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- 04.08.2001
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Initiation und Befreiung
Die Nacht, in der Ludwig Erbecher erfasste, dass etwas im Argen lag, war eine schlaflose für ihn.
Es war die Nacht nach der Betriebsfeier und ihn plagten arge Erinnerungslücken. Am Alkohol aber hatte sein Blackout nicht liegen können – er trank keinen. Kaum auszudenken, was Ruth gesagt hätte, wenn er ihr mit einer Fahne gegenübergetreten wäre. So schob er es auf zu gutes Essen – vielleicht war auch etwas Verdorbenes dabei gewesen –, dass er nicht mehr alles von der Feier wusste. Obendrein – was er von sich selbst überhaupt nicht kannte – war er mitten in der Nacht aus dem Schlaf geschreckt und fand einfach nicht mehr die notwendige Ruhe, wieder einzuschlafen.
Ruth hingegen, die es im Allgemeinen war, die über Schlaflosigkeit klagte, atmete ruhig und gleichmäßig neben ihm.
Er stand auf, nahm seine Brille vom Nachttisch und ging ins Bad. Dort setzte er sich aufs Klo und dachte nach.
Sie hatten einträglich gefeiert, das wusste er noch. Natürlich hatten seine Kollegen über ihn gelächelt, weil er keinen Alkohol trinken wollte, keine Lieder sang, nicht tanzte und auch nicht schunkelte. Gut und reichlich gegessen hatten sie und als man den offiziellen Teil absolviert hatte, als der Chef gegangen war, da wurden nach und nach die Hemmungen fallengelassen und der Abend hatte seinen vorher abzusehenden Lauf genommen.
Das war für ihn die Zeit gewesen, aufzubrechen. „Wenn es am schönsten ist …“, hatte er gesagt und war hinausgegangen.
Aber wie war er nach Hause gekommen? Die Schäfer aus der Lohnbuchhaltung hatte eine Bemerkung gemacht, als er an ihr vorbeigegangen war.
Schneider aus der IIIa hatte ihn noch durchs Treppenhaus begleitet, wollte er meinen. Aber dann …?
Die nächste Erinnerung war die Panik, mit der er aus dem Schlaf geschreckt war, wie er atemlos gelauscht und überlegt hatte, wo er sich befand. Als er die beruhigenden Atemzüge seiner Frau neben sich wahrnahm, entspannte er sich langsam, aber die weichende Panik hinterließ bohrende Fragen.
So saß er also mit heruntergelassenen Hosen unter der neonhellen Lampe und konnte sich gut vorstellen, wie seine rotgeränderten Augen und die unnatürliche Blässe im Gesicht wirkten.
Er fühlte sich miserabel und betrachtete sich lange im Spiegel, es kam ihm vor, als schaute er in das Gesicht eines Fremden. Er näherte sich dem Glas immer mehr, bis er es mit der Nase beinahe berührte, doch er konnte keine Antwort in seinen Augen finden, wie er nach Hause gekommen war.
Er stieg leise wieder ins Bett, nachdem er seine Brille vorsichtig neben sich abgelegt hatte. Trotzdem er die Decke fest um seinen Körper schlang, gelang es ihm nicht, die Kälte der Fliesen und des Spiegels aus seinem Körper zu bannen.
Als er morgens erwachte, wusste er, dass er nicht lange geschlafen hatte, und das Erste, das er spürte, war das Frieren der vergangenen Nacht.
Ruth erkundigte sich beim Frühstück, wie die Feier gewesen war, doch er brauchte ihr nicht in die Augen zu schauen, um zu wissen, dass es sie nicht sonderlich interessierte.
Sie stellte ihm sein Frühstücksei hin und setzte sich ihm gegenüber. Als er es stehenließ, hob sie die rechte Augenbraue und fragte: „Bist du krank?“
Er lächelte, hoffte, dass es einigermaßen natürlich aussah, und sagte nur: „Mein Magen.“ Dann stand er auf, machte sich hastig fertig und eilte zur Arbeit. Er ahnte, dass Ruth ihn hinter der Gardine beobachtete, bis er um die Ecke bog.
Die gestrige Feier im Kopf, machte er sich auf die Suche nach Schneider. Bevor er sich in die Diskussionen mit anderen einließ, musste er erfahren, wie er nach Hause gekommen war. Doch Schneider hatte sich krankgemeldet und niemand in seinem Büro wusste, was ihm fehlte. Er hatte morgens angerufen und mitgeteilt, dass er sich nicht besonders fühlte.
Erbecher kam sich vor wie ein Abiturient, dem niemand mitteilen wollte, ob er die Prüfungen bestanden hatte.
Er saß an seinem Schreibtisch und es kam ihm der erschreckende Gedanke, dass, wenn Schneider länger krank wäre, er mindestens für diese Zeit im Ungewissen bliebe.
Abgesehen von der Unsicherheit und dem ständigen Zwang, alle Gesichtsausdrücke seiner Kollegen deuten zu müssen, ging es Ludwig Erbecher in den nächsten Tagen leidlich gut. Beinahe hatte er die schlaflose Nacht vergessen, als er den gelben Fleck in seiner Unterhose entdecken musste.
Er zweiundfünfzig, Ruth vier Jahre älter, und irgendwann hatte er mit so etwas gerechnet. Aber so früh? Und in dem Maße?
Vorangegangen war eine erneute schlaflose Nacht, in der er auf der Seite gelegen und Ruth bei ihrem ausgeglichenen Schlaf beobachtet hatte.
Er hatte ihr Gesicht studiert, wie es sich im Mondlicht sanft hob und senkte; und in diesem Moment hatte er sich das erste Mal seit Jahren wieder befreit gefühlt. Ruth schlief und schien ihn vergessen zu haben.
