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Iyyad
»Horch«, sagt Iyyad, »wieder die Flugzeuge.« Ich gebe ihm die fertige Matrize, er spannt sie fest und dreht die Kurbel der alten Abziehmaschine. Das Quietschen bei jeder Umdrehung, von dem ich sonst immer Gänsehaut bekomme, geht unter im Lärm der Flugzeuge. Ich rauche mir eine Zigarette an. Die fertig bedruckten Flugblätter schieben sich immer schneller heraus auf den Stapel, der sich davor bildet.
Iyyad ist siebzig und trotzdem stets für unseren Kampf um ein unabhängiges Kurdistan auf den Beinen. Er ist ein Motor für uns junge Kurden. Ich schenke ihm ein anerkennendes Lächeln. Detonationen sind spürbar. Die von der Decke hängende Glühbirne zittert. Der Flugzeuglärm entfernt sich, Schreie treten in den Vordergrund. Ich dämpfe meine Zigarette aus, nehme den ersten Stoß unseres Aufrufes, halte wie immer meine Nase kurz daran, weil ich den Geruch der Druckerfarbe so mag, und sage: »Bis gleich. Ich schau mal, wie es draußen aussieht.«
Ich gehe die ausgetretenen Stufen vom Keller hinauf und sehe ein kleines Mädchen in der Ecke kauern. »Was ist denn mit dir, wo ist deine Mama?«, frage ich.
Sie zuckt mit den Schultern, schluchzt, dann laufen Tränen ihre Wangen hinunter. »Ich hab mit Leilah gespielt, da kamen auf einmal die Flugzeuge … Leilah war dann auf einmal weg und Mama saß auch nicht mehr auf dem Platz, wo sie vorher war.« Ein neuerlicher Tränenfluss bricht los.
»Sie wollte dich bestimmt suchen.« Ich nehme sie an der Hand und bringe sie zu Iyyad. »Hier im Keller bist du erst einmal sicher, und wenn das Chaos draußen vorbei ist, werden wir deine Mama gemeinsam suchen.«
Iyyad begrüßt sie und fragt nach ihrem Namen. »Aisha«, antwortet sie leise.
Beim Öffnen der Haustür sehe ich gelbe Nebelschwaden auf uns zukommen. Menschen laufen vor ihnen davon oder wirr umher. Nirgends brennt es, wie die letzten Tage. Heute ist es kein Napalm, schießt es mir durch den Kopf, es ist viel schlimmer. »Wer oben ist, lebt länger«, hat der Doktor gesagt, als wir in der Partei über mögliche Giftgasangriffe gesprochen haben. Ich kehre noch einmal um, rufe Iyyad über die Stiegen zu: »Geht hinauf, es ist Gas!«
Viele sind während der letzten Tage in die Berge ringsum geflüchtet, haben sich aus Angst vor weiteren Angriffen in Höhlen verkrochen oder kämpfen von dort aus. Ich wollte Iyyad auch in Sicherheit bringen, aber er sagte entschlossen: »Ich kann nicht mehr kämpfen, also was soll ich in den Bergen? Alles hier seinem Schicksal überlassen? Ich lebe und sterbe für ein autonomes Kurdistan, und meine Hoffnung, es noch zu erleben, habe ich noch nicht begraben.«
»Aber du kannst doch dann wieder zu…«
»Nein, ich bleibe hier. Ich lasse mich nicht von diesen Hundesöhnen vertreiben.«
Seit meine Eltern tot sind, ist Iyyad wie ein Vater zu mir, und noch viel länger mein Vorbild, deshalb schob ich meine Fluchtgedanken beiseite. Aber im Moment wäre ich am liebsten weit weg von hier …
Ich gehe noch kurz mit den beiden nach oben. Die Fenster haben wir bereits mit Brettern zugenagelt, weil sie bei den Angriffen der letzten Tage gesprungen sind. Im Büro liegen zwei Gasmasken, ich nehme sie und bringe sie den beiden. Iyyad nimmt eine und setzt sie Aisha auf. Die zweite schiebt er samt meiner Hand, mit der ich sie ihm entgegenhalte, zu mir zurück. »Setz du sie auf, Tarik. Du bist noch jung.«
»Nein, nimm du sie«, kontere ich, doch er schaut demonstrativ weg. Ich nehme sie mit schlechtem Gewissen und nur, weil ich weiß, dass Iyyad ein Sturschädel ist.
