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Isabels Lied
Die Stille wurde vom trostlosen Rascheln des Herbstlaubes unterbrochen. Hagen fand dieses Geräusch angenehm und beruhigend. Stundenlang waren die Strauchdiebe ihm dicht auf den Fersen gewesen. Jetzt hockte er nass und frierend in einer Erdhöhle, die durch ein dichtes Dornengebüsch verborgen war.
Den Mantel hielt er - obwohl dieser völlig durchnässt war – eng an seinen Körper gepresst. Es dämmerte bereits, und Hagen entschied, dass es wohl das Beste wäre, die Nacht in dieser Höhle zu verbringen. Es stank nach Moder, Schimmel und einem üblen Geruch, der ihn an die Ausdünstungen wilder Raubkatzen erinnerte. Hagen dachte eine Zeitlang an Isabel und daran wie schön es wäre, sie endlich wieder in die Arme schließen zu können. Drei lange Jahre waren vergangen seit seiner Flucht aus dem Kerker des Kalifen. Er konnte immer noch nicht so recht glauben, dass er es wirklich zurück in seine Heimat geschafft hatte.
Hagens Augen fielen immer öfter zu und nach kurzer Zeit schlief er tief und fest. Der Regen trommelte die ganze Nacht hindurch auf das karger werdende Blätterdach des Grimmwaldes.
In jener Nacht wurde Hagens Schlaf nicht gestört, obwohl ein Rudel Wölfe keine hundert Schritt entfernt auf der Jagd war.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Zwielicht des Waldes brachen, öffnete Hagen die Augen und streckte sich, soweit dies in der engen Höhle möglich war.
Auf allen vieren kroch er hinaus und genoss die herbstlichen Sonnenstrahlen, die auf sein Gesicht fielen. Endlich zu Hause, dachte er mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht.
Über die Diebe, die es auf ihn abgesehen hatten, dachte er nicht weiter nach. Es war beileibe nicht das erste Mal während seiner Heimkehr, dass man ihn überfallen hatte. Aber er lebte und war seinem Dorf so nahe, dass er beinahe das Lachen seiner Kinder und Isabels zärtliche Stimme hören konnte.
Unter einem moosbewachsenen Stamm entdeckte er eine Handvoll Pilze, die zwar nicht gerade schmackhaft waren, aber wenigstens seinen nagenden Hunger stillten. Es war lange her, dass Hagen in einer Taverne gegessen, oder in einem richtigen Bett geschlafen hatte.
Im Grunde besaß er nur, das was er am Leibe trug. Wären die Diebe seiner habhaft geworden, hätten sie ihm wahrscheinlich vor lauter Zorn über den schlechten Fang die Kehle durchgeschnitten. Er schüttelte den Kopf und vertrieb die finsteren Gedanken.
Im Laufe des Morgens hatten die grauen Wolken sich allmählich verzogen. Die Sonne stand jetzt hoch oben am blassblauen Himmel. Ein Schwarm Krähen zog kreisend seine Runden, und krächzte in den schönen Herbstmorgen hinaus.
Während Hagen die alte Fuhrstrasse hinabwanderte, überlegte er fieberhaft, was seine ersten Worte sein sollten. Zwei Jahre Krieg, drei im Kerker verbracht, und noch mal drei, um wieder nach Hause zu kommen. Acht Jahre waren vergangen und jetzt kamen Hagen Zweifel ob seiner Rückkehr.
Wie würde man ihn empfangen? Araon und Laria waren gerade einmal zwei Sommer alt gewesen, als er in den Krieg gezogen war. Für sie würde er ein Fremder sein. Und Isabel? Vielleicht hatte sie wieder geheiratet, sie wusste ja nicht, dass er lebte; dass nur die Liebe zu seiner Familie ihn all die Jahre hatte durchstehen lassen.
Hagen blieb stehen. In der Ferne erblickte er die ersten Rauchsäulen, die aus den Schornsteinen von Silberberg in den Himmel stiegen. Es war ein tragischer Witz auf seine Kosten, dass er jetzt so kurz vor dem Ziel weiche Knie bekam, und kurz davor war schreiend davon zu laufen.
Ihm wurde bewusst was für ein Bild er abgab, in den zerschlissenen Kleidern und mit dem verfilzten Bart; den Narben auf seinem Körper. Ihm fröstelte bei dem Gedanken daran, wie Isabel sagen würde: Du bist nicht mein Gemahl, er starb vor Jahren im Krieg, und nun troll dich, du armseliger Bettler!
Schlimmer noch war der Gedanke, dass er in ihren Augen eine andere Wahrheit sehen würde. Sie würde nicht wollen, dass dieser Lump ihr Mann war, obwohl sie die Wahrheit kennen würde.
„Ihr Götter, ich flehe euch an, soll das der Lohn meiner Mühen sein? Habe ich meine Familie verloren im Kampf für Euch?“ Hagens Stimme brach bei den letzten Worten, und er ließ sich auf den schlammigen Boden sinken. Er schlug sich die Hände vor das Gesicht, während ihm heiße Tränen die Wangen hinabliefen.
Hagen schreckte hoch und stellte erstaunt fest, dass er eingenickt war. Die Sonne stand ein Stück weiter im Westen und es war deutlich wärmer geworden. Er stand langsam auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Er fühlte sich immer noch elend.
Langsam drehte er sich um und ging den Weg wieder zurück. Er hätte niemals hierher zurückkehren sollen. Dies war nicht mehr seine Heimat, er war ein Fremder, den man vertreiben würde. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde sein Gang gebeugter. Der Kerker hatte Hagen nicht brechen können. Erst die Angst vor sich selbst hatte ihn gebrochen.
Zwei Tage später fanden einige Jäger seinen Leichnam in einer kleinen Erdhöhle im Grimmwald.
Am nächsten Tag wurde der Leichnam nach Silberberger Tradition auf dem Schicksalsberg begraben.
Isabel verbrachte die Nacht weinend am Grab ihres Mannes. Jeden Tag hatte sie die Götter angefleht, ihren Mann nach Hause zu bringen. Keinen Augenblick lang hatte sie an seinen Tod glauben wollen.
„Was für Götter seid ihr bloß? Wieso habt ihr ihn soweit kommen lassen? Wieso habt ihr ihn sterben lassen? Ich hasse euch!“ Isabel streichelte sanft über den kalten Grabstein und sang das Lied der „Königin Idra“, welches er so sehr geliebt hatte.
Hagen lauschte dem lieblichen Gesang seiner Frau und wusste dass sie sich wieder sehen würden. Aber noch nicht.
Noch nicht.