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Jagduniform
Als der Abspann läuft, fängt es an zu grollen. Der Himmel ist schon lange schwarz. Luzie faltet die räudige Decke mit dem Pferdemotiv zusammen und steckt sie in ihren Microrucksack. Vor dem Film sind wir lange übers Gelände gelaufen und haben uns schließlich für diesen Fleck entschieden, der sich durch nichts vor den anderen auszeichnet. Das Gras sah aus der Ferne immer buschiger aus. Während des Films hat Luzie Erdbeeren gegessen, Erdbeeren mit Schlagsahne aus der Sprühflasche, die ich zwar mitgebracht, aber selbst nicht angerührt habe. Man kann die Sahne auch direkt aus der Tülle saugen, doch das tut Luzie nicht.
Es fängt an zu regnen, als wir mit dem Strom der Besucher zur U-Bahnhaltestelle treiben. Es sind dicke Tropfen. Der erste trifft mich wie ein Schlag. Und dann hat die Bahn dreißig Minuten Verspätung, wegen Wartungsarbeiten.
Der Regen hat Luzies dunkelgraues T-Shirt schwarz gesprenkelt. Ich betrachte die Pünktchen und sage: „Es ist ja eigentlich nicht weit.“ Luzie nickt. Dann rennen wir durch den Regen, nicht weit, aber sehr nass. Meine Schuhe schmatzen. Als Luzie eine Sandale verliert und stolpert, halte ich sie fest. Sie lässt meine Hand nicht mehr los. Das Gewitter zieht so schnell vorüber wie es gekommen ist. Keine Wolke verbirgt den Vollmond, als wir in meine Straße einbiegen.
Luzie lehnt sich hechelnd in den Hauseingang und wischt sich die tropfenden Haare aus dem Gesicht. Ich stecke den Schlüssel ins Loch und drehe mich zu ihr um. „Willst du noch mit hoch kommen? Es ist so spät. Du bist so nass.“ Dabei liegt meine Hand schon auf ihrer Hüfte, ein Finger im Spalt zwischen T-Shirt und Jeans.
„Ja“, sagt sie, steckt ihre Hände in meine Gesäßtaschen und zieht mich an sich, um zu spüren, was meine hellen Shorts ohnehin schon abzeichnen. Ein Regentropfen fällt von meiner Nasenspitze, als ich mich zum Kuss herabbeuge. Ihr Mund ist nass, die Lippen kalt und die Zunge heiß. Sie schließt die Augen und läßt ihr Becken langsam kreisen. Ich lehne so schwer gegen sie, dass ich fürchte, sie in die Wand zu drücken, durch die braun glasierten Kacheln in den Beton hinein. Dort könnten wir dann bleiben, engumschlungen, ein nachträgliches Bauopfer im sechziger Jahre Wohnblock. Doch der Druck ihres Körpers ist meinem ebenbürtig. Mir ist, als schlüge ihr Herz in meiner Brust, so eng sind ihre kleinen Brüste an mich gepresst. Die Nässe auf unserer Haut ist jetzt nicht mehr kalt. Das im Gewebe gefangene Wasser erwärmt sich, bis wir dampfen. Ich kann die Wolken im gelben Licht der Straßenlaterne aufsteigen sehen. Auch der Dunst zwischen uns hat sich verändert, riecht üppiger und wabert schwer. Ich umfasse ihr Gesicht mit beiden Händen, da stemmt sie mich von sich. „Läßt du mich jetzt rein?“
Neben-, hinter-, unter- und übereinander stolpern wir die Treppen hinauf und hinterlassen rutschgefährliche Pfützen. Luzie schiebt beide Hände unter mein Hemd, während ich den Schlüssel in die Wohnungstür fummele. Das Licht in der Wohnung schalte ich nicht ein, da der Mond alles silbern erleuchtet.