Dann war er aufgestanden und ins Bad geschlichen. Dort hatte er entdeckt, dass er sich vollgepisst hatte.
Beschämt warf er die Unterhose in den Wäschekorb und grub sie ganz unter. Dann zog er sich eine saubere hervor und zog sie an. Als er wieder ins Bett stieg, hatte Ruth sich weggedreht und schnarchte leise.
Der nächste Tag im Büro war von Stress geprägt. Die Lohnbuchhaltung benötigte Daten sämtlicher Mitarbeiter einer Abteilung, Schäfer kam persönlich, um es ihm mitzuteilen und grinste anzüglich dabei. Ganz genau spürte er die Blicke der anderen im Büro, die darauf warteten, dass er zu stottern begann und rot wurde.
Zu allem Überfluss hatte er einen seltsamen Druck auf den Ohren, der einfach nicht schwinden wollte, sosehr er sie auch rieb.
Abends dann hatte sich das lästige Gefühl noch nicht aufgelöst, im Gegenteil, es schien sogar schlimmer geworden zu sein. Einzig ein leise wisperndes Geräusch, das er den Tag über unterschwellig wahrgenommen hatte und das ihn schier wahnsinnig zu machen drohte, war abgeebbt und am Abend dann schließlich ganz verschwunden.
Er sagte Ruth nichts davon, er wusste, was passieren würde. Sie hätte sicherlich eine passende Medizin parat gehabt und gewartet, bis er sie genommen hätte.
Schneider kam tatsächlich nicht zur Arbeit, Schäfer ließ die Andeutungen, er hatte am Abend des folgenden Tages die Daten für die Lohnbuchhaltung zusammen, nur seinen Ohren ging es nicht besser. Der Druck hatte zwar nachgelassen, aber das Rauschen, dieses Gewisper im Hintergrund, war lauter geworden und hatte sich über den Tag in den Vordergrund geschoben, so dass seine Aufmerksamkeit sich ständig darauf konzentrierte.
Er versuchte das Geräusch zu greifen, sich darauf zu konzentrieren, um es analysieren zu können.
„Hören Sie das auch?“, fragte er einmal eine junge Schnepfe in seinem Büro und unterbrach damit die Stille, die sie um sich herum aufgebaut hatte.
Sie sah ihn an und Ludwig Erbecher erkannte, dass sie Angst vor ihm hatte.
„Was?“, fragte sie schließlich und er winkte ab.
Er hatte ohnehin vorher schon gewusst, dass nur er das Geräusch hören konnte und mit diesem Problem auf sich allein gestellt war.
Ruths Mundwinkel zuckte, als er ihr abends davon erzählte. Er konnte diese Reaktion nicht deuten, traute sich aber nicht, sie danach zu fragen.
„Wie hört es sich an?“
„Ich weiß nicht, ein bisschen wie das Meer.“
Wieder die Mundwinkel.
„Laut?“
„Nicht besonders. Aber eben so, dass es unangenehm ist.“
„Wir werden abwarten. Wenn es schlimmer wird oder in ein paar Tagen nicht weg ist, gehen wir zum Arzt.“
Er trank den Tee, den sie ihm gemacht hatte und war einigermaßen beruhigt. Ihn plagte lediglich ein leichter Druck im Innenohr, das Rauschen hatte nachgelassen. Aber so war es gestern auch gewesen und am Morgen, als er das Haus verlassen hatte, war es wieder angeschwollen.
„Ich habe die Wäsche gemacht.“
Ruth war Hausfrau. Sie konnte sich ihre Zeit frei einteilen, und wenn es zwischen ihren Wohltätigkeitsjobs passte, hielt sie ihr beider Haushalt am Laufen.
„Mir sind da ein paar seltsame Unterhosen in die Finger geraten.“
Er hätte seine Schlüpfer selbst durchdrücken sollen! Irgendwie hätte er es geschafft, das vor Ruth geheim zu halten.
Er wand sich unter ihrem Blick. Sie sagte kein Wort mehr, blickte nur streng auf ihn herab.
„Es ist … passiert“, sagte er leise. „Ich weiß nicht.“
Sie bewegte sich, veränderte nur eine Winzigkeit die Stellung, in der sie saß.
„Wie lange sind wir verheiratet?“, fragte sie.
„Zweiunddreißig Jahre.“
„So etwas hast du mir noch nicht geboten.“
Er war nicht sicher, aber er meinte, schon wieder ihre Mundwinkel zucken zu sehen.
„Es kommt nicht wieder vor.“ Wie konnte er da nur so sicher sein? Er hatte doch überhaupt keinen Einfluss darauf.
„Wir werden das Abendbrot einnehmen. Ich habe überbackene Lendchen in einer Preiselbeersauce vorbereitet.“
Das Rauschen am anderen Morgen schwappte beinahe über ihm zusammen, als er das Haus verließ. Es war nicht nur in dem Moment wiedergekehrt, als er die Straße betrat, es war stärker geworden, drängender und er wusste, während er in Richtung Büro ging, dass, sollten diese Töne nicht nachlassen, er verrückt werden würde.
Es schälte sich heraus, dass das Rauschen nicht einfach nur ein Teppich aus Tönen, sondern aus Stimmen gemacht war. Millionen unterschiedlicher Stimmchen flüsterten, schrien, lachten, sprachen, sangen oder weinten, so dass er bei geringer Intensität die Illusion hatte, sie wären ein Geräusch.
Er war immer ein Muster an Strebsamkeit gewesen, Eifer und Fleiß, dafür war er bekannt, nicht nur in seinem Büro. Aber heute, unter diesen Bedingungen, war er nicht in der Lage, einen einzigen, sinnvollen Gedanken zu fassen und zu verfolgen. Ein ums andere Mal schweiften seine Gedanken ab und kehrten immer wieder zu dem Klangteppich zurück.
