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Interpretation? Ich geb´ dir gleich Interpretation!
Wie Klaus-Herrmann mit Nichts die Welt veränderte. Ein bisschen jedenfalls.
Die Chronik eines Großereignisses.
Klaus-Herrmann stand an der Fußgängerampel und ging nicht rüber.
Er wollte damit kein Zeichen setzen, er führte nichts im Schilde. Nein, vielmehr war er nicht mehr der Fitteste und vergaß das Rübergehen einfach.
So wurde es rot, so wurde es grün.
Es dauerte einige Zeit, bis überhaupt jemand bemerkte, dass Klaus-Herrmann einfach dort stand und nichts machte. Nun ja, nichts ist untertrieben. Er atmete, guckte und ... nun ja, er atmete und guckte halt.
Erst als ein paar Witzbolde einen „Ich möchte gerne so sterben wie mein Opa, im Schlaf und ohne Schmerzen – und nicht schreiend und voller Qual wie seine Mitfahrer“-Aufkleber auf dem Rücken befestigt hatten, wurden die ersten Menschen auf ihn aufmerksam.
Zunächst versuchten sie dem älteren, herumstehenden Herren mit einem „Entschuldigen Sie, aber es ist grün.“ zum Überqueren der Straße zu bewegen, doch nachdem Klaus-Herrmann darauf nicht reagierte, begann man sich Sorgen zu machen.
Ein herbeigerufener Arzt konnte die ersten Bedenken, der Mann sei tot und die Leichenstarre hätte bei ihm außergewöhnlich schnell eingesetzt, glücklicherweise aus der Welt schaffen und attestierte Klaus-Herrmann völlige körperliche Gesundheit.
Dann wurde der erste Journalist auf den Ampelsteher aufmerksam. Er war nur zufällig vorbeigekommen, witterte als er Klaus-Herrmann sah jedoch eine große Story und begann sofort, ihn zu interviewen.
„Entschuldigen sie, junger Herr, aber ist ihr Streik vielleicht eine Protestaktion gegen den Neubau der Straße?“
Noch während Klaus-Herrmann drauf und dran war, zu verneinen, verabschiedete sich der Journalist mit „Danke, tschüss“ und überquerte die Straße.
Schon in der Abendausgabe der Tageszeitung war es zu lesen. „Einzigartige Protestaktion – 58-jähriger kämpft unter Einsatz seines Lebens gegen Umbau der Neuemannstraße!“
Klaus-Herrmann bemerkte von alledem nichts, bis sich die ersten Mit-an-der-Ampel-Stehenbleiber fanden.
Einige Leute blieben länger bei Klaus-Herrmann, bei einigen schwächelte die Kondition schon nach kurzer Zeit. Immer wieder bekam Klaus-Herrmann Lob zu hören. Von „Ich will auch nicht, dass die Neuemannstraße umgebaut wird. Ich streike mit ihnen!“ bis „Ich finds klasse von ihnen, dass sie gegen die Atomkraft sind!“ ... alles war dabei.
In den Morgenstunden trafen die ersten Fernsehteams ein. Innerhalb weniger Minuten war Karl-Herrmann umrundet von Kameramännern, Kabelträgern, Tonassis und Reportern, alle stellten gleichzeitig Fragen, auf keine antwortete der Stehenbleiber. Irgendwie ging ihm das Ganze zu schnell.
Sofort unterbrachen die großen TV-Stationen ihr Programm und spätestens nach den Volle-Stunde-Nachrichten hatte auch der letzte Nischensender über den „Revolutionisten“, „Gewaltgegner“, „Umweltaktivisten“ oder „Fortschrittsanführer“ berichtet.
Eine wahre Welle brach aus. Landesweit blieben Menschen an Ampeln stehen und brachten so den Verkehr zum Erliegen, auch wenn sie ja eigentlich gar nichts machten.
Viele Autofahrer, die sich eigentlich über die Fußsteher ärgerten, wurden vom Gefühl der Masse gepackt und stellten sich an die Fußgängerüberwege der Nation.
Jeder demonstrierte für etwas Anderes, nichts konnte sich durchsetzen, doch alle waren glücklich. Sie waren Teil einer großen Bewegung, nur wohin sie sich bewegten, das wussten sie nicht.
Gegen sechs Uhr wurden erste T-Shirts mit dem Aufdruck „I do it like Klaus-Herrmann“ angefertigt, um dreiviertel sieben wurde die Neumannstraße in „Klaus-Herrmann-Straße“ umbenannt.
Um 7:13 Uhr war der Spuk schließlich vorbei.
Es wurde rot, es wurde grün, da erinnerte sich Klaus-Herrmann wieder, warum er an der Ampel stand und überquerte die Straße.
Die TV-Sender nahmen ihre Programme wieder auf, Kamerateams reisten ab, Autos fuhren wieder ungehindert durch die Straßen, T-Shirts wurden zerstört.
Drei Tage später wurde die neu benannte Neumannstraße umgebaut.