer da, man kann ihn nur nicht sehen.
Ich wollte fragen, was sie genau meinte, aber sie schaute weg. Drückte auf ihrem Handy herum. Sie hatte mehrere Nachrichten erhalten. Ich fand es ein bisschen unheimlich, sagte ich, um die Stille zu überbrücken. Jasmins Handy klingelte.
Mein doofer Bruder, sagte sie. Ich muss kurz rangehen.
Eine Stimme schrie aus dem Gerät, ich verstand nur das Wort Motorrad. Sie rollte auf den Bauch, gegen meine Prothese, und hielt das Handy von sich weg. Ihr Kleid war nach oben gerutscht. Ich sah hin, auf ihre Beine. Sie trug weiße Socken und Nikes. Einige Meter entfernt stand das Motorrad auf dem Feldweg.
Ich wollte meinen Arm um sie legen. Wir kauten Kaugummi und ich roch Erdbeere und Zimt. Eine Fliege landete auf meiner Sonnenbrille. Sie nahm das Handy ans Ohr, klemmte es mit der Schulter ein. Stützte sich auf die Ellenbogen und sah mich an.
Ich brings dir heute Abend zurück.
Sie pustete die Fliege weg.
Beruhig dich! Du hast den Schlüssel wieder rumliegen lassen.
Ihr Bruder klang aggressiv.
Und? Ich fahr gar nicht allein. Mein Freund fährt mich.
Eine kurze Pause, dann sagte sie: Ja, ist schön hier. Von deinem Dope hab ich dir auch geklaut.
Die nächsten Worte von Jasmins Bruder verstand ich gut. Fick dich ins Knie!
Rauchen wir eine?, fragte sie an mich gewandt.
In meiner Hemdtasche hatte ich zwei Zigaretten. Ich zündete eine davon an. Jasmins Bruder redete leiser, aber eindringlicher auf sie ein und sie rollte mit den Augen. Nach ein paar Zügen gab ich ab. Steckte ihr das Filterende zwischen die Lippen.
Du kriegst es heil zurück, sagte sie und zog an der Zigarette. Vertrau mir.
Ein weiterer Fluch war die Folge.
Sorry, wird nicht wieder vorkommen.
Sie tippte auf den roten Hörer und schnitt seine Stimme ab. Ließ das Telefon auf die Decke fallen. Legte ihren Kopf neben meinen. Ihr Bruder rief erneut an. Diesmal ließ sie ihn nicht zu Wort kommen.
Ich mach, was ich will, sagte sie. Heute Abend kannst du dir selber Teigwaren kochen. Und weißt du was? Ich werd mit meinem Freund schlafen, während du an dein blödes Motorrad denkst!
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag auf der Decke, küssten und streichelten uns. Mein falscher Arm kam mir nutzlos vor, was unserer Verbundenheit einen Dämpfer versetzte. Als würde das Stück Kunststoff wie eine Barriere zwischen uns stehen. Bei zu viel Sonnenschein bekam ich zudem Phantomschmerzen, aber zum Glück blieben sie aus.
Ein kurzer Sommerregen durchnässte uns bis auf die Unterwäsche. Die Fahrt abends zurück, durch die eindunkelnden Wälder, die moosige Luft auf dem Gesicht, meine Hände an ihren Hüften, und wie der Scheinwerfer die Dunkelheit zerschnitt, das fühlte sich an, als fuhren wir ins Herz der Schwärze, um darin unsere Leben zu finden.
Jasmin hatte mich eine Straße vor unserer abgesetzt, damit meine Eltern das Motorrad nicht hörten. Zum Abschied hatten wir uns noch einmal geküsst. Dabei wäre fast die Maschine umgekippt. Gutgelaunt und trotzdem angespannt betrat ich das Haus, schloss die Tür hinter mir ab.
In der Küche traf ich Mutter, sie saß am Tisch und kramte in einem Karton, legte Fotos vor sich aus. Als ich den Raum betrat, blickte sie auf. Ihr geschwollenes Auge und die Gaze an der Stirn hatten sie in eine alte, graue Frau verwandelt.
Wo warst du so lange?, fragte sie. Es ist schon spät.
Ich weiß. Tut mir leid.
Sie legte ein Foto ab. Es zeigte mich in einem Planschbecken. Vater hielt seine Hand unter meinen Bauch und ließ mich durchs Wasser gleiten.
Ich hab mir Sorgen gemacht, sagte sie. Melde dich bitte, wenn du länger bei deinen Freunden bist, ja?
Ist gut, antwortete ich und machte mir ein Sandwich mit Toastbrot und Schinken. Das Fleisch roch schon leicht ranzig, aber ich hatte einen Riesenhunger. Mutter sortierte weiter Fotos. Kauend schaute ich ihr über die Schulter.
Das nächste zeigte sie. Fast noch ein Mädchen, ihre jetzt ergrauten Haare waren tiefschwarz und sie trug ein Kleid, das ihr zwei Nummern zu groß war. Neben ihr stand mein Vater und hielt ihre Hand. Er trug ein Jackett, das ich noch nie gesehen hatte, es war viel zu edel für ihn. Beide lachten in die Kamera, als wäre eine gemeinsame Zukunft etwas Erstrebenswertes.
Das war an unserem ersten Silvester, sagte sie.
Ich nickte. Ihr seht jung aus.
Das waren wir auch, sagte sie. Ich war neunzehn. Er achtundzwanzig.
Sie schob das Foto hin und her, als versuche sie, es in die Reihe der anderen einzufügen, fände aber nicht den richtigen Platz.
Damals dachte ich, wenn man sich nur fest genug liebt, reicht es aus.
Hat es gereicht?, fragte ich vorsichtig.
Nun, du bist hier, sagte sie und nahm meinen gesunden Arm. Die Prothese berührte sie nicht. In diesem Moment wurde mir das erneut bewusst und ich fragte mich, ob sie sich selbst eine Mitschuld an meinem Unfall gab. Mein Blick blieb an dem Foto mit dem Planschbecken haften, sah Vaters Hand an meinem Bauch. Ich konnte mich nicht erinnern, wie sich seine Berührung angefühlt hatte.
Mutter legte ein drittes Foto auf den Tisch. Es zeigte Vater allein, auf dem Fahrrad, das er mir später schenkte. Es war viel zu klein für ihn, als säße ein Riese auf einem BMX. Vielleicht hätte es lustig ausgesehen, wenn er nicht mein Vater gewesen wäre.
Ich habe oft daran gedacht, einfach wegzugehen, sagte Mutter. Nur du und ich. Mit dem Zug irgendwohin. Ein paar Mal hatte ich schon gepackt.
Sie wandte ihren Kopf und sah mich an.
Aber ich habs nie gemacht.
Wieso nicht?, fragte ich und biss vom Sandwich ab. Der Schinken schmeckte nach Pampe. Ich legte das Sandwich auf den Tisch und stellte mich neben sie. Ich spürte ihr Zittern, ohne sie zu berühren.
Weil ich Angst hatte. Dass er uns findet. Oder dass du ihn vermisst. Dass du mir später Vorwürfe machen würdest, ich hätte dir deinen Vater weggenommen.
Sie hielt ein weiteres Bild hoch. Es war leicht verschwommen und zeigte ein Mädchen in einer Astkrone, mit Dreck an den Knien. Sonnenstrahlen fielen durchs Blätterwerk und ließen ihr Gesicht leuchten. Neben dem Baumstamm lag eine umgekippte Leiter.
Wer ist das?, fragte ich.
Das bin ich, sagte Mutter. Da war ich vielleicht zehn.
Ich sah genauer hin. Auch wenn meine Mutter auf dem Foto mindestens sechs Jahre jünger war als sie, und das Kleid eher nach Bauernhof als nach geheimnisvollem Teenager aussah, erinnerte sie mich an Jasmin.