Natürlich versuchte er, einzelne Stimmen zu isolieren, Sätze zu verstehen, etwas Sinnvolles zu erkennen.
Er fragte sich, woher diese Stimmen kamen, was sie gerade von ihm wollten.
So saß er an seinem Schreibtisch, hielt den Stift in der Hand und den Computer am Laufen, doch sein Blick ging ins Leere, nur dann und wann huschte ihm ein Runzeln oder ein Lächeln übers Gesicht. Die Belegschaft nahm die Veränderung in seinem Verhalten natürlich wahr und beobachtete fasziniert, wie er nichts tat und dabei in regelmäßigen Abständen leise Seufzer ausstieß.
Irgendwann war ihm klar, was der Stimmensalat bedeutete, der in seinem Kopf durcheinander schwang. Obwohl er es nicht recht glauben mochte und ganz sicher mit niemandem darüber sprechen würde, war es doch das Einzige was übrigblieb, nachdem er alles andere ausgeschlossen hatte.
Die Stimmen waren die Gedanken derer, die sich um ihn herum befanden. Unzählige Satzfetzen, Wörter, einzelne Laute, die unkontrolliert den Gehirnen seiner Mitmenschen entsprangen, umschwirrten ihn und er vermochte sie zu hören.
Als er selbst auf diesen Gedanken kam, blickte er sich ängstlich um und bekam gerade noch mit, wie die Kollegen an den Nachbartischen hektisch ihre Arbeit aufnahmen.
Wenn er ihre Gedanken hören konnte, wie stand es dann mit seinen? Waren die dann genauso offen für die anderen?
Einmal zu dieser Erkenntnis gekommen, gelang es ihm, einzelne Sätze zu verstehen.
In keinem Verhältnis stehend, konnte er entziffern. Das musste Berger gewesen sein, der zwei Schreibtische entfernt saß und angestrengt arbeitete.
Die Marschke, die ihm gegenüber saß, schaute auf die Tischplatte vor sich und er hörte eine Stimme, nicht weit entfernt: überarbeitet und völlig durchgedreht.Irgendwo lachte eine Frau und schon jetzt konnte er nicht unterscheiden, ob es von draußen hereindrang oder in seinem Kopf war. Ein spitzer Schrei und wieder das Frauenlachen.
Den Rest des Arbeitstages hatte er damit zu tun, einzelne Stimmen aus dem Meer herauszufiltern. Er hatte zum Feierabend einen ungefähren Überblick darüber, wie die Belegschaft über ihn dachte. Aber diese Tendenz hatte er vorher schon gekannt.
Als er nach Hause ging, war es schlimm. Die Stimmen stürzten auf ihn ein und jede schien persönlich mit ihm sprechen zu wollen. Sein Schritt passte sich dem Chaos um ihn herum an und als er schließlich zu Hause anlangte, war er vollkommen außer Atem und dermaßen aufgewühlt, dass er sich für einige Minuten an den Eingang lehnte, bevor er das Haus betrat.
Drinnen hörte er nichts und auch als Ruth ihn begrüßte, war der Äther still bis auf die Worte, die sie sprach.
Er fand das seltsam und als er während des Abendessens darüber nachgedacht hatte, empfand er den Umstand als beunruhigend. Er sprach die Stimmen nicht an, etwas hielt ihn davon ab, aber Ruth fragte, während sie gemeinsam den Tisch abräumten.
Er machte eine unsichere Bemerkung dahingehend, dass er nichts mehr höre, aber ihrem Lächeln nach zu urteilen, glaubte sie ihm nicht.
Als er sich einen Cognac einschenkte, schaute sie ihn strafend an und fragte nur: „Alkohol?“
Er zitterte beim Einschenken und ihr kurzes, hässliches Lachen ertönte. Als er Ruth verstört anblickte, hatte sie die Lippen geschlossen und runzelte die Stirn.
Keine zwei Stunden nachdem sie zu Bett gegangen waren, erwachte er übergangslos, als hätte er nicht geschlafen. Die Wohnung war still, Ruth lag neben ihm, aber er konnte sie nicht hören.
Als er aufstand, bemerkte er, dass er sich wieder eingenässt hatte. Die Pyjamahose klebte kalt an seinen Beinen und als er im Dunkeln ins Bad schlich, erfasste ihn Ekel vor sich selbst. Es wunderte ihn, dass Ruth so gelassen weiterschlafen konnte, so etwas war früher sicher nicht möglich gewesen. Doch er war froh darüber, und so konnte er duschen und ungestört das Kleidungsstück waschen. Er stand im Keller und beobachtete, wie der Trockner arbeitete, während er überlegte, was vor sich ging.
Die Stimmen um ihn herum gingen ihm auf die Nerven. Sie machten ihn schier wahnsinnig, aber die Stille in seinem Haus war es, die ihn wirklich ängstigte. Dass Ruth keine Gedanken aussandte, dass sie für ihn wie eh und je undurchsichtig war, das war die wahre Quelle seiner Furcht. Und wenn er es genau überlegte, hatte diese Sache auch ein Gutes: War die Angst vor Ruth seit sie sich kannten, gesichtslos geblieben, diffus und nicht benennbar, so hatte das Grauen jetzt einen Namen. Es war die Gedankenlosigkeit seiner Gattin.
Allerdings, war sie jetzt in der Lage, ihr Innerstes vor ihm zu verbergen, oder war es so, dass sie überhaupt keine Gedanken mehr hatte?
Es war kurz nach eins, als seine Hose trocken war. Doch er war aufgekratzt und nicht in der Lage, jetzt ins Bett zu gehen. Er hatte vielmehr Lust, nach draußen zu stürmen, durch die Straßen zu streifen und Dunkles auszukundschaften.
