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In diesen Zeiten

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10.11.2003
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Anmerkungen zum Text

Text gekürzt. 11.9.2022

In diesen Zeiten

Es war elf Uhr abends, als Aldo seinen Dienst antrat. Er übernahm von seinem Kollegen, der nach sechszehn Stunden endlich nach Hause gehen konnte, einen Flur voll von Patienten. Manche schliefen und manche husteten vor sich hin, doch keiner klagte: Sie wussten wohl, dass das Krankenhaus kaum noch einsatzfähige Ärzte hatte.
Aldo war alleine mit Linda, einer Krankenschwester, mit der am liebsten arbeitete. Die Arbeit war formal einfach: Checken, was die Kollegen vom pronto soccorso aufgeschrieben haben, mit den Patienten reden, Temperatur und Blutdruck messen, die Lunge abhören, eventuell Blut abnehmen und ins Labor schicken und dann entscheiden: Die schweren Fälle schickte man nach links auf die Intensivstation, die anderen nach rechts zum Fahrstuhl, der sie auf normale Krankenzimmer brachte. Sein erster Fall heute war ein etwa fünfzigjähriger Mann, der zwar schwer Luft bekam, sonst aber gut beisammen war. Für Aldo war das keine schwere Entscheidung, er konnte ihn leichten Herzens nach rechts schicken.
Aldo half Linda, das Bett aus der Reihe der Wartenden zu schieben, um dann, als sie mit dem Bett unterwegs zum Fahrstuhl war, ihr hinterher zu schauen. Sie hatte nun einen dicken Hintern. Sie trug Windeln, weil sie sonst nach jedem Toilettengang die Schutzkleidung hätte wechseln müssen. Ja, Schutzkleidung war in dieser Zeiten Mangelware geworden, selbst die eine Maske musste man den ganzen Tag tragen.