War neulich jemand hier?, fragte Mutter.
Nein, antwortete ich.
Mir kannst du es sagen.
Da war niemand, sagte ich.
Ich hab was gehört. Eine Mädchenstimme.
Ich schüttelte den Kopf.
Wenn du eine Freundin hast, ist das okay.
Wie geht es deinem Gesicht?, fragte ich.
Ich brauche viel Ruhe und sollte jetzt schlafen gehen. Holst du mir morgen die Tabletten aus der Apotheke?
Ich nickte.
Du gibst mir Energie, sagte sie und lächelte. Aber es sah traurig aus und ich durchschaute sie. Wenn es die Wahrheit gewesen wäre, hätte sie sich gegen Vater gewehrt. Ich schmiss das Sandwich in den Müll.
Mutter stand auf und stützte sich an mir ab. Wir gingen hinüber ins Schlafzimmer. Das Licht aus dem Flur ließ das Laken grau wirken. Der ganze Raum war eintönig und kalt wie ein Krankenzimmer. Nachdem ich sie zugedeckt hatte, sagte sie im Halbdunkel:
Mach dir keine Sorgen wegen dem Geld.
In diesem Moment berührte sie zum ersten Mal meine Prothese, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Die Geste gefiel mir nicht. Sie schaffte weitere Distanz, so als wäre es ihr plötzlich lieber, nicht direkt mit mir in Kontakt zu kommen. Ich löschte das Licht. In der Küche nahm ich den Karton und schaute mir die ganze Nacht lang Fotos an.
Wir saßen im Dämmerlicht auf der Veranda. Auf meiner Boombox lief Reggae und Ska, ausgesucht von Jasmin. Kurz vorher hatte es geregnet und es roch nach frisch gemähtem Gras. Wir schlugen nach Moskitos. Jasmin hatte was zu Rauchen mitgebracht. Hab ich meinem Bruder geklaut, sagte sie. Der soll aufhören, zugedröhnt Motorrad zu fahren.
Ich sah ihr dabei zu, wie sie den Joint drehte. Mir war nicht wirklich wohl dabei. Sonst hatten wir im Wald beim Schützenhaus geraucht, hier konnten wir jederzeit erwischt werden. Mein Vater war ein Profi darin, zur falschen Zeit aufzutauchen. Und auch wenn meine Mutter im Schlafzimmer lag, Tatort schaute und wahrscheinlich nichts bemerkte, die Frau vom Pflegedienst kam um acht.
Stimmt was nicht?, fragte Jasmin.
Nein, alles gut. Ich hab an die Schule nächste Woche gedacht.
Sie zerzauste sich das Haar. Mach dir darüber keine Sorgen, sagte sie.
Nach ein paar Zügen reichte sie mir den Joint. Ihre Augen glänzten und sie ließ den Rauch langsam aus ihren Nasenlöchern fließen. Ihr Piercing gefiel mir. Bevor ich zog, schaute ich auf die Uhr. Ungefähr noch dreißig Minuten.
Meine Lunge füllte sich, ohne das es stach, obwohl Jasmin einen selbstgebastelten Filter verwendete. Wegen ihr hatte ich mit Zigaretten und Joints angefangen und hielt mich mittlerweile für geübt, doch diese Wirkung erwartete ich nicht. Ich fühlte, wie sich die Luft verdichtete, schwer und feucht wurde. Beim Rauchausatmen flimmerten Partikel im Licht der Veranda. Am Horizont wuchsen die Schatten der Bäume zu einer schwarzen Wand. Auf der Boombox lief Dub Pistols.
Was ist das?, fragte ich.
Engelsstaub. Es zeigt dir den Ort hinter der Welt.
Nein, echt jetzt. Was ist das?
Hab eine Tablette zerstampft und ins Gras gemischt.
Wir schwiegen und ich gab ihr den Joint. Unter den Wolken brannte ein Feuer. Spiegelte sich im schwarzen Wasser, das über die Veranda floss. Ich konnte die Schallwellen der Boombox sehen, wie sie atmete und pumpte. Meine Prothese war keine Prothese mehr, sondern einen Arm. Jasmin schlug die Beine übereinander, legte mir eine Hand aufs Knie. Kalter Schweiß stand in meinem Nacken.
Gefällt es dir?
Ja. Ich denke schon, sagte ich.
Willst du einen Kopfschuss?, fragte sie.
Einen Kopfschuss?
Ich zeige es dir.
Sie steckte den Joint verkehrt herum zwischen die Lippen. Nur die Spitze des Filters ragte hervor, die Glut im Mund. Dann zog sie mich zu sich, öffnete ihre Beine, so dass ich mich auf ihnen abstützen konnte. Unsere Lippen berührten sich. Ich zog am Filter. Ihr Pusten überraschte mich, Hitze stach in meine Luftröhre und ich musste husten. Jasmin nahm den Joint aus ihrem Mund und wir lachten. Mir drehte der Kopf, meine Gedanken schlugen Kapriolen.
Jetzt du, sagte sie.
Ich hatte mein Zeitgefühl verloren, aber die Frau vom Pflegedienst kam pünktlich. Sie klingelte an der Tür. Als niemand reagierte, klopfte sie energisch gegen das Holz. Ihre pochenden Knöchel hallten durch das Haus. Jasmin und ich lagen auf der Liege, auf der mein Vater immer seine Feierabendbiere trank. Obwohl ich voller Sorge an meine Mutter dachte, fiel es mir schwer, zu reagieren. Ich stemmte mich auf die Ellenbogen.
Lass sie ums Haus gehen, sagte Jasmin. Bestimmt hat sie die Musik gehört.
Ich nickte.
Es dauerte nicht lange und die Frau kam ums Haus. Sie stand am Zaun und blickte uns streng an. Wieso macht keiner auf?, fragte sie.
Ihre Konturen flimmerten, als wäre sie ein Gespenst aus einem Märchen, das gekommen war, um uns die Ruhe zu verderben. Plötzlich musste ich mich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen.
Tut mir leid, antwortete ich und stand auf. Meine Koordination ließ zu wünschen übrig. Ich wollte im Haus verschwinden, aber sie sagte: Na, junger Mann, jetzt bin ich schon hier. Mach mir bitte das Gartentor auf.
Widerwillig schlurfte ich zu ihr. Ihre Augen verengten sich, als ich ins Licht der Verandalampe trat und den Riegel am Tor löste.
Was habt ihr hier gemacht?, fragte sie. Ihre Schuhe waren nass und die Sohlen hinterliessen klebrige Abdrücke auf den Steinplatten.
Plötzlich war ich unglaublich wütend.
Wieso kommen Sie überhaupt hierher?, fuhr ich sie an. Lassen Sie uns in Ruhe! Es reicht schon, dass Vater sie zusammengeschlagen hat! Wir brauchen Sie nicht!
Nachdem sie verdattert ins Haus gegangen war, klatschte Jasmin. Ich legte mich zurück neben sie in die Liege. Dem alten Gespenst hast du’s gezeigt! Sie lachte. Hoffentlich hat deine Mutter nichts gehört!
Wir warteten, bis sich das alte Gespenst zurück in die Nacht verzogen hatte, wo es ein für alle Mal hingehörte.
Später am Abend fuhr unser Wagen in die Einfahrt. Anhand der Geräusche, welche die Reifen auf dem Kies verursachten, glaubte ich erkennen zu können, wie betrunken Vater war. Heute musste es besonders schlimm sein. Er würgte den Motor ab und knallte die Tür zu. Danach klang es, als würde er das Garagentor mit aller Kraft herunterreißen.
Ich verstecke mich, flüsterte Jasmin.
