- Beitritt
- 03.07.2004
- Beiträge
- 1.603
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Immer weiter
Die Tachonadel verharrte zitternd. Sie wäre gerne weitergestiegen, aber die Zylinder gaben nicht mehr her. Richard jauchzte im Geschwindigkeitsrausch. Die Autobahn verlief schnurgerade und kleine Bodenwellen ließen das Fahrzeug sekundenlag durch die Luft fliegen.
„Absolut geil!“
Er jagte über eine kleine Kuppe und während die Reifen einen Moment die Bodenhaftung verloren, sah er den Lastwagen, der quer über alle Spuren stand.
„Das ist ja nur noch geil!“, schrie Richard seine endlich erfüllte Sehnsucht heraus.
„Sie können aufhören, zu schreien.“
Richard hielt die Augen geschlossen. Hatte er geträumt? Lag er im Bett? Er tastete um sich. Nein, er saß eindeutig in dem Konturensitz des Lamborghini, den er sich besorgt hatte. Langsam öffnete er die Augen und sah vor sich die Autobahn schnurgerade und frei bis zum Horizont. Dann schaute er um sich und sah einige verknäulte Teile, die vielleicht einmal zu dem knallroten Lamborghini gehört hatten. Direkt vor ihm rauchte etwas leise vor sich hin, das vielleicht einmal ein V10-Motor gewesen war.
„Wieso lebe ich noch? Oder bin ich tot?“ Richard stand aus dem Sitz auf und sah an sich herunter: Keine gebrochenen Arme oder Beine, keine blutenden klaffenden Wunden - nein, er war sicher tot.
Heinrichs Taschendiebstahl am Berliner Hauptbahnhof war ein Riesenerfolg. In der Brieftasche des kleinen Japaners, den er angerempelt und dann bestohlen hatte, fand er fünftausend Euro in handlichen Scheinchen. Er eilte umgehend zu seinem Dealer und kaufte alles auf, was der ihm geben konnte. Dann setzte er sich den goldenen Schuss und erlebte unglaubliche Momente, bis er dahindämmerte.
Als er wieder aufwachte, lag er durchnässt und frierend in einem kleinen Gebüsch am Rande des Tierparks. Außerdem hatte er Schwindel und Atemschwierigkeiten. Aber er lebte anscheinend. Zitternd griff er in seine Tasche und musste feststellen, dass ihn mitfühlende Junkies von allem erleichtert hatten. Hätte er wahrscheinlich auch getan. Ein Toter brauchte schließlich keinen Stoff mehr. Schwankend stand er auf und beschloss widerwillig, erst einmal weiter zu leben.
Sabine hatte es geschafft. Alle Sicherungen hatte sie überwunden und nun stand sie in einem schmalen Fenster im achtzigsten Stock des Hochhauses. Sie holte noch einmal Luft und sprang, Füße voran. In den nächsten dreißig Sekunden sah sie ihr verpfuschtes Leben vorbeiziehen und meinte, zu schweben. Dann prallte sie auf die Erde und verlor ihr Bewusstsein.
„Da sie jetzt noch lebt und sich nichts gebrochen hat, können wir sie auch mit dem Kran herausziehen.“
Wer sprach da? Und was sollte der Kran. Sabine stellte fest, dass sie zwar ihre Beine nicht bewegen konnte, aber ihren Kopf. Sie öffnete ihre Augen und schaute verwirrt auf die Menschen, die sich um sie versammelt hatten. Einige Polizisten drängten die Menge zurück, während Feuerwehrleute versuchten, sie auszugraben. Sie steckte bis zu den Hüften im Bürgersteig, aber anscheinend war ihr ansonsten nichts passiert.
Nach diesen drei Vorfällen gab es zahlreiche weitere Ereignisse und aus allem Geschehen schälte sich deutlich heraus: Der Mensch konnte nicht mehr getötet oder verletzt werden, er war einfach unzerstörbar.
Anfangs war es noch ein Sport, von den höchsten Gebäuden der Welt zu springen. Aber nachdem die Retter nicht mehr eingriffen und die Springer sich selbst aus der Erde befreien mussten, ließ die Begeisterung nach. Und warum sollte jemand noch S-Bahn-surfen, wenn jedes Kleinkind das konnte. Der Adrenalinschub war perdu. Es gab keine Herausforderungen mehr. Und dann sprach es sich herum, dass man auch nichts mehr zu essen und zu trinken brauchte. Zwei Flaschen Whisky ließen einen gut schlafen, aber außer hämmernden Kopfschmerzen zeigten sie keine weitere Wirkung.
Deshalb hörten die Bauern auf, die Äcker zu bestellen oder die Kühe zu melken. Den Tieren schien das nichts auszumachen. Ohne weitere Eingriffe mutierten sie zu Wildkühen und entfleuchten wie alle anderen Tiere in die freie Natur. Ganze Industriezweige gingen unter, weil niemand mehr Lust hatte, zu arbeiten. Börsenmakler saßen in ihren stylischen Villen und jagten sich eine Kugel nach der anderen in den Kopf, aber selbst russisches Roulett mit sechs Patronen versagte.
Einige Wissenschaftler, die diese Phänomene erforschten, waren wohl die letzten Menschen, die noch einer zielgerichteten Beschäftigung nachgingen. Nach wenigen Monaten stand für sie fest, dass der Mensch empfindungslos geworden war. Niemand hatte bei seinem vergeblichen Sterben irgend einen Schmerz erlebt. Die Nerven waren nicht tot, die Finger hatten weiter ein Tastempfinden, aber nicht mehr - keine Freude über einen lieben Menschen, kein Schreck über verfaulte Haufen. Es wurden keine Kinder mehr geboren, das wusste man bereits, aber jetzt mussten die Menschen feststellen, dass auch ihre Herstellung jeden Reiz verloren hatte. Die Menschheit versank in Desinteresse und Antriebslosigkeit. Häuser und Fabriken verfielen, Fahrzeuge verrosteten auf den Straßen, Krankenhäuser und Schulen wurden geschlossen, weil sie niemand mehr in Anspruch nahm.
Nach einem Jahr zeichnete es sich deutlich ab: Die Menschen lebten immer weiter und sie wurden auch immer älter. Es gab keine Krankheiten mehr und die Körperzellen starben nicht ab, aber der Alterungsprozess lief weiter. Die Menschen sanken mit zunehmenden Alter zusammen und wurden kontinuierlich kleiner. Wo würde das enden? Einige Gelehrte erinnerten sich an Tithonos, für den Eos Unsterblichkeit erbeten hatte, aber die ewige Jugend vergessen hatte. Er wurde schließlich zu einer Zikade. Ein weiser Mann, der unter einer Eiche saß und vor sich hindämmerte, murmelte noch: „Das Problem Mensch hat sich somit erledigt.“, bevor auch er verstummte.