„Handtücher“, murmele ich und küsse die Fingerspitzen ihrer linken Hand, bevor ich sie loslasse. Im Badezimmerspiegel sehe ich, dass mein weißes Hemd durchsichtig geworden ist. Die dunklen Brustwarzen zeichnen sich deutlich darunter ab. Ich streife es auf dem Weg ins Schlafzimmer von mir. „Wir müssen raus aus dem Zeug, sonst kriegen wir noch eine Lungenentzündung“, sage ich, doch Luzie lässt bereits ihr T-Shirt und den BH zu Boden fallen. Im Mondlicht schimmert ihre Haut perlmuttfarben, mit tausend glitzernden Tröpfchen besetzt. Ich werfe ihr ein Handtuch zu, das größte, schönste, weichste, das ich besitze und beobachte sie an den Türrahmen gelehnt. Ihr Busen vibriert und versprüht Wasserfunken als sie sich das Haar trockenrubbelt. Dann taucht sie mit Löwenmähne wieder unter dem Handtuch hervor.
„Soll ich Tee kochen?“, frage ich.
Luzie betrachtet mich mit schiefgelegtem Kopf und leisem Lächeln, streckt ihre Hand nach mir aus. Im selben Moment fährt ein Windstoß durch das geöffnete Fenster und kräuselt ihre Haut wie die Oberfläche eines Sees. Ich trete zu ihr, streiche die Gänsehaut auf ihren Armen glatt und küsse Tröpfchen von ihrem Schlüsselbein. Schweiß und Regenwasser. Temperatur und Mischverhältnis verändern sich, als ich an ihrem Körper hinabgleite, bis zum Bund der raugequollenen Jeans. Sie öffnet Knopf und Reißverschluss selbst, tanzt sich aus der engen Hose und überläßt es mir, ihr die klebrige Wäsche wie ein Pflaster von der Haut zu ziehen. Ihre Finger flechten sich in mein Haar, während ich weiter Nässe koste, anderer Geschmack und andere Konsistenz. Ich erinnere mich, dass sie mich zum ersten Mal auf mein T-Shirt angesprochen hat. Ein Geschenk meines Vaters zum Studienbeginn, das ich eigentlich nur zum Laufen anziehe. Aber an diesem Tag war alles andere in der Wäsche.
„Cunning Linguist“, las sie und lachte. „Gut zu wissen.“
Ich wurde rot und gab ihr meine Nummer. Seit diesem Tag habe ich sie jede Nacht in mein Bett geträumt. Genau so, wie sie jetzt vor mir liegt, ihre Beine über meinen Schultern.
Die Verben, die ich mir zu unseren Bewegungen und Geräuschen ausdenke, haben lasziv gedehnte Vokale oder harte, drängende Konsonanten, ck und tz, stimmloser velarer Plosiv und stimmlose koronal-dental-alveolare Affrikate. Aber Adjektive fallen mir kaum ein, und vor allem fehlt das Substantiv für Luzie.
Als ich aufwache und Luzie in meinen Armen finde, senkt sich ein Gewicht auf meine Brust und quetscht mir die Luft aus der Lunge. So muss es sich in einem Vakuum anfühlen, denke ich und nehme einen schmerzhaften Atemzug gegen die drohende Implosion. Ein Sonnenstrahl fällt schräg durchs Zimmer und verwischt Luzies Züge zu einem konturlosen Gleißen. Aber vielleicht ist es auch anders herum und Luzies Licht strahlt durchs Zimmer und erleuchtet die Sonne. Ich seufze: „Ach, Luzie, Luzie“, und berge mein Gesicht an ihrem heißen, trockenen Nacken. Sie legt meine Hände um ihre Brüste und drängt ihren Hintern gegen mich. Da schellt die Türglocke.
„Die Zeugen Jehovas“, sage ich atemlos.
„Ein aufgebrachter Nachbar“, sagt Luzie und lässt das Bett quietschen.
Doch dann trommelt es an der Tür. „Raus aus den Federn verlottertes Studentenpack. Ich bringe Brötchen und habe dein Fahrrad gesehen.“
„Wer ist das?“, fragt Luzie, als ich mich im Bett aufsetzte.