Ich fühlte mich immer noch high. Die Präsenz meines Vaters belauerte mich von außerhalb des Verandalichts, als sammelten sich Teile von ihm, um sich zu verdichten und ihn erscheinen zu lassen. Jasmin kletterte über den Gartenzaun und verschwand hinter der Hecke. Vater hatte sie seit Jahren nicht geschnitten. Hektisch suchte ich nach ihr, nach einem Fetzen ihres blauen Kleids, aber in dem Dickicht war Jasmin unmöglich zu sehen.
Ich hörte ihn im Haus. Seine Stiefel polterten auf den Dielen. Sah er nach Mutter? Ich konnte nicht einschätzen, durch welche Räume er ging, seine Schritte schienen aus allen Richtungen zu kommen. Dann öffnete er die Verandatür. Ihr Quietschen ließ mich hochfahren.
Hallo, sagte er. Bleib ruhig sitzen.
Die Sanftheit in seiner Stimme überraschte mich. Er lächelte sogar.
Hi, sagte ich.
Ich wollte mich nicht setzen.
Vater hatte ein Bier in der Hand. Er schaute es an, dann mich.
Möchtest du auch eins?
Widerwillen und Überraschung spiegelten sich in meinem Nicken. Ja, sagte ich.
Er stellte seine Flasche auf das Tischchen, verschwand wieder im Haus und kam mit einem zweiten Bier zurück. Mit einem Feuerzeug öffnete er beide.
Wie war dein Tag?, fragte er.
Ich nahm eines der Biere, das Etikett war feucht vom Kondenswasser.
Ganz gut.
Wir stießen an. Dabei blickte er mir in die Augen und ich glaubte, er würde mich bis aufs Innerste durchleuchten. Sein Lächeln wurde breiter.
Hast du was geraucht?
Ich schwieg, wusste nicht, was ich sagen sollte. Stattdessen nippte ich vorsichtig an meiner Bierflasche. Er schlug mir mit der Hand auf die Schulter.
Bin stolz auf dich, sagte er.
Ich nahm einen zweiten Schluck.
Dein erster Joint?, fragte er.
Ich denke schon.
Wirst langsam zum Mann. Bestimmt denkst du auch schon über dein erstes Mal nach.
Manchmal, gab ich zu.
Aber du solltest keine Nutten ficken, ermahnte er mich. Nicht beim ersten Mal. Das verdirbt den Charakter.
Ich nickte.
Ich hab dir was mitgebracht.
Er fummelte in der Jackentasche und legte etwas auf den Tisch. Es war eine gefaltete Hunderternote. Ich zögerte, sie an mich zu nehmen. Ein kleines Geschenk. Kauf dir was Schönes.
Ich dachte, dein schmutziges Geld will ich nicht, und stellte mir vor, seine Schuld klebe daran wie Pech. Mir wurde flau im Magen.
Danke, sagte ich und trank einen Schluck, um den üblen Geschmack loszuwerden.
Hast du noch was von dem Dope?, fragte er. Ich wäre grade in der Stimmung für sowas.
Nein.
Kein Problem, sagte er. Ein Bier tuts auch.
Ich blickte zur Hecke. War Jasmin noch da? In der Dunkelheit glaubte ich ihre Augen zu sehen. Als sie den Kopf zurückzog, glommen sie sanft.
Wie gehts deiner Mutter?, fragte er.
Ich sagte nichts.
Es tut mir leid, was passiert ist, fuhr er fort. Es war nicht nur meine Schuld, weißt du. Erwachsene sind eben so. Manchmal streiten sie sich. Und am nächsten Tag verzeihen sie sich‘s wieder.
Ich antwortete weiterhin nicht. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob tatsächlich alle Männer elende Spieler und Trinker waren, die ihre Ehefrauen zu Brei prügelten, wann immer es ihnen passte. Vater schien die Frage zu erahnen. Er sagte: Ich weiß, dass ich manchmal aggressiv reagiere. Hab mit dem Arzt drüber gesprochen. Das ist wegen einer latenten Persönlichkeitsstörung. Ohne Scheiß! So nennt er das in seinem Fachchinesisch.
Vater lachte.
Du gehst doch gar nie zum Arzt, brachte ich heraus.
Ich war gestern da. Reine Routineuntersuchung. Wegen der Prostata. Dein Großvater ist an Krebs verreckt, da muss man vorbeugen.
Könnte ich das auch kriegen?
Nein, nicht du. Du bist noch jung, mach dir keine Sorgen.
Er setzte sich auf einen der wackligen Gartenstühle. Hast du schon Mädchen in der Schule kennengelernt?, fragte er. Du darfst auch ruhig mal deine Freunde mit nach Hause bringen.
Okay, sagte ich.
Wie fühlt sich so ne Prothese eigentlich an?, bohrte er weiter. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien. Ich wollte aus meiner Haut fahren und mit Jasmin in der Finsternis verschwinden. Rasch trank ich mein Bier aus.
Ach, ist schon gut, beschwichtigte mein Vater. Du bist trotzdem ein Mann. Kommst ganz nach mir. Ich bin stolz auf dich.
Ich schluckte bitter und wollte auf mein Zimmer.
Ich verspreche dir was, sagte er. Ich werd nie wieder die Kontrolle verlieren. Glaubst du mir das?
Mein Nicken war ihm Antwort genug.
Dann sehen wir uns morgen, sagte er und schob den Hunderter mit seinen schwieligen Fingern über den Tisch. Ich nahm das Geld. Bevor ich mich abwandte, blickte ich noch einmal zur Hecke hinüber. Jasmin war nirgends mehr zu sehen.
Irgendwann schaffst du’s vom Dreimeter, sagte Jasmin beim Zurückradeln.
Abends sind wir über den Dachboden ins Schützenhaus eingebrochen. Zwischen den Giebeln an der Vorderseite gab es eine Holzklappe, die sich leicht öffnen ließ. Jasmin machte mir die Räuberleiter und ich zog den rostigen Stift der Klappe aus seinem Haltenagel. Dann schob sie sich unter mich, drückte mit aller Kraft nach oben. Ich konnte mich auf den Dachboden ziehen. Er war so niedrig, dass ich mich nur auf den Knien bewegen konnte. Der Geruch von altem Holz hing im Raum, Spinnweben legten sich auf mein Gesicht.
Unter mir erfühlte ich eine Art Wolle. Der Dachboden war stockfinster und ich suchte nach meinem Feuerzeug. Plötzlich gab eine Strebe nach und ich stürzte durch eine Öffnung in den Raum darunter. Auf dem Weg nach unten schlug ich mir den Kiefer an einem Balken auf. Landete mitsamt der Asbestmatte unsanft auf dem Rücken, schmeckte den metallenen Geschmack von Blut in meinem Mund. Meine Zähne pochten. Ich war in der Küche des Schützenhauses.
Alles okay da drin?, rief Jasmin.
Ich brauchte einen Moment. Ja, alles gut. Bin durch das Dach gefallen!
Oh, scheiße! Hast du dir wehgetan?
Ich fühlte mich, als hätte ich von einem Boxer einen Uppercut kassiert. Beim Sprechen fiel es mir schwer, den Mund zu bewegen. Ich merkte, wie mir Blut übers Kinn lief und auf das T-Shirt tröpfelte.
Bist du sicher, dass es dir gutgeht?, rief Jasmin. Mach die Tür auf!
Ich stand auf und humpelte zur Tür. Bevor ich sie aufmachte, wischte ich mir das Blut vom Mund, strich es an meinen Shorts ab. Jasmin tippte mit einem Finger sanft gegen meine Lippen.
Du blutest ja!
Ist halb so schlimm.
Ich hol dir was zum Abtupfen.
Sie drängte sich an mir vorbei und kam mit einer Rolle WC-Papier zurück. Riss ein paar Blätter ab und tippte damit leicht gegen meine Lippe. Ich hoffte, so tun zu können, als hätte ich keine Schmerzen, aber mein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass ich es nicht verstecken konnte. Du bist mein Held, sagte sie. Also ich mein, so richtig!
