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Inselgeschichte
Sie hatten das Zehn-Uhr Schiff gemeinsam genommen. Anders wäre es auch nicht gegangen. Kaum waren sie an Bord, hatten sie sich an einen Tisch gesetzt, und begonnen einander wichtige Dinge zu erzählen. Sebastian war schon etwas angegraut und von Leberkäse und Bier aufgebläht. Marie dagegen war jung, schlank, mit duftigem Haar und vor Aufregung glänzenden Augen.
Sebastian griff nervös nach Maries Hand. Er wollte unbedingt mit einem geliebten Menschen am Inselufer stehen und auf das Wasser schauen. „Noch einmal“, wie er mit seiner etwas schwermütigen Art vor sich hin murmelte. Doch als er aufsah und die Uferlinie überblickte, sah er nicht traurig aus sondern eher schlecht gelaunt. Marie nahm die Dinge etwas leichter und wollte vor allem einmal auf einer Insel übernachten, „das erste Mal“.
Schon bevor sie ans Hotel kamen, hatten sie beschlossen, am Nachmittag gemeinsam schwimmen zu gehen - an der Wiese hinter dem dicken Kirchturm mit der lustigen Mütze. Sebastian döste in der Sonne. Marie fütterte Enten, wollte den dicken Turm unbedingt aus der Wasserperspektive betrachten und eigentlich am liebsten im Wasser bleiben. Sebastian richtete sich schwerfällig ein wenig auf und schüttelte in Gedanken den Kopf. Es war so viel Trennendes zwischen ihnen. Hier das begeisterte „erste Mal“, das in jeder Bewegung sichtbar war. Und dort ein resigniertes, um sich selbst kreisendes „noch einmal“. Das klang schon fast wie „ein letztes Mal“. Er hatte dann noch einer jungen Mutter auf den Badeanzug geschaut, schnell aber das Interesse verloren und sich wieder Marie zugewandt; behutsam den Rücken mit Sonnenöl eingecremt und die nassen Haare aus dem Nacken gestrichen.
Als das Sonnenlicht sich abendlich golden färbte, hatten die beiden ihre Sachen gepackt und waren den Uferweg einfach immer weiter gelaufen. Und als sie wieder am dicken Turm ankamen, analysierten sie befriedigt ihr Experiment. „Es ist also…“, hob Sebastian mit erhobenem Zeigefinger an „…eine Insel“, vollendete Marie im Tonfall von fleißigen Schülern. Und dann mussten beide lachen.
Nach dem Abendessen liefen sie noch einmal hinunter zum großen Steg. Wie hatte sich der See verändert! Nach Osten hin war das Wasser milchig grün und schien nahtlos in einen bleigrauen Himmel überzugehen. Im Westen aber standen dunkle Wolken über dem ölig wogenden See und die großen Ufersträucher wölbten sich bedrohlich über das Wasser. Auf dem Steg in ihrem Rücken blinkte die Sturmwarnung. Und rundherum am Horizont antworteten ihm neun weitere, aufgeregte orange Lampen. Vielleicht auch zehn; so ganz sicher waren sie auch nach mehrmaligem angestrengten Zählen nicht. Jetzt setzten Böen ein, peitschten die ersten Regenschauer über die Insel und die Büsche zeigten flirrend ihre hellen Blattunterseiten.
Sebastian legte Marie den Arm auf die Schulter und spürte ein Zittern. War es die Kälte, oder die Aufregung vor dem Sturm? Oder noch etwas anderes? Der Regen wurde stärker und sie liefen schnell über den Steg ans baumbewachsene Ufer. Im Westen erschien ein flimmerndes Dreieck aus Lichtern, das langsam näher zu kommen schien. Sebastian und Marie drückten sich an einen Baum und blickten zwischen den dicken Ästen hindurch auf schwarz wogendes Wasser vor schwarzem Wald und noch schwärzerem Himmel. Sie waren sich sehr nahe jetzt. Sebastian hatte plötzlich den Eindruck, „mit einem geliebten Menschen auf der Insel zu stehen“. So wie er es sich immer gewünscht hatte. Und doch ganz anders. Ich glaube, er hatte sogar gelächelt. Auch über sich selbst.
Die Lichter waren jetzt deutlich als ein Schiff zu erkennen. Es brach durch die Engstelle bei der Insel, drehte bei und dampfte kraftvoll durch die Wellen nach Osten. Die Schaufelräder vibrierten und eine Kette aus Girlanden spannte sich wie ein schützendes Zelt über den schlanken Schiffskörper.
„Ein Schiff“. Mit einem Schrei packte Papa seinen Fotoapparat, sprang berauscht in den Wind und drückte auf den Auslöser. Die kleine Marie blieb im Schutze des dicken Baumes und schlug sich vor Aufregung laut lachend die Hände vors Gesicht. Papa tanzte im Regen und sang frei nach Wolfgang Borchert „Stell dich mitten in den Wind, …und sei ein Kind“.
Fünf Minuten später waren sie im Hotelzimmer und rubbelten die Haare trocken. Zehn Minuten später träumten sie schon – ein jeder von seiner Inselgeschichte.