Er wandte sich zum nächsten Bett, auf dem der Patient bereits mit Sauerstoff versorgt wurde. Aber es war nicht irgendein Patient, sondern Matilde, die Schwester seiner Frau.
„Was machst du hier, Matilde?“
In dem Moment, in dem er die Frage aussprach, wurde ihm bewusst, wie töricht diese war. Matilde versuchte etwas zu sagen, doch er verstand nichts. Sie versuchte zu lächeln, was Aldo an ihren zusammengekniffenen Augen erkannte. Er holte oft seinen Sohn bei ihr ab, wenn dieser bei ihr zu Besuch war, um zusammen mit ihren Kindern zu spielen. Dann kochte sie ihm einen Caffè und sie plauderten ein wenig.
Matilde musste husten. Der Husten steigerte sich, wurde heftiger, zwang sie, sich aufzurichten, bis sie fast saß. Dann fiel sie zurück und blieb regungslos liegen.
Aldo fühlte ihren Puls: Das Herz arbeitete noch und sie atmete, wenn auch nur flach. Aber ihre Haut gefiel ihm nicht. Sie war graublau, er vermutete Hypoxie – ihr den Sauerstoff aus der Flasche wie bisher passiv zu verabreichen, war nicht genug: Sie musste auf die Intensivstation und künstlich beatmet werden.
Linda war noch nicht wieder zurück, also schob er das Bett selbst von der Wand und rannte mit ihm los. Er war schnell und stieß oft gegen die sich langsam öffnenden automatischen Türen. Als er endlich am Ziel ankam, rannte er beinahe einen Kollegen um, der ihm entgegenkam.
„Entschuldigen Sie bitte, es ist dringend!“
“Ja, ja, was ist denn hier nicht dringend?” antwortete dieser. „Außerdem sind wir voll.“
„Sie … sie ist meine Schwägerin!“
„Tut mir leid, Kollege, aber alle Betten sind besetzt. Wollte gerade zu Ihnen kommen und Ihnen sagen, dass Sie mir keine Patienten mehr schicken sollen.“
Aldo kannte den Arzt nicht, auf dessen Maske handschriftlich Dr. Ansberg vermerkt war. War wohl einer von den Ärzten ohne Grenzen, die hier aushalfen, weil einige Kollegen an dem Corona-Virus bereits gestorben sind oder in die Quarantäne mussten. Aber nun stand dieser Fremde zwischen ihm und den rettenden Geräten im Hintergrund.
Aldo verstand. Und erstarrte. Doch seine Gedanken rasten umso mehr. Er wusste, wenn Matilde in der nächsten paar Stunden nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird, wird sie sterben. Oder für den Rest ihres Lebens nicht mehr sie selbst sein. Er schaute sich um, sah in den durch Vorhänge getrennten Betten Patienten liegen. Die meisten lagen auf dem Bauch, intubiert und in künstliches Koma versetzt. Einige wurden lediglich durch die fest anliegenden Nasen-Mund-Masken beatmet. Das waren die minder schweren Fälle.
Dr. Ansberg drehte sich wortlos um und ging zu seinem Schreibtisch an der einen Seite des Raumes. Und Aldo widmete sich wieder Matilde, fühlte nach dem Puls, der zwar flach, aber noch deutlich spürbar war. Und weil ihm ihre Gesichtsfarbe noch eine Spur blauer erschien als zuvor, überprüfte er das Manometer an der Sauerstoffflasche: Er zeigte zum Glück noch genügend hohen Druck. Es passierte nicht selten, dass fast oder ganz leere Flaschen an den Betten hingen, manchmal mit tragischen Folgen.
Er spürte eine leichte Berührung an der Schulter und vernahm gleichzeitig ein lautes: „Ah, hier bist du!“
Linda hat ihn wohl gesucht und nun auch gefunden.
„Matilde“, sagte Aldo, auf das Bett zeigend. „Meine Schwägerin.“
„Ma nooo!” rief Linda verwundert und klagend, um dann leiser hinzuzufügen: “Tut mir leid, dottore.“
„Ist Schicksal“, sagte Aldo, „Es ist auch Schicksal, dass hier alle Betten belegt sind.”
„No, no, das ist nicht Schicksal – das ist Politik.”
Vielleicht hatte Linda recht, vielleicht war das tatsächlich kein Schicksal, dass sie zu wenige Betten auf der Intensivstation hatten, sondern die jahrelange Vernachlässigung der Infrastrukturen durch den Staat. Selbst in der reichen Lombardei gab es nicht genug Betten mit entsprechenden Geräten. Matilde nach Lodi, ins Provinzkrankenhaus zu verlegen, würde nichts bringen, die waren schon gestern überbelegt. Und sie nach Deutschland zu verlegen, wo sie Platz hätten, dazu reichte die Zeit nicht mehr.
„Und jetzt?“, fragte Linda.
„Weiß nicht”, sagte Aldo, „Vielleicht wird einer von denen bald sterben.”
Beide schauten auf die zwei Bettenreihen. Schweigend schritten sie durch den Mittelgang und schauten sich die Patienten genauer an: Wer wird bald sterben oder wer könnte bereits aus der Intensivstation entlassen werden?
Linda blieb gerade vor einem Bett stehen, an dem ein massiger Mann auf dem Rücken lag. Er war so dick, dass sein Bauch den höchsten Punkt auf dem Bett bildete. Sein Gesicht war fast zur Gänze durch die Maske bedeckt, und sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, immer begleitet vom zischenden Geräusch des Beatmungsgeräts.
Linda schaute Aldo fragend an – und er verneinte die so gestellte Frage ebenfalls stumm. Sie gingen weiter, bis diesmal Aldo stehenblieb. Auf dem Bett vor ihm lag eine alte Frau, ebenfalls mit einer Maske auf dem Gesicht, anscheinend schlafend. Sie war von gleicher Statur wie Matilde, aber viel älter, wahrscheinlich eine aus der casa di riposo, dem örtlichen Altersheim. Warum liegt sie hier und nicht Matilde? Nur, weil sie eine halbe Stunde vorher an der Reihe war? Soll das über Leben und Tod entscheiden?