Meine Schmerzen wurden erträglicher und ich musste lächeln. Mein Mund pochte weiterhin, aber die Blutung verlangsamte sich. Jasmin sagte: Bestimmt finden wir hier Alkohol. Die vom Schützenverein trinken doch gerne mal einen!
In einem Wandregal lagerten Weinflaschen. Die Etiketten klangen Französisch. Im Schützenhaus roch es nach Staub und Waffenöl. Regen schlug gegen die Fensterläden. In der Ferne grollte Donner. Durch die offene Tür sahen wir die ersten Blitze. Sie tauchten das Innere des Schützenhauses in bleiches Licht. Staubflocken schwebten über den Tischen des Gemeinschaftsraums, aufgewirbelt vom auffrischenden Wind.
Jasmin schloss die Tür. Sie hatte eine der Weinflaschen aus dem Regal genommen und betrachtete das Etikett, als wäre sie eine Kennerin. Die Flasche hatte einen Drehverschluss. Sie nahm den ersten Schluck, blies mir den süßlichen Weinatem ins Gesicht. Wir saßen im Schneidersitz auf die Dielen und wechselten uns beim Trinken ab. Ich glaubte, ihre Lippen an der Flaschenöffnung zu schmecken. Den Schlag gegen den Kiefer hatte ich fast vergessen.
Wir zündeten die mitgebrachten Kerzen an. Hielten unsere Zigarettenspitzen gleichzeitig in die Flamme. Das Licht legte sich wie ein Schleier auf Jasmins Gesicht, als wäre sie bereits in den Ort hinter der Welt untergetaucht. Ich erinnerte mich an das Geschenk meines Vaters. In meiner Hosentasche suchte ich nach der Hunderternote. Ich fand sie, zu einem kleinen Rechteck gefaltet.
Mein Vater hat mir das hier gegeben, sagte ich.
In das Wort Vater legte ich meine gesamte Verachtung ihm gegenüber.
Was hast du vor?
Ich brauche seine Geschenke nicht, sagte ich und faltete die Note auseinander. Dann hielt ich sie in eine der Kerzenflammen. Das Papier wellte sich und wurde dunkel, die Flammen leckten an zwei Ecken und mit einem Knistern fing sie vollends Feuer. Ich ließ sie fallen und schaute zu, wie sie verkümmerte.
Jasmin lächelte verträumt und strich mir mit der Hand über die Wange.
Kennst du Flaschendrehen?, fragte sie.
Die Frage war mir etwas unangenehm. Ich ließ mir Zeit, den Rauch auszuatmen, bevor ich antwortete: Ja.
Schonmal gespielt?
Nein, noch nie. Und du?
Meine Zunge war schwer und aus dem Bauch stieg mir die Wärme in den Kopf.
Ich spiele es mit dir, wenn du möchtest, sagte sie und legte eine Hand unter ihr Kinn. Mit zwei Fingern zwirbelte sie an einer Haarsträhne. Ich schraubte die Flasche zu und legte sie zwischen uns. Ließ sie langsam kreisen.
Okay.
Die Flasche stoppte und zeigte auf ein Fenster.
Jetzt ich!, sagte sie. Der Flaschenbauch machte kullernde Geräusche auf den zerfurchten Dielen. Ob sie Übung darin hatte oder es Zufall war? Jedenfalls zeigte der Hals auf mich.
Jetzt bist du fällig, sagte sie, schob die Flasche zur Seite und rückte dicht an mich heran. Ihr Blick blieb in meinem hängen.
Komm näher, flüsterte sie.
Ich tat, was sie wollte. Als sich unsere Lippen berührten, spürte ich, wie sie sich an mich lehnte, wie sie mehr wollte. Mit meinem gesunden Arm hielt ich sie am Rücken. Der Kuss dauerte lange, sie öffnete leicht den Mund, dann etwas weiter, zeigte mir, wie man es mit Zunge machte. Für ein Mal kam ich mir nicht ungelenk vor. Als ich sie nicht mehr spürte, öffnete ich die Augen. Der Donner grollte noch näher.
In deinem Mund war noch ein wenig Blut, sagte sie.
Jasmin ging ans Fenster und öffnete es. Danach die Läden. Sofort fegte Wind durch den Raum. Regen spritzte herein, malte dunkle Striche auf die Dielen. Die Kerzen erloschen. Im Licht eines besonders grellen Blitzes drehte sie sich um. Ihr Oberteil war nass geworden. Ich nahm einen weiteren Schluck Wein.
Wollen wir raus in den Regen?, fragte sie.
Lass uns das Gewitter lieber von hier beobachten, antwortete ich.
Also setzten wir uns nebeneinander, weit genug vom Fenster weg, dass uns der Regen nicht erreichte. Wir tranken den Wein leer. Dann legte sie mir einen Arm um die Schulter, ich spürte ihren Atem an meinem Ohr.
Tut mir leid, was passiert ist.
Sie strich über den Ansatz des Prothesenschafts, glitt mit den Fingern über die schmale Spalte zwischen Kunststoff und Haut. Es kitzelte und war nicht unangenehm, aber ich streifte ihre Hand ab.
Ich möchte für immer hierbleiben, sagte ich.
Es fühlte sich gut an, das so offen auszusprechen.
Jasmin stemmte ihre Brust durch und legte ihren Oberkörper über meine Beine. Die Blitze ließen ihr Gesicht leichenblass, aber doch so lebendig wirken. Sie zündete sich überkopf eine weitere Zigarette an. Auch ich nahm mir noch eine und wir schwiegen eine Weile. Das Gewitter war jetzt über uns. Auf meinem Wasserohr klang der Donner dumpf und fern, auf dem andern krachend und nah. Kurz verlor ich die Orientierung.
Jasmin biss auf den Zigarettenfilter und zog ihr Oberteil nach oben. Unter dem Saum des kurzen Rocks konnte ich den Bund ihrer blauen Unterwäsche sehen.
Willst du deine Zigarette auf meinem Bauch ausdrücken?, fragte sie.
Darauf konnte ich nichts erwidern. Mein Mund war trocken und der Rauch machte es nicht besser. Wieder rollte der Donner. Ihr Bauch hob und senkte sich, der Nabel war ein schwarzer Punkt. Das Zentrum einer verletzlichen Fläche.
Ich will dir nicht wehtun, sagte ich schließlich.
Du tust mir nicht weh, sagte sie. Du hilfst mir.
Sie nahm meine Hand mit der heruntergebrannten Zigarette. Ich wollte mich wehren. Der Wein und das Wasser im Ohr packten mich in undurchdringliche Watte. Ich ertrank in diesem Moment. Wir drehten uns. Der gesamte Raum kreiste gewaltsam durch die Gewitternacht, bis ich lockerließ. Zigarettenrauch brannte in meinen Augen.
Nein.
Bitte mach mich unsichtbar, flüsterte sie.
Ich zögerte. Der Regen rauschte. Dann tat ich es.
Jasmin stöhnte.
Im Winter hatte mich mein Vater mit in die Stadt genommen. Tut dir gut, mal rauszukommen, meinte er. Aber es war todlangweilig. Ich hatte keine Lust, vor dem Wettbüro auf ihn zu warten. Also vertrat ich mir die Beine, während sich der Abend über die Stadt legte. Mutter hatte mir eine neue Jacke gekauft, mit Flanellinnenfutter. Sie schmiegte sich eng an mich, trotzdem hatte ich kalt. Im Licht der Straßenlampen glitzerte Frost und ich musste aufpassen, nicht auszurutschen. Nach einer Weile ging ich zur Brücke, die über den Fluss führte. Das Wasser war fast schwarz und floss lautlos.
