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Innergeddon
Er hatte schon immer davor gewarnt. Jahrzehntelang hatte er versucht in zahllosen Publikationen auf die Gefahr hinzuweisen. Namhafte Wissenschaftler hatten sich seinem Urteil angeschlossen und seit siebzehn Jahren existierte eine spezielle Vereinigung die gezielt Druck auf die Politik ausübte und die zum Teil sehr prominente Spender hatte. Als Publizist hatte er alle Register gezogen. Fernsehen, Zeitungen und Radio hatte er bemüht um sein Anliegen zu vermitteln. Doch das alles hatte noch nicht viel geholfen.
Die Interessen der Wirtschaft standen großangelegten Projekten dieser Art noch immer im Weg und die hochverschuldeten Technologiestaaten Erupias hatten andere Sorgen als kosmische Bedrohungen. Erst die jüngsten Entdeckungen von ehemaligen Einschlägen hatten auch in der breiten Öffentlichkeit für Aufregung gesorgt. Längst war damit eindeutig bewiesen, dass die runden Täler auf der Oberfläche durch Meteoriteneinschläge verursacht worden waren, die teilweise durch den schützenden Steinmantel durchgebrochen waren und ganze evolutionäre Zweige des Steins ausgerottet hatte.
Die Installation von Beobachtungsstationen hatte gezeigt, das ununterbrochen kleinere Meteoriten auf der Oberfläche einschlugen, jedoch keine größere Auswirkung auf das Steinklima oder die seismischen Aktivitäten hatten. Größere Brocken schlugen nur in Abständen von durchschnittlich ca. 600 000 Jahren ein, doch selbst die Tatsache, dass der letzte größere Einschlag schon viel länger her war, ließ das Thema, eine orbitale Abwehreinrichtung gegen Asteroiden einzurichten, nicht in den Wahlkampf einziehen.
Der Aufschrei der Bevölkerung schließlich verhallte ungehört, zu kurz war das Gedächtnis der Massen. Der Tod eines prominenten Medienstars hatte die Schlagzeilen von den Kraterfunden genauso von der Titelseite und aus den Abendnachrichten verbannt wie die Meldungen von der dramatischen Flutkatastrophe in Neisa und Neidni. Und nun war alles zu spät. Die seit Jahrzehnten kriselnde Raumfahrt hatte es nicht geschafft, ihr anfänglichen Erfolge zu wiederholen. Wie so immer wurde das finanziell ertragreiche den wirklich wichtigen Dingen voran gestellt. Die Installation von Satelliten im Inneren Hohl war eben sehr viel ertragreicher als die Erforschung kahler Oberflächen und entweichender Wassersäulen in den Weltraum. Immerhin würde ohne diese Säulen aus Wasserdampf in dem Stein eine Eiszeit herrschen, denn die Innere Leuchte war nicht stark genug um die Eismassen alleine zu schmelzen. Nur die äußere Leuchte vermochte das. Das sie damit auch die Heimat der Henschen früher oder später zerstören würde, indem sie den Mantel Stück für Stück abtrug, interessierte auch niemanden.
Es war inzwischen auch völlig uninteressant geworden, es würde ohnehin kein Hensch mehr erleben. Silliw Ecrub blickte verträumt von seinem Büro hinab in die Straßenschlucht mitten im Herzen der Megastadt Tonber. Überall waren ineinanderverkeilte Autos zu sehen, Rauchwolken stiegen auf und Papier und Müll flog auf der Straße herum. Menschen eilten hin und her, plünderten die Läden, flohen voreinander oder hockten zusammengekauert mitten im chaotischen Durcheinander.
Die Tri Towers brannten, verrückte katofflische Fanatiker hatten das Feuer gelegt um damit ein Tor zum Inneren Himmel zu öffnen und den großen Katoff zu beschwören ihre Seelen zu retten. Bald würde der erste der Türme einstürzen. Bereits jetzt schien sich seine Silhouette leicht zu neigen. Doch seine beiden Brüder würden ihm bald folgen. Wenige Minuten blieben noch, bis der Stein wie die Henschen ihn kannten sein Gesicht für immer verändern würde. Nur einige prominente Reiche, die führenden Staatsorgane und einige Sicherheitskräfte würden den Stein von morgen sehen können, vorausgesetzt ihre untersteinischen Schutzbunker, die eigentlich aus dem eisigen Krieg stammten und eigentlich zum Schutz vor Atomraketen gebaut worden waren, würden den schweren Mantelbeben nach dem Impakt standhalten. Silliw hielt das für sehr unwahrscheinlich, wenn es ihn auch traurig stimmte, dass damit die Zeit der Henschen endgültig vorüber sein sollte. Vielleicht war das alles einfach nur eine Form der natürlichen Selektion. Die Henschen wurden aussortiert, da sie nicht stark genug waren für das Universum. In Tausenden Jahren, nach einer weiteren Eiszeit vielleicht, die das Loch wieder schloss, würde vielleicht eine neue intelligente Rasse aus dem Staub der Vergangenheit hervorkriechen und es besser machen. Vielleicht.
