In der Falle
Haschischgeruch hing in der Luft.
Es war ein angenehmer Geruch, an den ich mich gewöhnt hatte, und der mir jeden Abend, wenn ich zur Arbeit erschien, signalisierte, dass ich zuhause war. Dies hört sich widersinnig an, wenn ich sage, zuhause, wenn ich meine Arbeitsstelle meine, doch meine Arbeitsstelle war mein eigentliches Zuhause, weil ich hier unter Gleichgesinnten war. Sie werden sagen, das sind ja schöne Freunde gewesen, die ich da hatte, die rauchten ja Haschisch, und das ist doch illegal. Nun, das was wir auf unserer Arbeitsstelle getan haben, das war ebenfalls illegal. Früher war es einmal ein ehrenwerter Beruf gewesen. Zeitungsredakteur. Man hatte von der vierten Gewalt im Staate gesprochen. Unserem Berufsstand hatte es oblegen, den Menschen umfassende Informationen über die Herrschenden zu liefern, auf deren Grundlage sie ihre Regierung frei hatten wählen können.
Ich halte unsere Arbeit daher auch heute noch für ehrenwert, auch wenn es mich in einer faschistischen Terrordiktatur wie der unseren den Kopf kosten kann, an einem unabhängigen Blatt mitzuarbeiten.
Unabhängig, das waren wir. Das ist unsere Corporate Identity gewesen, das schweißte uns zusammen. Und ich bin bis heute stolz darauf. Natürlich konnten wir nur abends arbeiten, denn tagsüber mussten wir an unserem staatlich zugeteilten Arbeitsplatz erscheinen. Es wäre aufgefallen, wenn wir zu oft auf unseren Arbeitspositionen gefehlt hätten. Aber nachts, da blühten wir auf. Die Arbeit in der Zeitungsredaktion war mehr als nur Arbeit. Sie war Auftrag. Sie war Mission. Wir fühlten uns als Avantgarde einer freien und aufgeklärten Gesellschaft. Die Demokratie kommt und geht, und sie wird wieder zu uns zurück kommen. Unsere Aufgabe war es, daran zu arbeiten, dass es so schnell wie möglich passiert. Bis zu jenem Tag.
Eugenio hatte als erster Wind von der Sache gehabt. Er diente im Zivilleben als Hauptkommissar im ersten Polizeirevier West. Was ein richtiger Polizeistaat sein will, braucht eine starke Truppe. Bei uns arbeiten heute fast zehn Prozent der Werktätigen für die Polizei oder mit ihr zusammen. Der Staat kann sich das leisten, schließlich ist die Notenpresse ja auch noch da. Jedenfalls waren wir froh, dass wir Eugenio hatten. Er war für eine im Untergrund kämpfende Truppe unverzichtbar. Er hielt uns durch frühe Warnungen vor Razzien die Bullen vom Hals, dass wir uns ganz auf unseren Auftrag konzentrieren konnten.
Doch diesmal kam Eugenio zu spät. Wir trafen gerade im Gebäude ein, ich und meine Kollegin Sally, im wirklichen Leben Friseurin, mit einem festen Kundenstamm von Polizisten, Schutztruppen, Agenten und Militärs. Im Gegensatz zu Eugenio kam sie aber nicht an die geheimen Informationen heran, weil die genannten Kunden sich in der Öffentlichkeit doch lieber bedeckt hielten.
„Leute, es ist was im Gange. Innerhalb der nächsten zwei Wochen schlagen sie los!“
Seine schwarzen Augen glühten. Eugenio war der Sohn zweier spanischer Flüchtlinge, die – als der Faschismus in Spanien zurückkehrte – nach Deutschland emigriert waren, nichts ahnend, dass es auch hier bald wieder losgehen würde, und es bald keinen sicheren Ort mehr auf der Welt geben würde.
Wildes Geschnatter erfüllte den großen Redaktionsraum, der tagsüber ein stillgelegtes Bürohochhaus war.
