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- Anmerkungen zum Text
Triggerwarnung: In den Erinnerungen wird über sexuellen Missbrauch beschrieben.
Diese Geschichte beruht (sehr frei aber realistisch) auf tatsächlichen Traumatherapien, die mit Hypnose / Trance und dem "inneren sicheren Ort" durchgeführt wurden.
Dazu braucht es nicht unbedingt vier Wächter. Hier habe ich mich von der archaischen Idee des Lebensrades inspirieren lassen.
Der Süden steht für Jugend und Kraft.
Der Westen steht für Erwachsen sein, Klarheit und Gerechtigkeit.
Der Norden steht für das Alter und die Weisheit.
Der Osten steht für Tod und (Neu-) Geburt.
(Sehr kurz und subjektiv zusammen gefasst.)
Innenwelt
Martina lächelte. Die Wasseroberfläche sah aus wie ein Weizenfeld im Sturm. Ein Feld voll grün leuchtender Ähren. Der Wind modellierte wilde Bewegung in das Wasser, trieb die Wellen vor sich her und die Abendsonne verwandelte all das in pure Schönheit. Noch nie hatte sie das Meer von so weit unten betrachtet. Die Strömung wiegte sie sanft hin und her, die Zeit spielte keine Rolle. Alles war still, friedlich.
Erst bei Sonnenuntergang, als nur noch die letzten Wellenkämme leuchteten und sich das Grün in feuriges Rot verwandelt hatte, holte sie tief Luft. Mit ihren Gedanken erschuf sie eine kleine, weiße Lichtkugel über ihrer Handfläche. Dann stieß sie sich vom Sandboden ab und ließ sich von dem Licht kraftvoll nach oben ziehen. Immer noch war es völlig still, während sie durch das Wasser nach oben stieg. Erst langsam, dann immer schneller, bis sie mit einem Jubelschrei durch die Wasseroberfläche brach. Unzählige Wassertropfen wurden nach oben gerissen, funkelten im letzten Licht der untergehenden Sonne, begleiteten sie für einen kurzen Augenblick und blieben dann zurück, während sie selbst immer schneller wurde.
Der warme Wind wurde stärker, trocknete sie ab und verwirbelte beinahe zärtlich ihre langen Haare. Wieder sprudelte dieses helle Jubeln aus ihr heraus und das Licht in ihrer Hand zog sie höher in den dunkler werdenden Himmel. Weit unter ihr wurde das Meer blauer und schattiger, während die große Insel noch in der Sonne lag. Die Schneefelder des Mauna Kea leuchteten in hellem Rot, erinnerten sie an glückliche Wanderungen mit ihren Eltern im Alpenglühen. Damals, vor so langer Zeit.
Martina löschte das Licht in ihrer Hand und begann zu fallen. Erst langsam, dann immer schneller. Sie breitete die Arme aus. Die Luft strömte warm durch ihre Finger, brach sich an den Handflächen und sie lachte aus vollem Herzen. Wie früher, wenn sie von der Schaukel gesprungen war; immer genau am höchsten Punkt. Das Kitzeln im Bauch war beinahe das gleiche. Nur stärker. Es breitete sich in ihr aus, während aus ihren Armen kräftige, weiß leuchtende Flügel mit langen Federn wuchsen. Sie spürte jede einzelne davon, bewegte sie probehalber, bevor sie beide Flügel eng an den Körper legte und sich zur Insel hinunterfallen ließ. Immer schneller fiel sie, bis ihr der Wind Tränen in die Augen blies. Kurz vor dem Strand breitete sie die Flügel aus und genoss die Spannung in den Muskeln, während sie den Fall umlenkte in ein schnelles Gleiten. Sie genoss ihren Körper, endlich ohne Schmerzen, ohne Angst. Kraftvoll und frei.