Er wandte sich um, ließ seinen Blick durch das kleine Büro schweifen. Auf seinem Computer tanzten chaotische Zahlenkolonnen. Der finale Angriff einer Handvoll Hacker hatte dem Internet den Rest gegeben und seiner Festplatte wohl auch. Auf dem Schreibtisch häuften sich Faxe und anderer Papierkram. Sinnlose Anfragen von völlig desorientierten, eilig einberufenen Sondergremien der Regierungen und des Steinrates. Sogar die hochgeheimen Aufnahmen des Asteroiden hatte man ihm zugeschickt, in der Hoffnung, seine Leute hätten eine Patentlösung in ihrer Westentasche. Sie hatten sie nicht gehabt.
Noch einmal sah Silliw auf das große, handgemalte Diagramm an der Wand. Kurz vor dem Aufprall hatte es so ausgesehen, als würde der Asteroid doch noch abgelenkt werden, doch er hatte sich nur geteilt, wohl bedingt durch Gravitationskräfte oder einfach nur durch Zufall und der größere Brocken würde den Stein nun verfehlen. Der kleinere Trümmerteil würde aber dennoch völlig ausreichen um die Henschen vom Intlitz des Steines zu tilgen. Mit 37.000 Kilometern in der Stunde würde er auf den Mantel treffen und dabei durch das neidnische Meer in das Innere Hohl durchbrechen. Neidni, noch immer mit dem Wiederaufbau beschäftigt, würde sofort verschwinden, danach Neisa. Erupia würde zuerst die seismischen Erschütterungen spüren, bevor die Gluthitze des zu Plasma geschmolzenen Meteors seine Oberfläche zu Glas schmelzen würde.
Die beinahe regelmäßige Form der Trümmerstücke, die aufgrund der schlechten Qualität der Außenteleskope (sie stammten noch aus den Anfängen der Außenforschung) nicht detaillierter abgebildet werden konnten, hatten Alienfanatiker auf den Plan gerufen, die von Invasion und Krieg schrieen. „Man beobachtet uns schon lange,“ hatten sie gerufen und Duzende angebliche Entführungsopfer vor die Kameras gezerrt. Doch wer, in Herrkatoffsnamen sollte dort draußen Interesse an einem kleinen, kartoffelförmigen Trümmerbrocken haben?
Wenn es auf den Kugelwelten tatsächlich Leben geben sollte, trotz der mit Sicherheit sehr instabilen Mäntel, dann wäre es mit Sicherheit nur primitiv, höchstens bakterieller Natur. Aber auch das war nun leidlich uninteressant geworden. Die Chance zu den Kugelwelten zu fliegen, hatte man nach der „Bohrwurm II“ Katastrophe verpasst. Zu sehr hatte man sich von dem Unglück abschrecken lassen, dass die Rakete nach dem durchbohren des Mantels ereilt hatte.
Habe ich mich intensiv genug bemüht? Habe ich wirklich alles getan, was in meiner Macht stand? Silliw war niemand, der sich all zu schnell Vorwürfe machte, sein Selbstbewusstsein war ausgeprägt genug um das zu verhindern. Doch nun, angesichts des absoluten Endes, schwankte auch diese Festung. Ja, es hätte Möglichkeiten gegeben. Vielleicht hätte er die privaten Raumfahrtprojekte gewinnen können, doch seine Vorbehalte gegenüber den exzentrischen Multimillionären, die diese Firmen betrieben, hatten ihn zurück gehalten. War vielleicht sein ureigener Idealismus, seine diesbezügliche Arroganz, schuld am Untergang des Steins?
Der Gedanke war Silliw unerträglich und dennoch, er musste gedacht werden. Nein, er war nicht sehr religiös, war bereits mit 18 aus der katofflischen Kirche ausgetreten, doch nun, zu diesem Zeitpunkt, schien sein Glaube wieder aufzuflammen. Vielleicht, so dachte er, sollte ich hinaus gehen zu den Tri Towers und mich dem Reigen der Gläubigen anschließen. Noch einmal schweifte sein Blick nach draußen. Der schöne, gräuliche Himmel täuschte über die bevorstehende Katastrophe hinweg. Der Stein wusste noch nicht was ihm bevorstand, die Henschen dagegen schon. Des Anblicks müde ließ sich der greise Mann in seinen nicht mehr allzu bequemen Ledersessel fallen. Alarmsirenen und die darauf noch lauter werdenden Schreie deuteten auf das baldige Ende hin. Ein fernes Donnern verkündete den Einsturz des ersten Tri Towers, doch Silliw erlebte die draußen vorbeisausende Staubwolke nicht mehr, die von den Trümmern des Turmes ausging. Seelenruhig und mit entspannter Miene war er entschlafen ...