In mich selbst versunken blickte ich auf die Oberfläche, auf die Spiegelungen der Lampen. Das Wasser lebte. Es zog mich zu sich. Für einen Moment schloss ich die Augen. Stellte mir vor, ich würde in die dunklen Fluten fallen, bis auf den Grund sinken und dortbleiben. Mein Vater würde ganz verstört aus dem Wettbüro kommen, weil er wieder alles verloren hatte, und er würde mich suchen, die ganze Nacht lang, bis ihn die Polizei unter der Brücke fand, nass und schlotternd, und sie würden ihm erklären, dass sein Sohn fort war, verschwunden. Und das Einzige, was er machen könnte, wäre die Hände auszustrecken, seine Augen rot im Schein ihrer Taschenlampen, um zu sagen: Verhaften Sie mich. Ich bin ein schlechter Vater, ein Spieler und ein Trinker.
Was ist da unten?, fragte sie und riss mich aus meinem Trübsinn.
Ich wandte mich um. Vor mir stand Jasmin, dick eingepackt in einen Wintermantel. An einigen Stellen quoll das Futter wie kleine Wolken aus dem Stoff. Sie hatte die Haare schwarz gefärbt und rauchte. Mit einer Hand hielt sie den Lenker ihres Fahrrads. Vor Überraschung brachte ich kein Wort heraus. Sie lächelte.
Ach nichts, sagte ich.
Willst du runterspringen?, fragte sie. Es klang nicht bedrohlich, sondern so, als wäre das eine ganz normale Frage.
Nein. Ich hab nur nachgedacht.
Sie kam neben mich, lehnte das Fahrrad ans Geländer. Mit einem scharfen Gegenstand war ein Herz in den Lack des Rahmens geritzt worden. Ich bemerkte ihren über den Knien endenden Rock, die wollenen Strumpfhosen darunter, ihre sauberen Nikes. Sie blickte auf den Fluss, so wie ich zuvor. Schnippte ihre Zigarette runter ins Wasser.
Es ist schön hier. So still.
Ja, find ich auch.
Wartest du auf jemanden?
Ich wollte sagen: Ich hab auf dich gewartet. Aber ich kannte sie ja gar nicht.
Auf meinen Vater.
Wo ist er?
Da wo er immer ist. Im Wettbüro.
Ach so, sagte sie, als würde sie genau wissen, was das bedeutete. Vielleicht wusste sie es. Die Nacht war ohne Mond. Feiner Schnee begann zu fallen. Sie streckte ihre Zunge aus dem Mund und fing ein paar Flocken auf. Wir lachten.
Wohnst du in der Stadt?, fragte ich.
Nein, bei meinem Bruder. Er ist zehn Jahre älter als ich.
Ich wohne bei meinen Eltern. Aber die haben eh nur ständig Streit.
Ich und mein Bruder auch!
Es fühlte sich gut an, dass sie mich verstand. Obwohl ich sie erst vor wenigen Minuten getroffen hatte, nicht einmal ihren Namen kannte, spürte ich eine solch starke Anziehungskraft, dass ich sie an mich reißen und mit ihr in einem ewigen Kuss versinken wollte. Blöderweise kam in diesem Moment mein Vater die Brücke entlang. Wie ein schwarzer Schemen, die Kapuze über den Kopf gezogen, ging er raschen Schrittes auf uns zu.
Scheiße, wo warst du? Ich hab dich überall gesucht!
Ich wollte mich entschuldigen, aber Jasmin kam mir zuvor.
Haben Sie gewonnen?, fragte sie.
Mein Vater hielt inne. Wer zum Teufel ist die Göre?
Ich bin Jasmin, sagte sie. Freut mich, Sie kennenzulernen.
Was machst du hier zu dieser Stunde? Mit sonem kurzen Rock?
Mein Vater kam ihr gefährlich nahe, reckte angriffslustig sein Kinn nach vorne. Ich wollte dazwischengehen. Aber Jasmins Lächeln bedeutete mir, einfach stehenzubleiben. Ich rührte mich nicht.
Bist du ne Nutte?, fragte er. Die werden heutzutage ja auch immer jünger.
Er fuhr sich mit einer Hand über den Bart. Seine Augen waren gerötet und wässrig, glänzten in der Dunkelheit. Er stank nach Bier und kalten Zigaretten.
Fünfzig Piepen und ich blas dir einen, sagte Jasmin.
Ihr Lächeln war verschwunden. Vater packte mich am Arm.
Halt dich von meinem Sohn fern, blöde Hure!, keuchte er. Jasmin fackelte nicht lange. Sie kickte meinem Vater zwischen die Beine. Auf seinem Gesicht ein Ausdruck, als klappe alles in ihm zusammen. Seine selbstverschuldete Wut, sein angetrunkener Stolz, seine beschissene Arroganz. All das geriet ins Wanken und ins Trudeln. Schwer schnaufend ging er in die Knie. Mein Koloss von einem Vater, zu Fall gebracht von einem Mädchen.
Meinst du, ich hab ihm den Ständer gebrochen?, fragte Jasmin.
Ich holte aus und klatschte die flache Hand ins Gesicht meines Vaters. Mir tat der Schlag wahrscheinlich mehr weh als ihm, aber das war mir egal.
Endlich wirst du zum Mann, sagte Vater und lächelte gequält.
Du beschissnes Arschloch, sagte ich zittrig und spuckte aus.
Auf meinen Wangen sammelten sich Tränen.
Zwei Wochen später war der Schnee zu Matsch geworden. Ich war mit dem Fahrrad zwei Stunden in die Stadt gefahren, um sie wiederzusehen. Wir hatten Nummern ausgetauscht, ein paar SMS geschrieben. In meinem Kopf rollte eine Bleikugel hin und her. Vater hatte mich ziemlich übel verdroschen. Als ich die Brücke erreichte, war mir klamm unter der Regenkleidung. Das Wasser hatte eine Färbung so grau wie Beton.
Ich wartete nicht lange, dann hörte ich ein Motorrad näher kommen. Die Fahrerin hatte Mühe, auf dem rutschigen Untergrund nicht die Kontrolle über die Maschine zu verlieren. Neben mir kam sie schlitternd zum Stehen, ihre Beine reichten kaum bis zum Boden. Sie klappte das Visier hoch. Auf dem Helm waren weiße Rennstreifen und die Nummer achtzehn angebracht.
Spring auf!, sagte sie.
Wem gehört das Motorrad?, fragte ich.
Mach dir darüber keine Gedanken. Ich kann fahren.
Und mein Fahrrad?
Kette es an die Brücke, sagte sie.
Das tat ich und stieg auf das Motorrad. Es war nicht einfach, viel zu hoch für mich und ich hatte Angst, es umzureißen und uns beide darunter zu begraben. Jasmin kippte die Maschine leicht zur Seite und ich winkelte mein Knie so stark an, wie ich konnte, drückte mein Bein über den Sitz. Ihre Stiefel rutschten im Schneematsch, sie musste sich am Bordstein abstützen. Ich wusste nicht, wo ich mich festhalten sollte. Hinter mir ertastete ich die Handgriffe.
Halt dich an mir fest!, sagte Jasmin und klappte das Visier nach unten. Der Motor heulte auf. Wir schnellten nach vorne und ich wäre beinahe hintenüber auf die Straße geknallt. Jasmin verlangsamte sofort wieder, wahrscheinlich musste sie sich erst an die Maschine gewöhnen. Der Motor klang nicht, als hätte sie ihn im Griff, sondern umgekehrt.
Schließlich fand Jasmin den Rhythmus der Maschine. Wir fuhren durch die Stadt, über nasse Straßen, auf denen Splitter der Nachmittagssonne blitzten. Einmal fuhren wir an einem Streifenwagen vorbei, aber die Polizisten waren zum Glück mit jemandem beschäftigt. Der Typ sah mitgenommen aus. Er war mit seinem Peugeot gegen einen Hydranten gekracht. Ein alter Mann stand mit seinem Fahrrad daneben und beobachtete die Situation.