Das tat er dann auch. Er zog sich an und schlich aus dem Haus in die Nacht.
Schneider aus der IIIa war immer noch krank und so besorgte sich Erbecher dessen Adresse und ließ sein Mittagessen ausfallen, warf sich den Mantel über und verließ grußlos das Büro. Er hatte sowieso keinen Appetit auf die Sandwichs, die Ruth ihm mitgegeben hatte.
Obwohl Schneider gar nicht weit von seinem eigenen Heim entfernt wohnte, war die Gegend doch völlig verschieden.
Er hatte nicht gewusst, dass sein Kollege so arm dran war. „Das kleine Fernsehspiel“, das als Protagonisten Alkoholiker und deren Kinder hatte, spielte in solchen Hochhäusern.
So redete Erbecher sich ein, es handele sich um Filmkulissen, als er die abgegriffene Haustür öffnete, die zu dem trostlosen Treppenflur führte. Er schlich die Treppe hinauf, und als sich eine Wohnungstür öffnete und ein grauer alter Mann ihn anstarrte, beschleunigte er seine Schritte.
Schneiders Wohnung lag im sechsten, noch bevor er oben ankam, war Erbecher voll des Mitleids für ihn. Er hatte zwar gewusst, dass er in Scheidung lebte. Doch offensichtlich hatte es ihn richtig hart getroffen.
Nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, wischte er sich die Finger an der Hose ab. Er tat das unbewusst, während er wartete. Es rührte sich nichts.
Irgendetwas raschelte im Dunkel des Flures, doch hinter Schneiders Tür schien alles ruhig. Er klingelte noch einmal und jetzt merkte er, dass er sich ekelte.
„Schneider, Sie sind zu Hause.“
Ein hauchzartes Geräusch auf der anderen Seite der Tür und dazu eine Stimme in seinem Kopf. Er registrierte, dass sie nichts anderes tat, als zu heulen und zu stöhnen, und er blendete sie aus. Das war ihm in den letzten Tagen so gut gelungen, dass er sich jetzt ganz auf das hinter der Tür konzentrieren konnte.
Er beugte sich vor, bis er direkt an dem schmutzigen Holz lehnte, dann flüsterte er: „Ich kann Sie hören, Schneider. Machen Sie auf!“
Es folgte Stille, keine Bewegung auf der anderen Seite. Dann schwang leise die Tür nach innen.
Schneider kam zum Vorschein, mit einem schmuddligen Bademantel bekleidet, das Gesicht aschgelb, mit dunklen, schreckgeweiteten Augen darin. Er hatte Angst.
Vor ihm, stellte Erbecher fest, und er fand es beinahe normal.
Schneider wich zurück, als er ihn sah. Blind griff er mit den Händen nach hinten und tapste so vor Erbecher davon ins Innere seiner Wohnung.
„Ich muss Sie sprechen“, sagte Erbecher und folgte ihm.
„Nein, lassen Sie mich!“
Die Wohnung war in etwa demselben Zustand, den ihr Besitzer bot. Abfall in allen Ecken, die Staubschicht auf den Möbeln war schmierig und dick. Und über allem lag ein süßlicher, surrender Gestank. Als er an der Küche vorüber kam, sah er mit einem flüchtigen Blick das verkrustete Plastikgeschirr, Tüten, Küchenabfälle, in denen sich das Ungeziefer wohlfühlen mochte.
Schneider saß im letzten Raum, im Bad, in dem es ebenso erbärmlich stank. Er kauerte hinter der Wanne in einer schmalen Ecke und starrte Erbecher an.
Als er ihn ansprach, nahm Ludwig Erbecher aus den Augenwinkeln wahr, dass sich in der Wanne etwas Dunkles befand und für einen Moment bewunderte er Schneider dafür, dass er sich inmitten all dieses Chaos’ hier soweit in der Gewalt gehabt hatte, wenigstens nicht auf den Boden zu scheißen.
„Ich muss Sie sprechen, Schneider“, sagte er noch einmal und schlug einen beruhigenden Ton an. „Es geht um den Abend der Betriebsfeier.“
Bei den letzten Worten brach Schneider in Heulen aus, zog sich noch mehr zurück und das Gekreisch in Ludwigs Kopf schwoll wieder an.
„Ist gut, ich tu Ihnen nichts!“
Er war schwer zu beruhigen, irgendwann saß er leise wimmernd und von Rotz verschmiert in seiner Ecke.
„Was ist an dem Abend passiert?“, fragte Ludwig behutsam, stets einen Anfall Schneiders erwartend.
Der sah ihn mit glasigen Augen an und sprach noch immer kein Wort. Ludwig drehte sich um und durchsuchte die Wohnung.
Es war keine menschliche Behausung mehr, es war ein Stall. Hatte Schneider sich in einer ersten Phase noch in die Wanne entleert, so hatte er wohl nach und nach diese Last aufgegeben und in allen Räumen seine Spuren hinterlassen.
Ludwig stand am Küchenfenster und versuchte durch die Schlieren hindurch etwas zu erkennen, als er leisen Atem hinter sich spürte. Er drehte sich um, Schneider stand hinter ihm und in seinen Augen glomm Bewusstsein.
„Sie dürften nicht hier sein“, sprach er schleppend und mit müder Stimme. „Sie sind tot.“
„Was? Was haben Sie gesehen an dem Abend?“
Schneider fuchtelte hilflos herum. Kurz ruderte er mit seinen Armen, dann stürzte er haltlos zu Boden, wobei er Geschirr und Abfälle mit sich riss. Unten liegend wischte er sich irgendeine Brühe aus dem Gesicht, stöhnte leise und sagte dann: „Ihre Frau …“
„Wie?“ Ludwig beugte sich hinab. „Was haben Sie gesagt?“
Schneider richtete sich auf und achtete nicht auf die Reste des letzten verlorenen Geschirrs, das abschließend hinabstürzte. „Ihre Frau …Ihre Frau …“
„Was denn?“ Er gab sich Mühe, nicht zu grob zu klingen. „Was ist mit meiner Frau?“
Schneider stand auf. Ludwig half ihm dabei, während er darauf achtete, sich nicht zu beschmieren. Schneider blieb unsicher stehen, starrte Ludwig an, dann schwankte er auf das Küchenfenster zu. Er öffnete es ungeschickt und sog tief die Luft ein.