Der Waldrand türmte sich vor ihr auf, wie eine grüne Welle. Mit zwei kräftigen Flügelschlägen war sie über den Bäumen und glitt auf den Wasserfall zu. Sie bremste kaum und schoss durch das fallende Wasser. Es war kalt auf ihrer Haut und sie schüttelte ihr Gefieder, bevor sie landete. Wieder lächelte sie. Ihr Atem war noch aufgewühlt, die Haut warm. Das Wasser hatte sie nicht wirklich abkühlen können. Langsam kam sie wieder zur Ruhe, während die Flügel an ihren Armen verblassten. Jetzt war sie wieder ganz Mensch, ganz Martina.
Schritt für Schritt ging sie durch das Wasser und sah sich um. Jeder Quadratmeter der Höhle war ihr vertraut. Sie selbst hatte sie erschaffen, mit ihren Gedanken. Hatte alles immer wieder angepasst, bis es genau richtig war. Damals war das noch unsicher tastend, geschehen. Nicht so selbstverständlich, wie vorhin das Licht in ihrer Hand.
Sie ging über den kleinen Strand hinter dem Wasserfall und spürte an den Fußsohlen wie er wärmer wurde, je weiter sie sich vom Wasserfall entfernte. Die hohen Basaltwände, durchzogen von sanft leuchtenden Adern aus Bergkristall, verbreiteten ein weiches Licht und sie ging langsam auf das Lagerfeuer zu. Sie liebte das Knistern und den Geruch von Rauch, der langsam nach oben zog, hin zur Öffnung des Kraters, wo die ersten Sterne sichtbar wurden.
Um das Feuer – in gebührendem Abstand – standen die steinernen Wächter. Wie immer ging sie zuerst zu Māui. Der Halbgott und Trickster war Gesandter des Südens und der Inseln. Er war es, der ihr die Kraft gegeben hatte, wieder aufzustehen, damals.
An meinen Beinen läuft Blut nach unten.
Auf seine freche, kriegerische Art, immer mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen hatte Māui sie aus dem Albtraum heraus geholt. Jetzt kniete er, ein Bein im Sand, und hielt in der rechten Hand den großen mystischen Fischhaken, Geschenk der polynesischen Götter. Wie eine Mischung aus Harpune und Haken sah er aus, über und über mit Schnitzereien verziert. Selbst kniend war Māui noch doppelt so groß wie sie.
Sie zog sich hoch, setzte sich auf sein Knie und umarmte ihn, schmiegte sich an ihn wie ein Kind. Der Stein war warm an ihrer Haut und sie spürte wie die jugendliche Macht des Halbgottes sie kräftigte und aufrichtete. Und wie immer musste sie schmunzeln. Bei Māui konnte sie nie lange ernst bleiben. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und bedankte sie sich wortlos bei ihm, bevor sie die Umarmung löste und von seinem Knie glitt.
Als nächstes ging sie nach Westen. Hier stand – hoch aufgerichtet und stolz – Nemesis. Tochter der Nacht, griechische Göttin des Ausgleichs und der Gerechtigkeit, Gesandte des Abendlandes. Jetzt war ihr Gesichtsausdruck milde, beinahe liebevoll. Das Schwert in ihrer Hand stand mit der Spitze nach unten auf dem Boden. Aber Martina erinnerte sich noch gut an den Tag des Abwägens, als Nemesis gerichtet hatte. Über den Onkel, der sie so viele Jahre missbraucht hatte. Die körperlichen und seelischen Schmerzen waren ihr unerträglich und endlos erschienen. Gerichtet auch über die Mutter, die weggeschaut hatte, die sie nicht geschützt hatte. Zuerst war sie zurückgeschreckt. Der Gedanke, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, hatte sie zutiefst entsetzt. Aber dann hatte sie Nemesis‘ Schwert aufgenommen.
Niemand hat mir geglaubt – bis jetzt.
Selbst jetzt war sie noch erstaunt, über die Wut und Kraft, die in ihr entstanden war, als sie die Strafe vollstreckt hatte: Kühle, konsequente Gerechtigkeit. Danach war endlich Ruhe eingekehrt. Eine anhaltende, beständige Ruhe und gerade deshalb so wertvoll. In der Begegnung mit Nemesis gab es keine Umarmung. Martina bedankte sich bei ihr, indem sie auf ein Knie sank und für einen Moment den Kopf senkte. Dann stand sie auf und wandte sich nach rechts.