„Wissen sie, wo wir arbeiten?“
„Wo sollen wir die Festplatten hinschaffen?“
„Kommen Sie hier her?“
„Haben die Drucker uns verraten?“
Ich schüttelte den Kopf. Die Drucker würden uns nicht an den Galgen bringen. Dafür waren unsere Schmiergeldzahlungen viel zu hoch. Von den Gehältern, die sie für die Parteiblätter und die Schulbücher erhielten, konnte keiner Leben. Ein Glück, dass wir unsere reichen Sponsoren hatten. Aber auch ich fühlte jetzt Angst.
„Ich glaube nicht, dass sie eine Ahnung haben, wo sie uns finden können“, entgegnete Eugenio, scheinbar beherrscht. Doch ich sah, dass auch er Schweißperlen unter der Stirn hatte, die ihm in die Augen tropften.
Plötzlich hörte ich Sirenen, die vor dem Haus aufheulten. Todesmutig wie ich war, sah ich, während die anderen sich unter ihren Schreibtischen versteckten, aus dem Fenster. Ich zählte zehn Kastenwagen in grün-weiß. Scheiße, dachte ich. Da das Gebäude der Zeitungsredaktion von der Polizei umstellt war, gab es kein Entkommen. So entschloss ich mich, den Tatsachen ins Auge zu sehen.
„Hier spricht die Polizei“, tönte es bleiern aus dem Lautsprecher eines Megafons.
„Hauptkommissar Edwin Mohr. Sie alle sind vorläufig festgenommen. Gegen sie liegt der Straftatbestand des Hochverrats vor. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“
Stille in der Redaktion.
„Ich zähle bis zehn. Wenn Sie dann nicht heraus kommen, werden Sie bei lebendigem Leibe verbrennen!“, schrie Mohr heisern. Wie ich sehen konnte, war sein runder Kopf rot angeschwollen. Aber vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein.
Die Stille in unserem ansonsten so lebhaften Arbeitskollektiv war gespenstisch. Man konnte den Angstschweiß förmlich riechen.
„Glaubst du wirklich, sie zünden die Bude an?“, fragte Erhan.
Ich zuckte die Schultern und gab ein teilnahmsloses„Ich traue denen alles zu“ von mir.
Ich glaubte, den Geruch von Rauch zu riechen, war mir aber nicht sicher. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
„Immer wieder interessant“, höhnte Mohr unten durchs Megafon, „was in Friseursalons so alles geschwatzt wird!“
Er genoss den Keil, den er uns damit reingetrieben hatte. Entgeistert richtete ich einen scharfen Blick auf die Frau, die mich des öfteren geföhnt und in besseren Zeiten noch öfter gevögelt hatte, Sandy, der man ansah, dass sie am liebsten im Boden versinken würde vor Scham. In gebückter Haltung unter dem Schreibtisch kauernd, sank sie ihren Blick, sodass man ihre brechenden Augen und ihr sich rötendes Gesicht nicht sehen konnte.
„Diese Waschweiber, die können doch das Maul nicht halten“, gab er uns durch den Lautsprecher weitere Stichwörter mit auf den Weg. Sein Countdown war im Übrigen längst abgelaufen. Mir schwante Böses.
Während die Jungs dabei waren, die PC’s aufzuschrauben und in aller Hektik versuchten, die Festplatten herauszureißen, verzichtete ich auf Aktionismus dieser Art. Mir war klar, dass die Zeit zu knapp für solche Dinge war. Stattdessen packte ich Sandy an beiden Schulterblättern und brüllte sie an: „Du widerliche Schlange, du hast uns an die Bullen ausgeliefert! Wenn ich gewusst hätte...“, begann ich, doch ich wurde jäh unterbrochen. „Feuer!“ Ein Schrei gellte durch die Luft. Jetzt roch ich ganz eindeutig Rauch. Die Feuermelder heulten auf.
Wutschnaubend lief ich die Treppe herab, wie im Schraubstock hielt ich sie fest. Ich beobachtete, dass die meisten Redaktionsmitglieder, die wie wir flüchteten, die ausgeschilderten Fluchtwege benutzten, was sie geradewegs in die Arme der Polizei trieb. Nein danke, da mache ich nicht mit, dachte ich, und verschwand im dritten Stock in einem Büroraum, von dem ich wusste, dass es einen Zugang zu einer Feuerleiter gab, die in den Hinterhof führte. Ich schleuderte Sandy ohne viel Aufhebens über meine Schulter. Da sie sehr dünn war, war sie tragbar. Schwer, aber halbwegs tragbar. Naja, ein Mann wie ich jammert nicht. Nach Gelingen dieses Unterfangens stieg ich, Sandy über meiner Schulter tragend, die Feuerleiter hinab.