Unser erster Stopp war beim Me-Gusta-Plattenladen. Es roch nach Plastik und Pappschuber, sie hatten auch CDs und Kassetten. Jasmin suchte unter R wie Reggae. Sie zog eine CD nach der anderen hervor. Alles Künstler, von denen ich noch nie gehört hatte. Sie fragte mich, ob ich auch was kaufen möchte, sie habe genug Geld dabei.
Ska find ich auch ganz nett, sagte sie und zeigte mir ein Album von Jimmy Cliff.
Ich schüttelte den Kopf und grinste.
Ein junger Verkäufer versuchte, Jasmins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Weil auf meiner Wange ein blauer Fleck war und ich eine Schramme auf der Stirn hatte, sah er mich an, als wäre ich aus Versehen in den Laden gekommen.
Protoje und Chronixx, sagte er, gute Wahl.
Ja, sagte Jasmin.
Magst du auch das alte Zeugs, Peter Tosh und sowas?
Jasmin blickte ihn an.
Wenn du eher auf was Modernes stehst, kann ich dir zum Beispiel Baboon Prophecy empfehlen, fuhr er fort. Die sind aus Spanien.
Kannst du mir jemanden empfehlen, der so eine sexy Stimme hat wie mein Freund?, fragte sie.
Wir mussten laut loslachen. Ich glaube, wir wussten beide nicht wieso. Doch in mir platzte der Knoten. Die Schlinge, die mir Vater um den Hals gelegt hatte, an der unwissentlich auch meine Mutter zog, immer enger, bis ich langsam erstickte. Der Verkäufer zog sich zurück, nahm meine Unsicherheit und die Anspannung mit sich, so als hätte Jasmin sie auf ihn übertragen. Sollte er damit doch allein im Trüben brüten, in seinem Reich aus Plastik und Pappe.
Unser zweiter Stopp war bei King Kebap. Kaum hatten wir den Imbiss betreten, klingelte Jasmins Handy. Sie fummelte es aus ihrer Motorradhose, die ihr mindestens zwei Nummern zu groß war. Schaute auf das Display. Dann drückte sie den Anrufer weg. Was nimmst du?, fragte sie.
Einmal Kebap im Taschenbrot. Mit scharf, sagte ich.
Und ich nehm das Gleiche, sagte Jasmin.
Der Mann hinter der Theke griff zum Messer und begann zu arbeiten. Seine Schultern waren fast so breit wie jene meines Vaters. Im Gegensatz zu ihm war sein Bart sehr ordentlich rasiert. Auf seiner Schürze prangte das Logo von King Kebap.
Zum Mitnehmen?, fragte er.
Meine Regenkleidung klebte an mir. Ich hatte keine Lust, draußen zu essen oder woanders hinzufahren. Auf dem Motorrad war es kühl genug gewesen, dass ich immer noch leicht schlotterte.
Nein, zum Hieressen, sagte ich.
Gerne, antwortete er. Ich bringe an den Tisch.
Wir setzten uns ans Fenster. Leichter Regen fiel gegen die Scheibe. Verwischte die Lichter der Stadt. Ich versuchte, einen der Tropfen zu verfolgen.
Dein Vater wird eines Tages bekommen, was er verdient hat, sagte sie, als hätte sie mein ramponiertes Äußeres zuvor gar nicht wahrgenommen. Sie rückte ihren Stuhl näher an meinen. Jasmin stützte ihren Ellenbogen auf der Tischplatte ab, legte mir eine Hand an die Wange. An einem ihrer Finger baumelte der Motorradschlüssel. Wieder fühlte ich den Impuls, sie zu küssen. Ich hätte es wahrscheinlich gemacht, aber dann klingelte ihr Handy erneut.
Scheiße, sagte Jasmin.
Der Mann brachte unsere in Zellophan eingewickelten Kebaps. Er stellte die Teller vor uns. Blickte Jasmin an, die das schrillende Telefon in der Hand hielt.
Gibt Probleme?, fragte er und rieb sich über die Schürze.
Jasmin nickte. Irgendein Psycho, der mich immer wieder anruft. Können Sie ihm vielleicht was richtig Böses sagen?
Der Mann nahm das Telefon. Wischte mit dem Daumen auf dem Display nach oben. Ich starrte ihn an. Er machte das wirklich!
Halte dich fern von diese Mädchen, sagte er und stellte seine Stimme besonders tief. Oder ich komme und erwürg dich wenn du schlafen!
Lachend legte er auf und gab Jasmin das Handy zurück.
Danke, sagte Jasmin.
Keine Sorgen jetzt, sagte der Mann. Keine Psycho, keine Polizei. Ihr wollt auch eine Cola?
Auf unser Zögern sagte er: Ich spendiere.
Dann nickte er zum Fenster. Draußen stand das Motorrad.
Ich auch mal jung, sagte er und holte unsere Colas.
Während wir unsere Kebabs aßen und flüssigen Zucker aus Dosen schlürften, überlegte ich, was sie mit ihm gemacht hatte. Es war fast so gewesen, als hätte sie ihn auf eine Weise kontrolliert, ihn für ihre Zwecke eingespannt, ohne dass er sich hatte dagegen wehren können. Seine Drohung konnte bestimmt zur Anzeige gebracht werden. Ich fand, er hatte für eine Fremde ganz schön viel riskiert.
Nachdem wir fertiggegessen und uns ein wenig aufgewärmt hatten, verabschiedeten wir uns von dem Mann. Auf Wiedersehen, sagte er. Ihr aufpassen.
Wir gingen zum Motorrad und Jasmins Handy klingelte ein drittes Mal. Sie stellte es aus. Vertraust du mir?, fragte Jasmin bevor wir aufstiegen.
Ja, sagte ich.
Dann muss ich dir was zeigen.
Wir fuhren ans Westende der Stadt. Mittlerweile hatte der Nieselregen aufgehört, die nassen Zinndächer der Häuser glänzten im Abendlicht. Bleierne Wolken zogen über den Himmel. Auf den Straßen begegneten wir kaum jemandem. Jasmin übersah ein Rotlicht und ich sah uns schon gegen einen Lastwagen krachen, auf dessen Anhänger der Schriftzug MAERSK stand. Mit rutschenden und quietschenden Reifen kamen wir im letzten Moment zum Stillstand. Der Fahrer zeigte uns den Vogel. Mein Herz war kurz vor dem Kollaps.
Wir erreichten unser Ziel. Jasmin parkte das Motorrad neben einem hohen Drahtzaun. Dahinter lag das Gelände des Güterbahnhofs. Zwei Männer in leuchtend orangen Westen koppelten eine Lokomotive an eine Schlange von blauen Wagen. Auf den Wagen prangte das Symbol für Hochentzündlichkeit. Ein Mann mit Hund kam uns entgegen. Er starrte Jasmin an, die ihren Helm abnahm, ihn an den Lenker hängte und den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. Der Hund riss an der Leine und der Mann ging weiter, blickte mehrmals über die Schulter zurück.
Hast du je daran gedacht, einfach in einen Zug zu steigen und wegzufahren?, fragte Jasmin.
Nein, sagte ich.
Wahrscheinlich war ich wegen Mutter nie auf den Gedanken gekommen. Weil ich’s nicht übers Herz bringen würde, sie mit Vater alleinzulassen.
Aber würdest du mit mir wegfahren?, fragte Jasmin. Sie blickte am Zaun nach oben.
Ja, antwortete ich. Ja, ich denke schon.
Dann lass es uns tun.