„Das ist mein Vater,“ antworte ich, „und der geht nicht wieder weg.“
„Wart ihr verabredet?“
„Nein, aber das heißt nichts,“ sage ich und fische eine Jogginghose vom Fußboden.
„Guten Morgen!“, kräht es jetzt aus dem Treppenhaus. Und dann keift es von den oberen Stockwerken herab: „Sonntag ist Ruhetag!“
„Entspann dich mal, frigide Schnepfe!“, ruft mein Vater gutgelaunt zurück, als ich die Wohnungstür aufreiße.
„Guten Morgen, Sohnemann.“ Er strahlt und umarmt mich. „Du verpennst den ganzen schönen Tag. Es ist heiß wie die Hölle draußen.“
Er hat sich die Sonnenbrille ins Haar geschoben. In das glänzend braune, buschige Haar, auf das er so stolz ist, das er mir nicht vererbt hat. Der Schnitt ist unmodern lang im Nacken. Er sieht gut aus für sein Alter, schätze ich, leicht gebräunt und aktiv, obwohl die Beine schon etwas dünn werden. Jetzt macht er große Augen. „Oh, nee. Sag nicht, ich hab dich beim Ficken gestört!“
Seine Stimme kratzt unangenehm in meinen dumpfgeträumten Ohren. Als ich mich umdrehe, sehe ich Luzie in der Schlafzimmertür stehen. Sie trägt mein Hemd von gestern.
„Ich will euch ja nicht stören“, sagt er mit langem, runden Vokal, macht aber keine Anstalten wieder abzuziehen. So steht er eine Weile breitbeinig mit erwartungsfrohem Lächeln auf der einladenden Fußmatte.
„Nein, kein Problem, komm rein.“ Ich trete beiseite und senke den Kopf, weil ich merke, dass ich rot werde. Und rot darf man in der Gegenwart meines Vaters nicht werden, dann fängt er an, über Zivilisationskrankheiten zu dozieren. Über Scham als Unterdrückungsinstrument und öffentliches Scheißen und Ficken bei Menschenaffen und seiner Lieblingsgesellschaft, den Höhlenmenschen. „Alles nur in deinem Kopf“, sagt er bei solchen Gelegenheiten und tippt mir hart mit dem Zeigefinger auf die Stirn.
„Ich bin Luzie“, sagt Luzie und streckt eine Hand aus. Das Hemd ist nicht mehr so durchsichtig wie gestern, aber immer noch zu durchsichtig.
„Konny, Konrad“, ruft mein Vater erfreut, greift sie an den Schultern und drückt ihr drei Küsse auf die Wangen.
Wir decken den Frühstückstisch gemeinsam. Mein Vater macht einen Witz über meine Tupperdosen und Luzie lacht. Als sie von ihrer Reise nach Indien erzählt, nickt er aufmerksam und lächelt mit apart umfältelten Augen, wirft ein paar Bemerkungen zur amerikanischen Kulturhegemonie ein, bis ich ihn erinnere, dass Indien doch primär britische Kolonie war und das ganze Elend mit Pakistan ... „Jaaaa, aber jetzt sind es hauptsächlich die Amerikaner, die rumpfuschen. Du hast ja keine Ahnung.“
Es läuft ganz gut, denke ich, und atme wieder tiefer. Luzie ist offensichtlich entspannt, bürstet ihre Haare und bedankt sich freundlich für ein Kompliment meines Vaters, das sich auf ihre nackten Beine bezieht. Als wir uns setzen, legt sie mir unter dem Tisch eine Hand aufs Knie. Luzie und mein Vater mögen den Papst nicht, und überhaupt die katholische Kirche mit ihrer Inquisition und den vertuschten Kinderfickern. Das ist ein großes Hallo, als sie diese Gemeinsamkeit herausfinden. Zwar driftet mein Vater zunehmend in einen Monolog ab, aber er tut dies auf charmant-unterhaltsame Weise. So deute ich zumindest das kleine Lächeln, das sich um Luzies Mundwinkel kräuselt. Schließlich streift er sich die Brötchenkrümel vom Bauch und zwinkert Luzie zu.