„Sie ist sediert.“
Linda und Aldo drehten sich um. Dr. Ansberg stand hinter ihnen, sie wussten nicht, wann er dazugekommen war. Keiner sagte mehr ein Wort, nur die pumpenden und zischenden Geräusche der Beatmungsgeräte waren zu hören. Dr. Ansberg hustete kurz und sagte: „Ich muss schnell zur Toilette.”
„Natürlich“, antwortete Aldo und trat zur Seite. Sobald die schwingende Tür sich wieder schloss, ergriff Aldo Lindas Hand und sagte: „Komm, schnell!“
Linda hob den Kopf der alten Frau ein wenig und entfernte die hinter ihrem Nacken festgezurrte Gesichtsmaske. In dem Moment schaltete Aldo die Geräte aus. Gemeinsam entfernten sie vom Körper der Frau die Sensoren, die ihre Vitalfunktionen überwachten und an Monitore übertrugen. Dann schoben sie das Bett auf den Flur und Matilde kam auf ihren Platz. Die Sensoren wurden an ihrem Körper befestigt, die Maske aufgesetzt. Aldo schaltete wieder die Geräte ein, die nach einem kurzen Moment der Irritation wieder ansprangen.
Matildes Brustkorb hob sich nun viel stärker als vorher, und es verging keine Minute, bis sie wieder ihre Augen öffnete. Sie sah Aldo und lächelte.
„Sei unbesorgt, Matilde, es wird alles gut“, sagte Aldo, nahm die Sauerstoffflaschen samt Schlauch und Maske, mit der sie vorher versorgt wurde, und ging mit Linda, die sich mit einem Wink von seiner Schwägerin verabschiedete, hinaus.

 

Hallo @Fliege,

Ich bin bei der Geschichte über die selbe Stelle gestolpert.

Das finde ich wirklich entwürdigend. und warum nur die Schwestern, warum er selbst nicht?
Ich habe das allerdings das dann so interpretiert, dass Männer eben für einen Gang ans Urinal nicht sehr viel Kleidung ablegen müssen, weshalb es nicht nötig ist, nach jedem kleinen Klogang neue Schutzkleidung anzulegen.

 

Ich habe das allerdings das dann so interpretiert, dass Männer eben für einen Gang ans Urinal nicht sehr viel Kleidung ablegen müssen, weshalb es nicht nötig ist, nach jedem kleinen Klogang neue Schutzkleidung anzulegen.

Bitte?! Das will ich jetzt aber nicht gehört haben. Das macht die Diskriminierung nicht besser ;).

Ich finde im Netz nur Meldungen, dass Ärzte und Pflegepersonal (männlich wie weiblich) Windeln trugen, aus zwei Motiven heraus: fehlende Schutzkleidung und keine Zeit auf Klo zu gehen. Diesen Menschen kann man echt nicht genug Respekt zollen, was die geleistet haben.

 

Das ist aber schon eine Überraschung, Fliege, in diesen schnelllebigen Zeiten nach 3 Monaten noch einen Kommentar zu bekommen. Einen Kommentar, der Neues bringt.

Auch in deutschen Krankenhäusern gab es Arbeitsgruppen, die Pläne zu erstellten, wem man Hilfe zukommen lässt und wem nicht, wenn die Kapazitäten ausgeschöpft sind. Ein Freund von mir saß in einer solchen Arbeitsgruppe und ihm ging es dabei nicht gut. Klar, wer will das schon.
Das habe ich nicht gewusst. Obwohl es natürlich klar ist, dass man auf solche Fälle vorbereitet sein musste, um nicht improvisieren zu müssen wie in Italien.

Und das moralische Dilemma, Blut ist dicker als Wasser, dass will und kann ich nicht verurteilen.
Das war u.a. auch meine Motivation, diese Geschichte zu schreiben.

Klar ist es objektiv gesehen eine Straftat, aber welcher Arzt kann in dieser Situation objektiv entscheiden? Die haben einen 16 Stunden Tag, durch fehlende Schutzausrüstung riskieren sie ihr Leben und dann sollen die noch ihre Angehörigen sterben lassen, wenn sie die Möglichkeit zur Hilfe haben? Das von den Leuten zu verlangen, ist mindestens genau so unmenschlich.
Auch wenn sie keinen 16 Stundentag gehabt hätten, von Personal nach rein objektiven Kriterien über Leben und Tod zu entscheiden, wäre unmenschlich.