Die Flugblätter lasse ich liegen, gehe mit Gasmaske und einem langen Regenponcho auf die Straße und schaue, ob ich irgendwo helfen kann. Die Menschen rennen hysterisch herum, wissen nicht, wohin. Ich möchte am liebsten auf einen Strommast klettern, aber dann wird mir klar, dass sie nicht hoch genug sind.
Gegenüber steht ein alter Mann mit erhobenen Armen auf einem Trümmerhaufen und schreit immer wieder »Allah ’u Akbar! Allah ’u Akbar!«, während eine Frau verzweifelt an seinen Beinen rüttelt. Er hustet und fällt plötzlich um. Die Frau läuft weiter, ich gehe zu dem Mann. Seine Augen sind blutunterlaufen, er ist verkrampft und hat große Brandwunden auf seinen Schultern und Armen, vermutlich von dem Napalm, mit dem sie uns die letzten Tage beschossen haben. Er hustet immer stärker, verzerrt das Gesicht vor Schmerzen, krümmt sich, bis er schließlich entspannt zu Boden sinkt. Ich schließe seine Lider.
Ich sehe mich um, aber ich weiß nicht, wie ich helfen kann. Hätten sie uns gewöhnliche Bomben geschickt, könnte ich mich jetzt um Verletzte kümmern, auch wenn all unser Verbandsmaterial längst aufgebraucht ist. Ich beschließe, wieder zu Iyyad und Aisha zu gehen, mit ihnen zu überleben oder zu sterben, da sehe ich beim Brunnen ein Mädchen stehen. Sie schreit in Todesangst, klammert sich an ihre Puppe, und gerade, als ich mich auf den Weg zu ihr mache, rempelt eine Frau sie um – ist es nicht die selbe, wie vorhin bei dem Alten? –, dann aber kümmert sie sich umso liebevoller um das Mädchen, ganz, als wäre sie ihre Mutter. Es ist gut so, die Kleine beruhigt sich.
Starr und so planlos, wie die Flüchtenden ziellos herumrennen, stehe ich da. Eine junge Frau zerrt plötzlich an meinem Arm, schreit und deutet, ich solle aus der Stadt laufen. Doch ich kann nicht. Wie die Mütter nicht einfach weiterlaufen, sondern warten, wenn ihre Kinder gestolpert sind, ist es für mich keine Frage, bei Iyyad zu bleiben. Ich gebe der Frau meine Gasmaske, wünsche ihr viel Glück, sie lässt meinen Arm los und läuft weiter. Während ich ihr nachschaue, überkommt mich die beruhigende Gewissheit: Es wird immer eine neue Generation von Kurden geben. Sie können uns nicht auslöschen.
Beim Öffnen der Tür höre ich Iyyad husten. Ich laufe nach oben und sehe ihn am Boden kauern. Aisha hat er in einen Deckenberg gehüllt, unter dem sie mit ihrer Gasmaske hervorlugt.