„Was ist mit meiner Frau?“, fragte Ludwig noch einmal, dann stürzte Schneider sich aus dem Fenster.
Er sah ihn unten, sechs Stockwerke in der Tiefe auf dem Bürgersteig liegen. Die widernatürliche, verdrehte Haltung, Schneider musste tot sein. Trotzdem hatte er noch immer seine Stimme im Kopf, wie sie heulte und jaulte.
Als er geflohen und dabei an der Menschentraube, die sich um Schneider gebildet hatte, vorübergehastet war, konnte er noch immer dessen Stimme in seinem Kopf schreien hören. Sie war die lauteste von allen.
Während des gesamten Rückweges ins Büro kam ihm in den Sinn, wie lange es wohl dauerte, bis die Gedanken einer Leiche vollständig verstummt wären.
An Arbeit war nicht zu denken, er saß den Rest des Tages an seinem Schreibtisch ab und sah Schneider vor sich, wie er, als ginge er in den Keller zum Bierholen, aus seinem Fenster gestürzt war.
Die Meinung seiner Kollegen interessierte ihn nicht. Es waren sowieso alles dieselben.
Ruth am Abend zu Hause sah wächsern aus, war sie etwa krank?
Er sagte nichts zu ihr, sie aßen Abendbrot und unter ihren Augenbrauenrunzeln goss er sich wieder ein Glas Cognac ein.
„Es geht mir gut“, sagte sie irgendwann im Laufe des Abends ohne Anlass. Dabei lächelte sie und Ludwig graute es, er fragte sich zum ersten Mal, ob er wurde, was sie bereits war.
Kurz erwog er zu fragen, was am Abend der Betriebsfeier geschehen war, doch er wagte es nicht, trank stattdessen seinen Drink aus und ging ins Bett.
Er schlief nicht und hatte auch nicht die Absicht. Er wartete bis Ruth sich hingelegt hatte und mit ihren regelmäßigen Atemzügen zeigte, dass sie eingeschlafen war.
Dann stand er leise auf und zog sich an. Mit katzenhafter Sanftheit – er war über sich selbst erstaunt – warf er sich eine Jacke über und verließ unhörbar die Wohnung.
Er zitterte vor Erregung, als er sich in die Nacht aufmachte.
Als er gegen vier zurückkehrte, die Wohnungstür sanft schloss und sich umwandte, roch er, dass etwas nicht stimmte. Er wusste nicht sofort, was es war. Er befand sich auf der Höhe des Wohnzimmers, da spürte er Ruths Präsenz darin. Die Tür war nur angelehnt, also stieß er sie auf.
Es war dunkel, doch wusste er, dass sie drinnen saß und auf ihn wartete.
Er knipste die Lampe an, Ruth war nirgends zu sehen. Er war verwirrt und zugleich erleichtert. Erschöpft ließ er sich auf das Sofa fallen.
„Du willst Spielchen spielen?“, hörte er Ruth in seinem Kopf sagen. Kurz danach erschien sie in der Tür. Und lächelte schon wieder.
Er starrte sie an, als sie hereinschwebte und in dem Sessel ihm gegenüber Platz nahm. Sie schaute ihn lange an, aber der Ausdruck in ihren Augen war ein anderer geworden.
„Du fragst dich, was mit dir los ist?“, fragte sie leise, wobei sie ihr Lächeln nicht ablegte. „Du weißt nicht, was mit dir geschieht.“
Er fühlte sich plötzlich einsam. Er hatte den Eindruck, das Gerüst seines bisherigen Lebens schmolz.
„Weißt du es denn“, fragte er sie, aber es klang trotzig und nicht wie eine Frage.
„Ich habe dich gemacht“, erwiderte sie und ihm wurde plötzlich bewusst, wie sehr er sie hasste.
„Lass mich in Ruhe!“ Er stand auf und verließ das Zimmer. Er wollte sich ins Bett legen, doch er sah, dass sie schlief, als wäre sie nicht wach gewesen.
Am Morgen war kein Wort von der nächtlichen Unterhaltung die Rede und Ludwig begann zu glauben, er hätte sie geträumt. Sie frühstückten gemeinsam und Ruth war eigenartig ruhig, beinahe nachdenklich.
Sie lächelte schwach, als er sich verabschiedete, und wieder liefen ihm Schauer über den Rücken.
Er ging nicht zur Arbeit. Auf halbem Wege machter er kehrt und lief auf Umwegen zu Schneiders Wohnung. Vielleicht weil er sie mit dem Tod seines Arbeitskollegen verband, hatte die Gegend den Schrecken für ihn verloren. Es überraschte ihn, dass er sich gerade hier – bei den Verlorenen und Unbesorgten – heimisch fühlte.
Und mit dem Heimischfühlen ging bei ihm das Gefühl der Distanz zu seiner Frau Ruth einher. Er kam sich vor wie ein Baum, den jemand herausgerissen und in völlig fremder Erde eingepflanzt hatte. Entwurzelt, allein.
Er war sich nicht klar darüber, was er hier suchte, noch nicht einmal, ob er überhaupt etwas suchte.