Die Lokomotive zischte. Die Männer in den orangen Westen hatten die Güterwagen angeschlossen und überprüften die Verbindung. Wir warteten, bis sich der eine über das Bahnhofsgelände davonmachte und der andere zur Führerkabine hochstieg und in der Lokomotive verschwand. Als er den Zug langsam anfahren ließ, spürte ich die Vibrationen. Sie erfassten meinen Körper, verliehen der Situation eine Dringlichkeit, dass ich instinktiv nach den Drahtmaschen griff.
Jasmin war schneller als ich. Mich erstaunte, wie gewandt sie den Zaun erkletterte. Sie bewegte sich, als hätte sie das schon öfter getan. Ich zögerte, aber ihr Blick spornte mich an. Der Draht schnitt mir in die Finger. Meine Arme wurden nach der Hälfte schwer, aber ich kämpfte mich weiter nach oben. Der Zaun war mindestens drei Meter hoch. Zuoberst hatte ich Mühe, meine Beine auf die andere Seite zu kriegen. Der Draht zitterte und bog sich unter meinem Gewicht. Jeden Moment rechnete ich damit, abzurutschen und mir den Schädel auf einem Gleis aufzuschlagen. Der auffrischende Wind blies mir kalte Regentropfen ins Gesicht. Als ich es endlich schaffte, mich auf die andere Seite zu manövrieren, ließ Jasmin sich den letzten Meter fallen.
Sie wartete, bis ich neben ihr im Kiesbett landete.
Der Güterbahnhof war ein Labyrinth aus Gleisen und ich fragte mich, wie man sich hier als Zugführer orientierte. Es schien mir hoffnungslos. Unser Zug nahm derweilen Fahrt auf. Ich rannte Jasmin hinterher. Meine Schuhe rutschten auf dem Kies. Der Regen wurde heftiger, Wind zerrte an meiner Jacke. Donnergrollen ließ das Rattern und Dröhnen der Güterwagen für einen Moment verstummen.
Aus der Führerkabine lehnte der Chauffeur. Ein schwarzer Umriss. Seid ihr wahnsinnig?, brüllte er. Weg vom Zug!
Scheiß auf ihn!, schrie Jasmin.
Dann zuckten die ersten Blitze über den Himmel, verästeltes Licht, das sich seinen Weg zur Erde bahnte. Mit den Blitzen kamen meine Zweifel mit einem Schlag zurück. Was würde Mutter ohne mich tun? Ich konnte sie nicht einfach zurücklassen! Wenn, dann würden wir alle drei gemeinsam flüchten. Und dazu den Personenzug nehmen. Was wir hier taten, schien mir plötzlich unglaublich dumm. Ich wurde langsamer.
Dann rollte der letzte Wagen an mir vorbei und war rasch außer Reichweite. Mit einem Sprint hätten wir ihn vielleicht noch eingeholt, aber ich blieb stehen, hielt meine stechende Seite.
Scheiße, sagte ich. Die kühle Luft schnitt mir in die Kehle.
Was ist passiert?, fragte sie.
Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.
Ich habe nichts, was mich hier hält, sagte sie.
Was ist mit deinem Bruder?
Er ist ein Arsch. Er liebt es, mich zu quälen.
Was hat er davon?
Sie überlegte einen Moment, zuckte dann mit den Schultern.
Er macht das, weil er mein Bruder ist. Große Brüder tun sowas.
Nicht alle.
Sei froh, dass du keinen hast, sagte sie und winkte ab.
Es reicht mir, dass ich einen Vater habe, antwortete ich steinern.
Lass uns den Bahnhof erkunden, schlug Jasmin vor.
Ich folgte ihr zurück. Wir waren ein ganzes Stück gerannt. Das Zentrum des Gewitters hatte sich bereits in die Südstadt verlagert, als wir dieselbe Stelle erreichten, an der wir unsere Zugverfolgung aufgenommen hatten. Ich stolperte über Gleise, die sich wie metallene Flüsse durchs Schotterbett zogen. Einmal trat ich in eine Pfütze und durchnässte meinen linken Schuh, das Wasser war rostfarben und roch nach Eisen. Kaltes Flutlicht zerlegte den Regen in silberne Streifen. Wir hielten uns im Dunkeln. Vor uns ragte die Silhouette einer Werkhalle auf, weiter entfernt das Containerterminal mit seinen Kränen.
Spürst du das?, fragte Jasmin.
Ich hielt inne, sah mich um, lauschte.
Zwischen den Masten flackerte es, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen. Aus den Oberleitungen kam ein kaum hörbares Summen, das in den Ohren vibrierte und mich schwindlig werden ließ. Der schwere Geruch von Diesel, Öl und feuchtem Schotter hing über dem Güterbahnhof. Rangiersignale leuchteten rot wie lidlose Augen. Wir gingen weiter, an Containerwagen, Kesselwagen und offenen Schüttgutwagen vorbei. Je weiter wir ins Zentrum des Bahnhofs vordrangen, desto stärker wurde das Gefühl, dieses industrielle Ungeheuer aus Schienen und Strom warte auf uns. Es flüsterte, knackte und raunte, als wäre all das Metall lebendig geworden.
Zwischen zwei Waggonreihen blieb Jasmin stehen. In der Ferne zuckten die Blitze über den Horizont, das Gewitter war nun außerhalb der Stadt und der Regen fiel nur noch leicht. Neben uns glänzten die rostigen Wannen der Schüttgutwagen.
Siehst du das Licht da vorne?, fragte sie und zeigte in die Düsternis. Es hat eben zu Grün gewechselt.
Ja, sagte ich.
Wenn wir schnell sind, können wir oben reinklettern, ohne dass uns jemand sieht.
Ich kann meine Mutter nicht zurücklassen, antwortete ich, aber es klang nicht sonderlich überzeugt, obwohl ich mich innerlich gefestigt und meine Entscheidung getroffen hatte. Jasmin nahm mich am Arm.
Ich verstehe das, wirklich, sagte sie und kam so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Wir blickten uns tief in die Augen, was mir etwas unangenehm war. Aber du musst loslassen können. Du kannst sie nicht retten. Nur sie selbst kann das tun. Sobald wir fort sind, kannst du ihr schreiben.
Okay, sagte ich. Das Verlangen, Jasmin zu küssen, überwog meine Sorgen. Ich schloss die Lider und tat es. Ihre Lippen waren weich und rochen leicht nach Erdbeere, und für einen Moment schien es, als könnte dieser Geschmack alles andere auslöschen, selbst Diesel, Öl und Eisen. Trotzdem war in meiner Kehle ein Kratzen und ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Wir lösten uns voneinander.
Klettern wir hoch, sagte Jasmin und ehe ich mich versah, hatte sie mich zwischen den Waggons allein gelassen. Ich schaute nach oben, in dem Augenblick, als sie im Bauch des Güterwagens verschwand. Das Summen der Elektrizität wurde intensiver, verdichtete sich. Meine Schädeldecke begann zu kribbeln und ich konnte kaum mehr klar denken. Die letzten Regentropfen klatschten mir auf die Stirn. Jasmins Klopfen aus dem Inneren des Waggons ließ mich aufschrecken.
Hier drin ist es trocken!, hörte ich ihre Stimme dumpf hinter dem Metall. Es ist sogar recht gemütlich!
Als ich nicht reagierte, fragte sie: Kommst du?
Ich antwortete nicht, sondern griff nach der ersten Sprosse der Leiter, die Außen am Wagen angeschweißt war. Hievte mich Tritt für Tritt weiter nach oben. Der Stahl war glitschig und hinterließ einen rostigen Film auf meinen Händen. Ich hoffte, eine der Sprossen würde brechen oder noch besser die ganze Leiter, sodass ich rücklings zu Boden fiel. Für Jasmin hätte es keine andere Möglichkeit gegeben, wieder aus dem Waggon rauszuklettern, und mein Sturz hätte sie bestimmt darin befeuert. Aber keine Sprosse brach. Bei jedem Tritt knarzte das Metall.