Da kann man Ethik betreiben wie man will. Keine Mutter lässt ihr Kind sterben, kein Mann seine Frau, und auch nicht die Oma, Tante, Schwägerin etc., wenn man sie liebt.
Das ist zwar allen bekannt, aber wenn’s darauf ankommt, also wenn herausgekommen wäre, was Aldo getan hat, hätte sich der Staatsanwalt eingeschaltet. Ob er vor Gericht Milde zu erwarten hätte, steht auf einem anderen Blatt.

Er tötet für Geld. Es ist ein Familienunternehmen und Billy liebt seine Familie. Das klingt jetzt widersprüchlich, ist aber verdammt gut gemacht, ich habe das der Figur abgekauft.
Auch Mafiosi lieben ihre Familien und töten, um sie zu ernähren. Wenn du der Figur trotzdem eine gewisse Sympathie entgegen bringen konntest, spricht für den Text. Es gibt einen berühmten Film, bei dem es mir genauso ging: Léon – Der Profi.

Das mal als Kontra zu deinen Überlegungen. Ich mein, wenn es nun die Tochter des Arztes wäre, würden wir ihn dann weniger "ethisch verurteilen"? Das Du es dem Leser überlässt, sich ein Urteil zu machen, finde ich gut, aber Du machst es ihm leichter, indem Du es so anlegst, wie Du es anlegst.
Das war notwendig, sonst hätte dieser Arzt allein nach seiner Sympathie oder Antipathie für jemand gehandelt, was ihn natürlich unsympathisch gemacht hätte – weil er sich dann praktisch als Gott aufspielte. Götter in Weiß, das war einmal, allerdings in einer anderen Zeit und auch anders gemeint, schätze ich.

Und musste lächeln: Linda, obwohl schlank, hatte nun einen dicken Hintern und watschelte etwas breitbeinig. Sie trug Windeln, weil sie sonst nach jedem Toilettengang die Schutzkleidung hätte wechseln müssen.
Das finde ich wirklich entwürdigend. und warum nur die Schwestern, warum er selbst nicht?
Weil wir auch sonst von seinem Aussehen nichts wissen. Daher: Vielleicht hat er auch eine Windel an, vielleicht auch nicht.

Und jetzt noch drei Dinge, die mir ins Auge sprangen:
Danke für das aufmerksame Lesen – bin allen deinen Empfehlungen gefolgt.

Danke für diesen Text Dion! Großes Thema, keine Frage.
Und ich danke Dir für deine Gedanken und die Korrekturen.

Ich habe das allerdings das dann so interpretiert, dass Männer eben für einen Gang ans Urinal nicht sehr viel Kleidung ablegen müssen, weshalb es nicht nötig ist, nach jedem kleinen Klogang neue Schutzkleidung anzulegen.
Bitte?! Das will ich jetzt aber nicht gehört haben. Das macht die Diskriminierung nicht besser ;).
Welche Diskriminierung? Erstens ist es bekannt, dass Frauen öfters müssen als Männer. Zweitens müssen Männer dafür die Hose nicht herunterlassen. Und drittens: Ist jetzt schon so weit, dass man auch in den Geschichten gendergerecht und politisch korrekt formulieren muss?

 

Welche Diskriminierung? Erstens ist es bekannt, dass Frauen öfters müssen als Männer. Zweitens müssen Männer dafür die Hose nicht herunterlassen. Und drittens: Ist jetzt schon so weit, dass man auch in den Geschichten gendergerecht und politisch korrekt formulieren muss?

Was ja völlig egal ist, weil es in der Realität Männer und Frauen waren, die Windeln trugen, während ich in deiner Geschichte lese, die Mädels müssen Windeln tragen und die Männer lächeln drüber. Ja, vielleicht trug er selbst auch eine, aber das steht da eben nicht expliziert. Du kannst schreiben was Du willst, aber gefallen muss mir das nicht.

 

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