Als er abends wieder heimkehrte, als sei nichts geschehen, war er den ganzen Tag ziellos umhergelaufen, hatte kaum Rast gemacht und wenn, dann hatte er erschrocken festgestellt, dass er Menschen beobachtete, ihrem Tun mit Blicken folgte. Jedes Mal hatte er sich dann hastig weg gewandt und war davongegangen.
„Ich habe nur einen leichten Salat zum Abendessen gemacht“, sagte Ruth, als er seinen Mantel aufhängte. „Ich hoffe, das ist dir recht.“
Er hatte keinen Appetit, doch das sagte er nicht, weil er nicht wollte, dass das Bild gestört wurde.
Der Salat schmeckte wirklich nicht, er schien ihm pappig und fad, aber es kam ihm vor, als wenn auch Ruth ihm etwas vorspielte. Waren sie beide nur Wesen aus Mimikry und Masken?
Genau als er diesen Gedanken dachte, legte Ruth die Gabel beiseite und schaute ihn an.
„Der Prozess ist komplizierter als ich dachte“, sagte sie leise und die einzelnen Worte schienen von den Wänden zurückzuprallen. Mitten in der Kaubewegung hielt er inne und starrte sie an.
„Du bist unterwegs“, fuhr sie fort. „Nachts. Ich habe es mitbekommen.“
Wie hatte er so naiv sein können, anzunehmen, das alles gestern Nacht wäre ein Traum gewesen?
„Was hast du getrieben in den Nächten?“
Er brauchte nicht lange zu überlegen, um zu einem Ergebnis zu kommen.
„Ich weiß es nicht“, sagte er ehrlich und er war genauso erstaunt darüber, sich darum noch keinen Deut geschert zu haben.
Ruth schien ihm zu glauben. Sie fragte: „Soll ich es dir sagen?“
Es war der Moment, in dem er am dichtesten davor war, ihr wieder zu vertrauen. Er spürte, dass er das wollte. Gleichzeitig gab es aber einen Teil in ihm, der sich dagegen wehrte, der ihm befahl, aufzuspringen, hinauszurennen und durch die Nacht zu tollen.
„Genau“, sagte sie lächelnd. „So kann man es ausdrücken.“
Selbst körperlich schien er vor ihr zurückzuschrecken. Er war kein bisschen fähig, in ihre Gedanken einzudringen, doch für sie schien das nicht zu gelten. Sie nickte und er zog sich noch mehr zurück.
Hastig stand er auf und verließ das Zimmer. Wie weit musste er laufen, damit sie ihn nicht mehr hören konnte?
Wenn ich will, kann ich dich überall wahrnehmen, tönte es in seinem Kopf. Ohne Umschweife stürzte er aus der Wohnung, lief hinaus auf die Straße und vergaß, seine Jacke mitzunehmen. Es störte ihn nicht sonderlich, ihm war nicht kalt und er hatte andere Sorgen.
Er rannte durch die Straßen und erst, als er vor dem Bahnhof stand, wusste er, dass er ein Ziel gehabt hatte. Er kaufte eine Fahrkarte für den nächsten Zug, der abging, bestieg ihn und ließ sich in einen Sitz fallen.
Er war sich der neugierigen Blicke seiner Mitreisenden bewusst, immerhin hatte er kein Gepäck, nicht einmal eine Jacke. Er ignorierte sie.
Auf irgendeine Art gelang es ihm, das Interesse der Passagiere umzulenken, so dass sie ihn nicht mehr beachteten. Wie er das schaffte, womit er das tat, wusste er nicht.
Kurz vor der Endstation des Zuges war er allein im Abteil, es war bald Mitternacht und er hatte Hunger.
Als er den Zug verließ, wehte ein eisiger Wind, der Bahnhof war menschenleer, nur der Schaffner ging an ihm vorbei mit einem verhuschten Lächeln. Ihm kam ein Gedicht von Charlotte Mew in den Sinn. Wie hieß es da noch?
Wohin soll ich sonst gehn? Ich sah den Ort
Vom Fenster jenes Zuges, der vorüber fährt
Vorm Himmel. Regen treibt mir ins Gesicht –
Als ich zuletzt hier war, hat es geregnet.
Ängstlich lauschte er in seinen Kopf hinein. Die Stimme des Schaffners, die leise irgendwelche Mantras wiederholte. Dazu, kaum wahrnehmbar, vereinzelt andere Stimmen, ein Kind. Doch von Ruths Stimme war nichts zu hören. Niemand, der ihm verständnisvoll erklären wollte, was mit ihm vor sich ging.
Was hatte er getan in den Nächten, als er unterwegs gewesen war? Er wusste es wirklich nicht mehr. In seinen Erinnerungen waberte ein Brei aus verschiedenen Bildern. Meistens dunkle Straßen, durch die er gehastet war, kaum beleuchtete Räume, Menschen.
Du hast gejagt, sagte Ruth in seinem Kopf und Ludwig Erbecher stöhnte auf.
Du hast gejagt, wie ein wildes Tier, fuhr Ruth ungerührt fort. Und du hast getötet.
Er stöhnte noch einmal, dieses Mal unter der Last der Erkenntnis. Er begann zu weinen, hielt sich die Hände vors Gesicht, doch Ruth ließ Bilder in seinem Kopf entstehen, die ihn noch mehr entsetzten.
„Hör auf“, sagte er.
Komm zurück, antwortete sie.
„Aber warum?“ Er war jetzt nicht besser als Schneider in seinem Rotz. „Was willst du von mir?“
Zusammen, tönte es in seinem Kopf. Wir wollen zusammen jagen.
So saß Erbecher in eiseskalter Nacht auf einer zugigen Bahnstation in der kalten Wartehalle und sprach mit sich selbst.