Der Hinterhof war leer. Die Bullen hatten diesen Teil des Hauses nicht unter Beobachtung, wie es schien. Wunderbar. Ich brach in eine Erdgeschosswohnung ein, die leerzustehen schien. Ich beschloss, mich mit Sandy dort zu verstecken, bis die Polizeiaktion beendet und die Beamten abgerückt waren.
Die Wohnung roch zwar modrig, doch mir war es recht. So konnte ich sicher sein, dass sie wirklich leer war. Schließlich kann man in einer faschistischen Terrordiktatur niemandem über den Weg trauen. Trau, schau, wem, sozusagen. Das Misstrauen ist systemimmanent, sie verstehen.
Die Wohnung war sehr altmodisch eingerichtet. Große Schränke standen hier, und ein hölzernes Doppelbett gab dem ansonsten übel riechenden Raum einen gemütlichen Touch. Ich sah, dass diese Wohnung sehr klein war. Es befanden sich darin auch ein Spülbecken, das mit Tellern, Schüsseln und Gläsern bis obenhin gefüllt war. Die meisten dieser Essgeschirre waren voll übersät mit Schimmel und anderen widerlichen Substanzen. Daher kam auch der Geruch. Mein Blick wanderte weiter zur Tür, und ich erschrak. Der Mann, der im Türrahmen lehnte und dümmlich grinste, war offenbar der Bewohner dieses Appartements.
Angewidert betrachtete ich diesen Waldschrat, der in einer vermeintlich leer stehenden Wohnung sein freud- und trostloses Dasein zu fristen schien. Es war ein uralter Mann, ungewaschen und unrasiert, der zu allem Übel von oben bis unten nach Pisse stank. Seine verklebten grauen Haare standen vom Kopf ab, solange waren sie nicht gewaschen worden. Sie verliehen dem Mann eine Aura von Irrsinn, die sehr gut zu ihm passte.
„Da sitzt ihr aber schön in der Scheiße!“, feixte er und entblößte ein zahnloses Mundwerk, während er sich die Hände rieb.
„Wie war nochmal die Nummer der Polizei?“ krächzte er, als er zum Telefon griff, das auf dem Nachttischchen neben dem Bett stand.
Sandy begann unvermittelt zu heulen. „Bitte rufen Sie die Polizei nicht an“, flehte sie den Widerling an, „wir tun alles, was Sie wollen!“
Er zögerte kurz. Dann sagte er: „Wir können verhandeln. Aber nur unter Männern.“
Er bat mich, näher zu treten. Sein Geruch verursachte mir erneut Übelkeit. Er flüsterte mir seine Forderung ins Ohr. Ich schluckte.
Bei Lichte betrachtet, blieb mir keine andere Wahl, als auf diesen dreckigen Deal mit diesem ekelhaften Sabbergreis einzugehen, wenn ich noch eine Chance haben wollte, davon zu kommen. So fesselte ich die Verräterin an das Doppelbett des Alten, sodass sich dieser ungehindert über sie hermachen konnte. Im Gegenzug dürften wir uns in seiner Wohnung verstecken, hatte uns der Alte versichert.
Ihre Schreie werde ich nie vergessen, es war das Schlimmste, was ich je erlebt hatte. Während der Alte in sie eindrang, übergab sie sich mehrfach. Ich hatte Angst, dass sie an ihrem Erbrochenen erstickt. Sie hatte uns zwar verraten, doch hätte ich ihr dieses Martyrium gerne erspart.
Gerissen war der Alte, das musste man ihm lassen. Nachdem er mit ihr fertig war, durfte ich Sandy endlich losbinden. Weinend fiel sie mir in die Arme. Sie tat mir Leid.
Als wir uns vom Bett des Alten erhoben hatten, stand der uns gegenüber. In der linken Hand hielt er einen Revolver, der genau auf uns zielte, und in der rechten eine Dienstmarke, und dann sagte er: „Kriminaloberrat Egon Krüger. Sie sind vorläufig festgenommen!“