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Irrfahrt
Wir fahren durch den Wald. Ich beobachte durch die Fensterscheibe die Birken – die an den Gläsern meiner Sonnenbrille vorbeiziehenden Birken. Und ich öffne meine Handtasche und nehme eine Valium und schlucke sie mit etwas Wasser hinunter.
Im Radio läuft Be My Baby von den Ronettes.
»Wie weit ist es noch?«, frage ich und zünde mir eine Zigarette an.
»Bald«, antwortet Matteo und nippt an seiner Flasche. »Bald …«
Schweigend fahren wir durch den Wald. Allmählich wird es dunkel. Noch nie habe ich so viele Birken gesehen. Und Äste. Und Schatten. Und …
»Du, Matteo?«, frage ich. »Wer sind eigentlich die Menschen im Wald?«
»Welche Menschen?«, fragt Matteo, den Blick starr nach vorne gerichtet, mit seinen Händen fest das Lenkrad umklammernd.
»Sieh doch nur, sie winken uns zu!«
»Blödsinn!«, sagt Matteo (und greift wieder nach der Flasche).
Matteos Schweigen und das lange Fahren ermüden mich, und die Birken rasen an uns vorbei, und die Straße ist ein endlos langer, schimmernder schwarzer Fluss, und am nachtblauen Himmel amtiert – umzingelt von den Sternen – der Mond; und obwohl ich nicht sollte, obwohl ich schwor mich zu bessern, nehme ich wieder ohne jeglichen Grund eine Valium, und meine Augen werden schwer, und der Kopf kippt nach rechts, und ich nicke ein.
Ich träume von einer hohen, steilen Wand. Ich hänge an einem Geländer und blicke in die Tiefe. Hinter dem Geländer steht mein Vater und reicht mir die Hand. Meine Kräfte schwinden, ich falle. Als ich zu mir komme, trage ich Ketten und durchschreite eine Wüste; mich quält entsetzlicher Durst. Da sehe ich einen Brunnen. Ich bücke mich und will trinken, einfach nur trinken, den ganzen Brunnen austrinken, aber im Brunnen befindet sich kein Wasser, und ich falle kopfüber hinein. Dann: ein Halbkreis. Sonderbare Menschen, die Kaffee aus Pappbechern trinken und Zigaretten rauchen. Sie bedrängen mich, ans Pult zu schreiten, welches direkt vor uns steht, mit einem Mikrofon, aber ich will nicht und sie umkreisen und mich werden zu Indianern und ...
»Halt!«, brülle ich. »Halt!«
Matteo legt eine Vollbremsung ein. »Was? Was?«
Mein Puls rast. Meine Hände zittern. Ich atme durch.
»Dieses Stoppschild da … «, sage ich und deute nach links. »Und da hinten, auf der rechten Seite – die Holzhütte, siehst du sie? Wir fahren im Kreis! Hier waren wir schon einmal! Wir fahren im Kreis!«
»Bist du sicher?«, fragt Matteo verzweifelt und blickt noch verzweifelter in seine leere Flasche. »Sag: Bist du ganz sicher?«
»Matteo – sieh mich an! Wir dürfen jetzt nicht den Verstand verlieren! Du bist übermüdet und betrunken! Du wirst nun ein Nickerchen machen, während ich uns ans Ziel bringe, hörst du? Ich verspreche dir: Alles wird gut. Wir schaffen das!«
Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel: Da schläft er also, ausgestreckt auf der Rückbank, sich hin- und her wälzend. Nur: Wo ist sein Gesicht geblieben? Keine Augen, keine Nase, kein Mund – was zur Hölle ist hier nur los? Und ich denke: Wenn ich jetzt eine Valium …
Ich krame in der Handtasche nach der Verpackung, nehme den Blisterstreifen heraus und drücke mir sämtliche Tabletten in die Hand. Die Vorstellung des Rausches, den mir diese Dosis bescheren würde, übt einen sehr starken Reiz auf mich aus. Auf der anderen Seite ist da mein Vater, den ich oft verletze und dessen unsicheres Gebaren – die zögernde Art, sich mir zu nähern – mich mit Reue und Mitleid erfüllt. Vermutlich wird es nie wieder so, wie es einmal war. Was habe ich getan?
Bei Tempo hundert, in einer leichten Rechtskurve, öffne ich das Seitenfenster und werfe mein gesamtes Valium aus dem Fenster. Tränen steigen mir in die Augen, und ich kann nicht sagen, ob ich wegen des Valiums oder wegen meines Vaters weine. Ich fahre in die schwarze Nacht …
»Wie weit ist es noch?«, gähnt Matteo, als er wieder zu sich kommt; er streckt seine Glieder und reibt sich den Sand aus den Augen. »Ich hatte einen entsetzlichen Alptraum … Ich träumte von einem riesigen Schwimmbecken und davon, wie ich darin ertrinken würde, und dann kamst du und wolltest mich retten, aber du hattest kein Gesicht.«
»Du hast sicher Hunger nach der langen Fahrt?«, sage ich.
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagt Matteo. »Ich könnte einen Ochsen zerreißen, so hungrig bin ich. Ich will Burger und Pommes. Und Cola. Und dann will ich ein großes Eis mit viel Schokolade.«
Ich nehme die Ausfahrt und halte an einem riesigen Parkplatz.
Ich öffne die Tür, und Matteo öffnet die Tür, und wir steigen aus.
Die Sonne scheint. Die Luft ist klar. Und wir – wir stehen nur so da.
»Na los, erzähl mir schon von deinem Traum«, sage ich – und wir setzen uns ins Bewegung und Matteo erzählt mit sich überschlagener Stimme von den Qualen des Ertrinkenden, der um sein Leben kämpft, und wie erleichtert er war, als dieser Alptraum endlich sein Ende fand.