Der Schaffner des Zuges, der seine Arbeiten beendet hatte, ging misstrauisch an ihm vorbei und sprach den leicht bekleideten, verwirrten Herrn an: „Alles in Ordnung?“
Erbecher nickte abweisend und als der Eisenbahner sich abwandte, um nach Hause zu gehen, sah er, dass er eingepisst hatte.
Der Mann ging davon und Erbecher war allein.
Knapp vier Wochen waren vergangen, als Erbecher zurückkehrte. Er hatte sich nicht nur auf der subatomaren Ebene verändert, auch äußerlich schien er nicht mehr derselbe zu sein.
Seine Haltung hatte sich gestrafft, er ging aufrecht, den Kopf gerade. Seine Bewegungen waren geprägt von Zielstrebigkeit und Anspruch. Und schließlich drückte die streng schwarz gehaltene Kleidung und die Sonnenbrille, die er nie abzunehmen schien, seine Verwandlung aus.
Wenn er welche gehabt hätte, wären selbst nächste Verwandte nicht darauf gekommen, mit wem sie es zu tun hätten. Und auch Ruth hätte sich täuschen lassen, wenn sie nicht schon Stunden vorher über das Kommen ihres Mannes informiert gewesen wäre.
Ich erwarte dich, schickte sie ihm entgegen und er antwortete nicht, sondern verschloss sich. Er betrat die gemeinsame Wohnung wachsam wie ein Fuchs. Doch Ruth saß arglos im Wohnzimmer und lächelte ihn an, als sei er zum Feierabend nach Hause gekommen.
„Du bist zurückgekehrt“, sagte Ruth zu ihm. Der Kopf war abgewandt, als unterhielte sie sich mit jemand anderem. Ludwig fiel auf, wie weiß und rein ihre Haut war. Der Hals schlank und von Falten keine Spur.
„Du weißt, weshalb ich gekommen bin“, erwiderte er. Sie waren zwei Felsen in dem ruhigen, dunklen Haus. Die Stille war wie ein Meer, uralt und immer beständig.
„Ich mache uns etwas zu trinken“, sagte Ruth plötzlich, stand auf und verließ das Wohnzimmer. Ludwig spürte, wie ein Teil von ihr ging. Ein anderer war noch immer bei ihm. War in seinem Kopf und suchte dort nach Informationen.
Unwirsch griff er sich in seinen Schädel und wischte sie daraus fort. Lass das, schickte er ihr hinterher.
Es befriedigte ihn, Ruths Entsetzen darüber zu spüren, wie schnell er zu solchen Kräften gekommen war. Und wiederum dieses Gefühl ließ er sie wissen, seine Macht wuchs und er war fasziniert davon.
„Ich hatte gemeint, wir gingen zusammen“, sagte Ruth, als sie das Zimmer mit zwei Gläsern in den Händen betrat. „Wir beide.“
Er sah ihr zu, wie sie vorsichtig die Drinks auf den Glastisch vor ihm stellte. Der Inhalt war tiefrot und zähflüssig.
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Wir gehen zusammen, wohin du willst.“
Sie tranken gemeinsam, dabei blickte Ruth ihn über den Rand des Glases ununterbrochen an.
„Das ist gut“, sagte er und leckte sich verstohlen über die Lippen. „Wo hast du das her?“
Um die Nahrungssuche würde er sich noch intensiver kümmern müssen.
„Ich habe eine Quelle, gleich in der Nachbarschaft“, antwortete sie in einem Ton, als erzähle sie ihren Wohltätigkeitsschwestern, wo der Lachs wieder mal besonders frisch wäre.
Nachdem er sein Glas bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken hatte, stand Ludwig auf und ging wichtig im Wohnzimmer umher. Dabei bemerkte er mit Genugtuung, wie Ruth in ihrem Kopf jedes Mal erstarrte, wenn er in ihre Nähe kam.
„Wie bist du geworden, was du bist?“, fragte er. Ein Rauschen in seinem Kopf ließ ihn innehalten. Als es abgeklungen war, setzte er hinzu: „Durch wen?“
Ruth lachte auf. Erst in seinem Kopf, dann außerhalb.
„Du hast es nicht bemerkt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Es ist ein halbes Jahr her, vielleicht. Wir waren zu Besuch bei meiner Schwester. Erinnerst du dich?“
„Kommt es von deiner Schwester?“
„Nein. Es war…ihr Mann. Heinrich.“
Es war keine wirkliche Neuigkeit für ihn. Er hatte es geahnt, der neue Teil von ihm hatte es gewusst.
Ein halbes Jahr. Er wagte sich nicht auszumalen, über welche Kräfte er in fünf Monaten verfügen würde. Eigentlich hätte er es immer wissen müssen, Ruth war einfach jämmerlich.
Ein scharfer Schmerz durchzog seine Stirn und er hörte die Worte: Was bildest du dir ein?
Zu den fest gemauerten Fakten seines Daseins gehörte, dass er eben nicht in der Lage war, durch seine mentalen Fähigkeiten Einfluss auf die körperliche Ebene zu nehmen. Er wünschte es sich zwar sehnlichst, aber es geschah eben nicht, dass ihm gegenüber Ruths Kopf explodierte. Vielleicht vorher die Augen, ganz sicher zuerst der Mund. Weg, die Blutbahnen geplatzt, mit enormem Druck das Gehirn durch die Schädeldecke gesprengt.
Es war ihm möglich, Gedanken zu lesen und zu senden. Und er war auf dieses rote Gesöff angewiesen. Darüber hinaus trennte ihn nicht viel von seinen Mitmenschen. Noch nicht. Wie gesagt, in einem halben Jahr vielleicht.
Du willst mich also töten, klingelte es in seinem Hirn. Ruth lächelte ihn an.
Er lächelte zurück. Ich werde dich töten. Ich werde mich von dir befreien.
Sie lachte auf und gleichzeitig: Ohne mich wärst du ein Wurm!
