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In einer Minute
In einer Minute singt der Chor sein Lied. Laut und unaufhaltsam schmettert er an diesem Sonntagmorgen seine Töne in die Welt und beglückt damit Hunderte von Zuschauern.
In einer Minute sitzt ein junges Paar auf einer Parkbank und blickt sich verliebt an. Nichts von dem Leid der Welt ist ihnen anzusehen, sie sind glücklich. Haben nur ihre Welt. Alles ist in Ordnung in dieser Welt. Eine ältere Frau sieht die Beiden und schüttelt verächtlich den Kopf.
In einer Minute überquert eben jene Frau die Strasse vor dem Supermarkt, wobei ihr ein freundlicher junger Mann hilft. Verwundert schüttelt sie den Kopf. Als sie zurückblickt, hat der Lkw den Mann schon erfasst.
In einer Minute gewinnt die Mannschaft die Meisterschaft. Die Fans stürmen auf das Spielfeld, heben ihre Helden hoch, reissen ihnen die Kleider vom Leib, alles spielt verrückt. Keiner bemerkt den kleinen Jungen, der irgendwo ganz oben auf der Tribüne steht und vor Freude leise weint. Sein Vater hat seinen Arm um ihn gelegt. Heut Abend muss er ihn wieder zu seiner Mutter bringen.
In einer Minute haben vor dem Stadion einige Fans der gegnerischen Mannschaft begonnen, zu randalieren. Sie werfen Steine und reissen Zäune nieder. Die Polizei kommt, mit viel Bemüh, am Ende sind doch zwanzig Menschen verletzt.
Ohne Regung geht eine Frau mittleren Alters vorbei.
In einer Minute rollt eben jener Frau eine Träne aus dem Augenwinkel und befeuchtet den staubtrockenen Asphalt. Sein Bild ist noch vor ihren Augen, sie kann ihn fast noch riechen. Seine Haut, sein Haar und seine unheimlich zarten Hände. Wo ist er?
Egal.
In einer Minute wird drei Blocks weiter ein Laden überfallen. Am helllichten Tag stürmt ein Mann mit Strumpfmaske auf den Ladenbesitzer zu und hält ihm eine Pistole an den Kopf. Von hinten fällt ein mutiger Kunde dem Gangster in den Nacken.
Ein Toter.
In einer Minute geht ein Rentner im Stadtpark spazieren und lauscht dem fröhlichen Vogelgesang. Alles ist so friedlich, in den Bäumen kann er den Wind leise rauschen hören. Der Park ist gross, von dem dauernden Autolärm ist hier kaum etwas zu hören. Er sieht ein Eichhörnchen auf dem Weg, bleibt schnell stehen.
Da ist es auch schon weg.
In einer Minute ist ein junges Ehepaar am Boden zerstört. Sie sitzt mit versteinertem Gesicht in ihrem Krankenbett, die Schläuche noch an ihrem Körper und würdigt ihn mit keinem Blick. Sie scheint nicht anwesend, scheint weit weg, als ihr Blick zum Fenster, hinaus zum Park wandert. Er weiss nicht, was er tun soll. Er kann ja schliesslich auch nichts dafür, Fehlgeburten kommen vor, hat der Arzt gesagt. Er weint. Von draussen vom Park dringt leises Pfeifen in das Zimmer.
In einer Minute ärgert sich ein Strassenfeger über den Dreck, den die Leute immer einfach so auf den Boden werfen. Wenn es nach ihm ginge, dann würde jeder, der ein Kaugummipapier fallen lässt, eingesperrt. Aber leider geht es ja nicht nach ihm. Er macht diesen Job schon seit zwanzig Jahren, wird bald pensioniert und er weiss nicht, was er dann tun soll. Erschöpft hält er einen Augenblick von seiner Arbeit inne und blickt sich um. Menschen laufen an ihm vorbei, grosse Menschen, kleine Menschen. Keiner sieht ihn.
Keiner.
In einer Minute scheint es, als würde die Zeit still stehen, als die Mitarbeiter der NASA beobachten, wie der Astronaut den Kontakt zwischen der Raumstation und dem Satelliten herstellt. Ganz vorsichtig muss er dabei den Kontakt mittels eines Werkzeugs in die Empfängerdose des Satelliten stecken. Und das im leeren Raum und mit diesen klobigen Handschuhen. Er ist sich sicher, für solch eine Mission meldet er sich nie wieder. Verbissen führt er den Kontakt zum einunddreissigsten Mal zur Empfängerdose. Da meldet sich plötzlich die Stimme seiner Frau im Kopfhörer. Schlagartig hellt sich sein Gesicht auf.
In einer Minute sitzt ein Junge verzweifelt an seinem Schreibtisch und kaut auf dem Bleistift. Diese verfluchte Matheaufgabe! Er hat sich noch nie für Mathematik erwärmen können und Hausaufgaben sind für ihn eine Qual, doch er muss diese Aufgabe bis morgen gelöst haben sonst bekommt er einen Strich und das bedeutet diesmal Strafarbeit.
Er fängt noch einmal von vorne an, schafft es wieder nicht und wirft wütend den Bleistift aus dem Fenster.
Als seine Mutter kommt um nachzusehen, was los ist, weint er.
In einer Minute sieht ein Polizist in Manila sein Leben an sich vorbeiziehen. Er hat die Diebe bis in den letzten Winkel der Slums verfolgt und sich schliesslich darin verirrt.
Die Pistole ist nun genau auf ihn gerichtet, er ist umzingelt. Die Diebe lachen.
Dann drückt einer ab.
In einer Minute erleidet die Frau des Polizisten einen Nervenzusammenbruch, als ein Kollege ihr die Nachricht überbringt.
Sie ist schwanger.
In einer Minute.
In einer Minute sehe ich die Welt an und kann nicht glauben, dass sie es wirklich ist. Ich kann nicht glauben, dass sie wahrhaftig so ist, wie sie ist. Verwundert wandere ich durch die Strassen, durch die Länder und Nationen dieser Erde und sehe nur Leid, Tod und Zerstörung.
Ich sehe mich um und stelle fest, dass eine Minute nicht einmal annähernd lang genug ist um all das zu erleben. Schnell werfe ich einen letzten traurigen Blick zurück auf meine liebe Welt und gehe fort.
In einer Minute verändert sich die Welt.
In einer Minute sind sie gezählt.
Die Tage und Stunden und Sekunden.
In einer Minute ist alles vorbei.