Ich hörte Jasmins Stimme, verstand jedoch nichts. Das Summen erfüllte mich nun vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Wenn ich eine Hand löste und nach der nächsten Sprosse griff, durchzuckte mich ein Schmerz wie von einem Stromschlag. Mein Puls geriet völlig außer Kontrolle. Mir war kalt und heiß zugleich. Mein Blick war auf die Oberleitungen fixiert. Licht flackerte durch die Finsternis, wanderte an den Leitungen entlang. Trockener Funkenregen sprühte auf mich herab.
Unter aufschwellender Panik wollte ich Jasmin zurufen, dass ich umkehre, dass ich es nicht schaffte. Doch es war zu spät. Meine Finger suchten nach der letzten Sprosse. Dann rutschte ich mit den Schuhsohlen ab und griff ins Leere. Für einen kurzen Moment schwebte ich. Ein gleißendes Licht blendete mich, als von der Oberleitung ein Bogen auf mich herunter schnellte. Die Helligkeit fraß mich auf, verwandelte meine Wahrnehmung in tiefenloses Weiß. Ein unmenschliches Brennen. Der Geruch von verschmorter Haut. Dann verschluckte mich die Finsternis.
* * *
* *
*
Ich erwachte im Krankenhaus. Mutter saß neben dem Bett. Ihr Gesicht sah schon wieder ganz ordentlich aus, abgesehen von dem schwarzen Bluterguss unter ihrem rechten Auge. Als sie merkte, dass ich wach war, fing sie an zu weinen.
Sie haben dich im Freibad gefunden.
Sie wirkte durcheinander, die Worte sprudelten aus ihr heraus.
Wer ist dieses Mädchen? Was hat sie mit dir gemacht?
Ich konnte noch nichts einordnen, war losgelöst von meinem Körper. Als blickte ich durch ein Nadelöhr auf mich und meine schluchzende Mutter hinab. Entrückt, unfähig zu handeln. Ich wollte meine Hand ausstrecken und sie trösten. Aber vor allem suchte ich Trost für mich selbst.
Du hast eine Gehirnerschütterung.
Sie legte mir die Hand auf die Stirn. Dann stützte sie sich mit den Händen auf meinem Bett ab. Ich ließ sie weinen. In mir war alles zu schwerem, unverrückbarem Stein geworden. So sehr ich es versuchte, ich konnte mich nicht bewegen. Das Gefühl hatte nicht nur meinen Körper gefangen genommen, es ließ mich vor allem auch gedanklich völlig teilnahmslos werden. Nach einer Weile ging es Mutter besser.
Dieses Mädchen, fuhr sie fort, hatte einen schlimmen Unfall. Es tut mir so leid. Du musst unglaublich viel durchgemacht haben.
Sie schniefte. Kannst du mich hören?, fragte sie.
Ich fand meine Stimme lange nicht wieder. Lag halb wach und halb schlafend im Bett und starrte an die weiße Decke. Eine nicht enden wollende Spirale. Ich dachte: So ist es, wenn man tot ist. Unruhig tastete ich über meinen Arm. Oder war es die Prothese? Ich konnte die Berührung nicht mehr unterscheiden. Manchmal kam ein schemenhafter Mann in mein Zimmer, fragte mich, mit wem ich beim Güterbahnhof gewesen sei. Sie hätten ein gestohlenes Motorrad gefunden.
Zwei oder drei Tage später fuhr Mutter mich nach Hause. Dank der Medikamente ging es mir besser. Ich war froh, endlich aus dem sterilen Krankenhausgebäude rauszukommen. Ich platzte fast vor Worten, die ich nicht aussprechen konnte. Irgendwann gelang mir ein Anfang.
Sag mir, wo sie ist!
Wer war sie?
Sie ist meine Freundin!
Mutter erwiderte nichts, aber ich sah an ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck, dass ihr meine Bemerkung nicht gefiel. Sie schluckte und schaute angestrengt auf die Straße, obwohl kein Verkehr war.
Du hast deine Prothese verloren. Der Arzt sagte, du warst komplett weggetreten.
Was ist passiert?
Ich weiß es nicht. Der Bademeister fand das Mädchen im Pool. Sie ist ertrunken.
Was?
Du hast deine Prothese verloren. Das tote Mädchen klammerte sich daran.
Hör auf damit! Das stimmt nicht!
Sie hat dir Drogen gegeben!
Ich schwieg. Mutter war schon wieder den Tränen nahe. Sie sagte: Ich verstehe das nicht. Hilf mir, es zu verstehen. Kannst du das?
Ich liebe sie!
Mutter schwieg. Suchte nach den richtigen Worten. Ich wollte weinen, aber konnte es nicht. Mein Körper war taub. Als wir unsere Einfahrt erreichten, fragte sie: Hat sie Suizid begangen?
Jedes Wort donnerte durch meinen Kopf wie ein Güterzug. Ich sagte nichts.
Weißt du, was das ist? Wenn wir drinnen sind, kann ich’s dir erklären.
Ich schüttelte den Kopf. Sie hat Suizid begangen, wie du es damals am Güterbahnhof auch tun wolltest, sagte Mutter. Aber die Worte waren nur in meinen Gedanken. Ich stieg aus.
Vater stand in der Tür, streckte die Arme aus und wollte mich umarmen. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt, damit sein falsches Lächeln verschwand.
Fick dich doch selbst, sagte ich.
Ich brauchte keine Erklärung. Jasmin war zu dem Ort hinter der Welt gegangen, um gesund zu werden.
Manchmal träume ich von ihr. Dass sie noch da ist und irgendwo mit dem Fahrrad auf mich wartet. Dass sie bei Gewitter zurückkommt, mit offenen Augen, mit denen sie mich ansieht wie damals auf dem Dreimeterbrett. Meine Mutter behauptete felsenfest, sie wäre im Pool ertrunken. Aber ich weiß es besser, im Gegensatz zu ihr habe ich es erlebt. Ich war mit ihr auf dem Sprungturm, bevor sie verschwunden ist. Dieser Abend steht so deutlich vor meinen Augen, als säßen wir uns immer noch gegenüber.
Da sind Schuldgefühle. Nicht nur gegenüber mir selbst, auch gegenüber meiner Mutter. Sie hatte ihre letzten Ersparnisse für die Prothese ausgegeben, weil wir keine Krankenversicherung mehr hatten. Ihr Geld war draufgegangen für ein Stück Kunststoff, das mich nicht mehr ganz machen konnte. Wenn ich daran zweifle, ob das mit Jasmin echt gewesen ist, mein fehlender Arm dient als harter Beweis dafür. Mein Vater hat sich fast totgesoffen und muss für mindestens fünf Monate in eine Klinik.
Ich sollte wütend auf Jasmin sein. Darüber, dass sie mich verstümmelt zurückgelassen hat und ohne mich an den Ort hinter der Welt gegangen ist. Aber es gelingt mir nicht. Ich denke an Jasmin, sobald ich etwas trinke, beim Spazieren am Fluss, beim Waschen. Wasser ist das verbindende Element, das hat sie selbst gesagt. Am stärksten ist es, wenn ich meine Armprothese abnehme und über den Stumpf streiche. Dann spüre ich das, was von ihrer Berührung geblieben ist.
Ab und zu radle ich barfuß und in Badehose durch die umliegenden Wälder. Trete in die Pedale, bis meine Füße blutig sind. Am Tag bin ich nie mehr ins Freibad gegangen. Nur nachts ein paar Mal. Ich denke zurück an diesen Sommer, bis irgendwann der nächste kommt. Ich setze mich ans Beckenrandgitter und halte die Füße ins Wasser. Dort, im Schatten des Sprungturms, warte ich darauf, den Mut doch noch zu finden.