Immatrikulation
Immatrikulation. Vor einer Woche wusste ich nicht was das ist, eine Woche habe ich gebraucht um es aussprechen zu können und jetzt tue ich es. Es handelt sich um einen der Momente die etwas unwirklich wirken; laufe ich wirklich grade in eine Fachhochschule, gehöre ich wirklich zu den vierzig aus Hunderten die zu dem Studium „Online-Journalismus“ zugelassen wurden?
So, jetzt stehe ich vor der Tür des mir zur Anmeldung genannten Raumes. Eigentlich kein Problem, ich muss die Tür nur noch öffnen, höflich bis dämlich grinsen, schnell Immatriku-was-auch-immer, bedanken, verabschieden und in Richtung heimisches Bett steuern. So eine Tür ist eigentlich nichts anderes als eine Scheibe Holz, im Grunde ein verformter Baum. Befände ich mich in einer Wüste und ein gleich großes Stück Holz würde vor mir auf dem Boden liegen wäre es völlig bedeutungslos, wäre es ein Baum in einem Park würde die höchste Form der Beachtung sich im leeren meiner Blase äußern, aber hier, an dem Ort und dem Moment auf den ich schon solange gewartet habe, stellt dieser verformte Baum, dieses im vergleich zum Universum winzig kleine Stück Holz, ein wahrlich riesiges Problem da. Es könnte sich alles dahinter befinden, ganze Welten, ja möglicherweise ganze Galaxien könnte sich dahinter Tummeln. Ob auf dem Baum wohl mal Eichhörnchen gespielt haben?
Los, mach sie auf. Verdammt mach die verfluchte Tür auf! Nun gut, nichts überstürzen. Wäge doch erst mal ab welche gefahren sich dahinter verbergen könnten. Also da wäre erst mal das Kamera Team mit dem Moderator der mir mit voller kraft „REINGELEGT!“ ins Ohr brüllt, was die zuschauende Menge als Aufforderung mich mit Tomaten zu beschmeißen auffassen könnte... Schluss damit! Ich habe den weiten Weg hierher doch nicht angetreten um vor einem Stück Holz zu kapitulieren, vor einem Baum der möglicherweise nie etwas getaugt hat! Der soll mich aufhalten? Pah, wäre doch gelacht! Also Brust raus, Nase hoch und auf sie mit Gebrüll!
Wow, der Raum ist ja fast so groß wie eine Turnhalle! Hm, viele Theken mit vielen Menschen dahinter, aber keiner davon schaut zu mir oder scheint mit mir zu rechnen, hat mein Pullover vielleicht das Muster der Tapete? Okay, nicht vergessen du bist cool, und zwar verdammt Cool, jeder Eskimo würde vor die in sein Iglu flüchten. Also cool auf einen Stuhl setzten und einfach cool aussehen.
„Hi, kann ich dir helfen? Bist du hier um dich zu Immatrikulieren? Wenn du möchtest schaue ich schon mal deine Unterlagen durch damit es schneller geht wenn du an der Reihe bist.“ Hörte ich eine von meiner Coolheit sichtlich beeindruckte Stimme zu mir sprechen. „Äh...ja...äh.j.j.ja...äh...k-klar“ erwiderte ich verdammt cool. „Gut, lass uns rüber an meinen Tisch gehen“ sprach die Angst in Person. „Äh...ja...äh.j.j.ja...äh...k-klar“ lies ich es noch cooler (wenn das überhaupt noch möglich war) über meine Lippen rollen.
Obwohl nach wie vor fremd, bekamen Situation und Ort langsam etwas Vertrautes. Die Tafel mit leuchtenden Zahlen über der mir zugewiesenen Theke verriet mir dass ich eine Nummer ziehen musste. Das war’s, jetzt bin ich nicht mehr Dino Argentiero, jetzt bin ich Nummer 150. Von der Tafel strahlt mir eine rote 145 entgegen. Also muss ich vier warten. Wie viel ist das? vier Minuten? Vier Stunden? Vier Tage? Der Weg hierher dauerte vier Jahre.
Zack, 146!
Das erste Jahr, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst ein Niemand zu sein da Nichts da war was man hätte vorweisen können, und da man nichts vorweisen konnte war man eindeutig ein Niemand. Aufgrund der (nicht) erbrachten Leistungen in Naturwissenschaften keinen Realschulabschluss, ohne Realschulabschluss nur Ausbildungsmöglichkeiten in Berufen die ihre Schwerpunkt auf Naturwissenschaften legen. Diese Probleme sollen sich lösen indem ich eine Ausbildung zum Schornsteinfeger antrete? Eine Internats Schule besuche in der ich als einziger Ausländer mir mit dem Jugendsprecher der NPD ein Zimmer teilen soll? Außer großer Ungewissheit erst mal nichts, dafür war sich das vertraute Umfeld ziemlich sicher: „Aber Dino, wie willst du das denn schaffen, das konntest du doch noch nie gut…“.
Zack, 147!
„Mit solchen Leistungen wird das nichts…“ meinte der Arbeitgeber zu wissen, also musste Nachhilfe her, aber wohin damit? Arbeit, Nebenjob, Nachhilfe, lernen, Arbeit, Nebenjob, Nachhilfe, lernen, Arbeit, Nebenjob, Nachhilfe, lernen… Leben? Nein, keine Zeit, Arbeit, Nebenjob, Nachhilfe, lernen…
Ruß in der Lunge, Ruß unter den Nägeln, Ruß auf der Kleidung, Schnee der von Himmel fällt und Glatteis das mir egal wäre wenn ich mich nicht mit einem Fuß in der Regenrinne eines Sechsstöckigen Hauses befinden würde – was zur Hölle tue ich hier?!?!?
Zack, 148!
„Vergesst nicht als Schornsteinfeger müsst ihr flexibel sein wie ein Jungferhäutchen! Wer mich hier an macht wird aus gemacht, da gibt’s gleich einen auf die Zwölf da habter gleich Mitach! Ich bin hier die Schule! So, ihr macht die Aufgaben an der Tafel und ich geh ma nen Neger abseilen…“ Das kann nur von einem Oberstudienrat kommen der eine Karriere als Oberfeldwebel hinter sich hat. Ohne zusätzlich Englischstunden keinen Realschulabschluss, ohne Realschulabschluss kein Abitur. Also, Arbeit, Nebenjob, Nachhilfe, lernen und was machst du am Wochenende? Na Englisch, was denn sonst. Jetzt mag sich so manch einer denken wie hat er das nur ausgehalten? Ganz einfach, nämlich gar nicht, wie die Stressbedingten Nierensteinen bewiesen.
Zack, 149!
Das Abitur. „Aber Dino, wie willst du das denn schaffen, das konntest du doch noch nie gut…“. Oh Gott. Ein NC von 2,2 sollte für jemanden der mit letzter Mühe seinen Hauptschulabschluss bestanden hat als Beweis für das Gegenteil dienen…
Peng, 150!
Meine Zeit ist gekommen. Nicht nur mich zu erheben und mich zu Immatrikulieren sondern um zu zeigen das ich doch schaffen kann was ich mir vorgenommen habe, das es doch Sachen gibt die ich gut kann.
„Hallo, schön dass sie sich für den Studiengang „Online-Journalismus“ entschieden haben“. Ob die Dame hinter der Theke wohl wusste was sie sagte? Ob sie wohl mit Bedacht ihre Worte wählte? „Entschieden“, genau das habe ich mich. Nicht mich zu beweisen, nicht Millionär zu werden, sondern ich habe mich für das Entschieden vor was ich mein ganzes Leben lang Angst hatte. Für mich selbst.