Dort saß der weise König. Ganz ohne Namen war er der Gesandte des Nordens und des Alters. Er saß auf einem schlichten Thron, die schönen Hände in den Schoß gelegt. Der lange Bart und die hohe Krone unterstrichen die ruhige Autorität in seinem Gesicht. „Gnade ist milde gewordene Kraft.“ Diesen Satz hatte sie irgendwann einmal gehört und der weise König verkörperte diesen Satz auf so vielen Ebenen. Er hatte ihr die Freiheit gezeigt, die aus der Vergebung entsteht. Dazu hatte sie sich von falschen Vorstellungen lösen müssen.
Nicht dieses Mal.
Sie hatte erst nach und nach verstanden, dass Vergebung nicht bedeutet, den Täter zu entlasten, sondern sich selbst zu befreien. Dann hatte die Heilung begonnen. Martina setzte sich zu Füßen des Königs und spürte der Heilung noch einmal nach. Es fühlte sich warm an, leicht und unbeschwert.
Zum Schluss ging sie zu N‘tho. Göttin des Todes und der Wiedergeburt, die Gesandte des Ostens. N‘tho war die kleinste der vier Statuen, aber Martina war damals zutiefst verängstigt gewesen, ihr zu begegnen. Obwohl aus Stein geformt, wie die anderen drei Wächter, schien sie sich immer wieder zu verändern, so dass es fast unmöglich war, sie zu beschreiben. Manchmal erschien sie in der Form einer liebevollen Mutter, dann wieder fast gesichtslos und bedrohlich. Und doch war sie es, mit deren Hilfe die Heilung komplett wurde.
Es war ein Neuanfang mit der Kraft eines warmen Frühlings, symbolisiert durch die keimende Pflanze in N‘thos linker Hand. Martina legte ihre Hände um diese offene Hand und spürte dem langsamen Herzschlag des Lebens selbst. Erst in der Hand, dann tiefer und kräftiger, bis sie ganz davon erfüllt war. Alles war gut.
Noch einmal sah sie sich in der Höhle um. Der Wasserfall, der kleine Strand, die Nischen in der Höhlenwand, der Blick zu den Sternen. Sie würde wiederkommen. Das hier war ihre Innenwelt, hier war sie sicher. Sie schloss die Augen, nahm die Geräusche der Höhle wahr, spürte die Präsenz der Wächter, roch Feuer, Sand und Stein, spürte die warme Tropennacht auf der Haut, bevor all das langsam verblasste. Von weit her hörte sie die leise Stimme von Dr. Jung. „... in ihrem ganz eigenen Tempo zurückkommen, in die Außenwelt ... und sind spätestens beim Öffnen der Augen wieder ganz wach und orientiert.“
Sie öffnete die Augen. Die letzte von vielen Therapiesitzungen war vorbei. Eigentlich war keine Sitzung mehr notwendig gewesen. Das hier war ein Geschenk. Frieda Jung hatte es vorgeschlagen. „Eine Innenwelt-Reise nur aus Freude, nur zum Genießen“, hatte sie gesagt. „Wenn Ihr heilender Ort schon wie eine tropische Insel aussieht, dann ist ein Tag Urlaub doch ein perfekter Abschluss, oder?“ Sie hatte Recht behalten.
Martina lächelte, als sie durch die Tür ging.
- Quellenangaben
- Der Satz "Frieden heißt: es darf gewesen sein; Abschied heißt: es war." stammt vom durchaus umstrittenen Theologen und Familienaufsteller Bert Hellinger, der unzweifelhaft die Fähigkeit hatte, therapeutische Themen sprachlich zu verdichten.
Woher das andere Zitat stammt, weiß ich leider selbst nicht mehr.