»Die Menschen laufen weg vor dem Gas«, sage ich, »es wäre vernünftiger, das auch zu tun.«
Iyyad überlegt nicht lange. »Geht, ich bleibe hier.« Wieder hustet er, spuckt blutigen Schleim. »Nimm Aisha und lauft gemeinsam um euer Leben!«
Aisha wehrt sich anfangs, doch als ich ihr sage, dass ihre Mama sicher auch mit den anderen geflüchtet ist, ist sie bereit, aufzubrechen. Ich gebe ihr meinen Regenmantel, darüber eine der Decken, lege mir selbst eine Decke über die Schultern und gehe mit ihr zur Tür, deute nach links die Straße hinauf und sage: »Du läufst jetzt einfach immer in diese Richtung. So schnell Du kannst.«
»Aber du …«
»Ich bleibe bei Iyyad, er ist … mein Vater.« Ich möchte mir die Tränen zurückhalten – nicht, weil ich mich schäme, kurdische Männer schämen sich nicht, wenn sie weinen –, aber dann schwappt der See in meinen Augen doch über. Mit zitternden Fingern fische ich eine Zigarette aus der Packung, nehme zwei kräftige Züge, beruhige mich und sage: »Lauf, Aisha. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder.«
Meine Nase beginnt zu rinnen, als hätte ich Schnupfen, und meine Augen brennen. Es riecht nach Äpfeln, Zwiebeln, Knoblauch und stinkendem Fisch. Aisha rührt sich nicht von der Stelle, schaut mich an. Ich versuche, einen mutmachenden Blick aufzusetzen, während ich wahrnehme, wie viele Tote bereits überall herumliegen. Ich schreie sie an, »Los, renn!«, und schrecke mich vor mir selbst, als sie dabei zusammenzuckt.
Unsicher macht sie die ersten Schritte, bleibt kurz neben einem toten Baby und seiner Mutter stehen, und hat dann offenbar verstanden: Sie rennt, wie nur jemand rennen kann, der vom Tod gejagt wird. Ich schließe die Tür von innen, stürze die Treppen hinauf zu Iyyad. Er ist verkrampft, spuckt Blut, sein Gesicht ist rot, trotzdem bäumt er sich noch einmal auf. »Was machst du hier noch«, fährt er mich, von Husten unterbrochen, an.
»Ich bleibe bei dir, Iyyad.«
»Du bist ein Idiot.«
Ich reibe meine brennenden Augen. »Sagtest du nicht immer ›Berxwedan jiyan e‹?«
»Ja, Widerstand ist Leben. Aber …« Ein neuerlicher Hustenanfall, seine Blase leert sich, dann fällt sein Kopf schwer zu Boden.
Eine eigenartige Mischung aus Angst, Trauer und Wut breitet sich in mir aus und mein Drang zu flüchten fühlt sich plötzlich an, als müsste meine Seele dringend aufs Klo. Während ich Iyyads Augen schließe, ist mir, als hörte ich seine Stimme, die sagt: »… nur, wenn du lebst, kannst du Widerstand leisten!«
Ich nehme drei Stufen auf einmal, öffne die Haustür. Nur noch vereinzelt laufen Menschen herum, viele liegen tot oder sich vor Schmerzen krümmend wie sterbende Fliegen auf der Straße. Die Frau von vorhin hängt leblos über der Brunneneinfassung. Ohne mich mit der Frage aufzuhalten, wo das Mädchen mit der Puppe hingekommen ist, setze ich einen Fuß vor den anderen, immer schneller. Das Brennen in den Augen wird stärker, der Schmerz in meiner Nase fühlt sich an, als würde sie von unzähligen Nadelstichen malträtiert.
Nach wenigen Minuten sehe ich Aisha vor mir. Ich rufe sie und kurz darauf nehmen wir uns an der Hand, laufen gemeinsam noch schneller die staubige Straße entlang.
Meine Augen fühlen sich an wie Feuer, dann sehe ich plötzlich nichts mehr. Ich werde langsamer, erzähle Aisha davon und bitte sie, mich zu führen. Sie lenkt mich, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht. Ich frage mich, ob der Geruch schwächer geworden ist, oder ob ich nichts mehr riechen kann, egal, wir laufen weiter.
Nach einer Weile vernehme ich Motorengeräusche. »Was kommt da?«, frage ich Aisha.
»Weiße Autos«, antwortet sie, und als wir ihnen näherkommen, ergänzt sie: »Mit Menschen drin, die uns fotografieren.«
Dann sind die Motorengeräusche hinter uns.
*