Falsch, sendete er ihr. Wenn es dich nicht gäbe, wäre ich kein Wurm.
Sie lächelte noch immer, aber er hatte den Eindruck, als sei es ein wenig verrutscht.
Er stand auf und ging in die Küche. Plötzlich packte ihn die pure Mordlust. Er unterdrückte seine Gedanken, schottete sich ab, so gut es ihm gelang. Die Mauer war meterdick, als er die Besteckschublade aufzog und das größte Messer griff, das er fand.
Was hast du vor?
Hast du noch etwas von dem köstlichen Saft?
Er presste sich ganz nah an die Küchentür und lauschte, darauf bedacht, keine Lücke in seiner Verteidigungslinie zu lassen. Er begann zu schwitzen und ahnte, dass er so einfach, wie er sich gedacht hatte, an Ruth nicht vorüber kommen würde.
Er atmete leiser, hielt seinen Kopf schief, um irgendetwas davon mitzubekommen, was Ruth dachte. Es war still wie in einer leeren Kirche.
Ludwig sah um die Ecke, ganz langsam, immer darauf gefasst, sich etwas bewegen zu sehen.
„Ich würde gern noch etwas trinken“, sagte er und fast ohne Übergang kam die Antwort aus seinem Rücken.
„Dann hol es dir!“
Ruth kam mit einem Schrei auf ihn zugestürzt. Sie hielt ein Messer auf ihn gerichtet und mit dem Blick einer Irren kam sie rasend näher.
Er hob zur Abwehr sein Messer und erwartete so ihre Attacke. Kurz kniff er die Augen zu und als er sie wieder öffnete, war seine Frau verschwunden. Die Küche war leer, wie vordem.
Im Kühlschrank steht noch etwas, hörte er in seinem Kopf.
Er ließ die angehaltene Luft ausströmen und lehnte sich gegen den Türrahmen. Für einen Augenblick fiel er in alte Strukturen zurück, wollte Ruth um Verzeihung bitten, sich ihr unterordnen und ohne eigenen Blick auf die Welt weiterleben.
Doch welche Kraft, welche inneren Verbindungen auch dafür verantwortlich waren, dieser Moment war nur kurz. Im nächsten straffte sich sein Körper wieder, der Wall, den er eben hatte niedersinken lassen, wurde mannhaft aufgerichtet und der Blick in seinen Augen erfasste aufs Neue das Ziel. Er schlich weiter und überlegte dabei, wie es Ruth hatte gelingen können, ihn derart zu überraschen.
Bevor er ins Wohnzimmer ging, verbarg er das Messer hinter seinem Rücken. Es war überflüssig, das wusste er, Ruth hatte das Zimmer längst verlassen.
Nervös drehte er sich um.
Lass mich in Ruhe, kam es ihm plötzlich in den Kopf. Lass mich in Ruhe und geh jetzt!
Ich kann nicht, Ruth, erwiderte er in den Äther hinein. Ich will dich auflösen. Vollständig.
So stand er nun auf dem Flur zwischen Wohnzimmer und Ausgang und lauschte wieder, hielt sogar den Mund offen, um nur irgendein Geräusch, verursacht von seiner Frau, aufschnappen zu können.
Und wie er so stumm, so reglos, beinahe totscheinend dastand, spürte er plötzlich, wie er sich ein neues Mal einnässte, wie das warme Nass sich in seiner Hose ausbreitete und sehr schnell erkaltete. Doch es scherte ihn nicht, er wusste, es war das letzte Mal.
Er hörte Ruths Lachen, wie es lauter wurde und hämischer. Und je lauter es wurde, desto deutlicher wurde ihre Gestalt, direkt vor ihm. Sie hatte sich seinen Blicken entzogen, und nun, in diesem Moment, löste sie ihren mentalen Griff und er konnte sie sehen.
Du denkst, du bist so mächtig, lachte sie innerhalb und außerhalb seines Gehirns. Dabei bist du erbärmlicher als ein kleines Kind. Du pisst immer noch ein? Er machte eine Bewegung, doch bevor er das Messer hinter seinem Rücken hervorholen konnte, hatte sie schon eine Abwehrbewegung gemacht. Wag es ja nicht!
Sie wusste, dass sie mächtiger war als er, und er sah ein, dass er einen Fehler gemacht hatte, jetzt schon hierher zu kommen. Er begann sich zu ärgern, doch sofort verbannte er dieses Gefühl.
Plötzlich ein Geräusch an der Haustür. Zaghaft wurde die Klinke gedrückt und die Türe geöffnet.
Ruth sah sich um, als ein junges Ding den Kopf hereinstreckte.
„Bist du endlich soweit?“, nölte die Frau.
Ludwig nutzte die Unachtsamkeit seiner Frau und stach zu. Er traf sie direkt am Halsansatz und das Blut, das sofort austrat, hatte die unnatürliche Blässe ihrer Art.
Mit einem fragenden Ausdruck in den sterbenden Augen sank sie quälend langsam nach unten. Sie versuchte sich zu halten und riss eine Vase von der Kommode, wie einst Schneider das Geschirr. Endlich lag sie am Boden, einmal noch versuchte sie sich aufzurichten, doch sackte sie schließlich vollends zusammen und blieb reglos auf der Erde liegen.
Ludwig, ungerührt, vielleicht ein bisschen stolz, stieg über die Leiche seiner Frau hinweg und nahm das junge Mädchen bei der Hand.
„Komm“, sagte er so, dass sie es gleichzeitig über die Ohren als auch über die Synapsen vernahm.
Bevor sie hinausgingen in die Nacht, löschte er das Licht auf dem Flur und schloss, ohne einen Blick zurück, die Tür.
Ruth, mit einem kalten, finalen Lächeln, lag allein in ihrer dunklen Wohnung.