„Du bist echt eine Klassefrau. Nee, echt. Aber mal ganz unter uns: so ein Geisteswissenschaftlerbübchen“, er lacht und stößt mir den Ellenbogen in die Seite, „ein Weib wie du braucht doch was Handfesteres. Einen echten Kerl, einen, der zupacken kann.“ Er macht Zupackbewegungen und eine Zupackgrimasse.
Luzie legt den Kopf schief und betrachtet ihn wie einen interessanten Frosch. Einen Naturkundefrosch, den man erst mit Chloroform ersticken und dann sezieren muss.
„Ich studiere auch Geisteswissenschaften.“
„Ja ja, schon klar. Ein unstudierter Stecher passt nicht ins zivilisierte Selbstbild. Haha. Nee, war ja nur Spaß, nur Spaaaaß.“
„Lustig“, sage ich.
Mein Vater klopft mir auf die Schulter. „Nu komm schon. Tut mir leid. Ich sag doch, war nur ein Spaß. Herrje, du bist wie deine Mutter. Hattest schon als Kind keinen Humor. Ich hatte letzte Woche noch ein Date, auch so eine Verklemmte. Hab ich online kennengelernt. Echt 1a Arsch, enger Rock, Stöckelschuhe, trippel trippel, wackel wackel. Die Titten bis unters Kinn hochgeschnallt.“ Er lüpft sich imaginäre Brüste vors Gesicht und macht Kurvenumrisse mit beiden Händen, sehr viel mehr als fuer ein paar Brüste und ein Becken nötig. „Ein Gerät, ich sag’s euch. Und weiß natürlich ganz genau was sie tut. Bestellt sich Spargel, das Luder. Schiebt ihn sich rein, mit den Köpfen voran. Ich hab fast die Tischplatte angehoben, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Luzie faltet ihre Banane wieder in die Schale zurück, ohne davon abgebissen zu haben. „Aber sonst ganz das brave Mädchen. Und ne Weile spiele ich da auch mit, hab den ganzen Abend gesmalltalkt, als säße ich da mit Tante Gisela. Aber als wir dann vor ihrem Haus standen, hab ich sie mir mal ein bisschen zur Brust genommen. Und sie hat auch mitgemacht, richtig ausgehungert war die. Aber dann guckt sie plötzlich wie ne Kuh,“ er stülpt Augen und Lippen vor, „und sagt ‚Das geht mir jetzt aber ein bisschen schnell.‘“ Er lässt die Faust auf die Tischplatte sausen, dass das Geschirr klirrt. „Hat es sich dann wahrscheinlich selbst gemacht. Frauen wissen echt nicht, was sie wollen. Dabei brauchen sie es alle. Das ist Biologie. Aber sie wollen eben auch die Unschuld vom Lande spielen. Das ist Kultur, Katholizismus, Puritanismus und Frauenbewegung.“ Er lacht dröhnend und ich fühle die Stuhlbeine unter mir weich werden.
Luzie sagt: „Na ja“, aber ich drücke ihre Hand unter dem Tisch, um sie zum Schweigen zu bringen. Ich weiß, dass eine Diskussion nur mit seinem Sieg enden kann, nicht durch k.o. oder irgendwie zählbare Treffer, sondern durch die völlige Zermürbung des Gegners. Niemand ist so ausdauernd wie Konny. Vor allem ich nicht. Luzie blickt mich kurz an und zieht ihre Hand aus der meinen. „Kann ich eben hier duschen?“, fragt sie und steht auf.
Ich nicke schwach. „Ist alles da, Handtücher und Zeugs und so. Du musst die Dusche über den Knopf da aufdrehen, sonst wirds nicht richtig warm. Warte, ich zeig’s dir ...“
Sie schüttelt den Kopf, „ach was, ich komm schon zurecht“, und lässt mich und meinen Vater alleine am Frühstückstisch zurück.
Er schlägt mir auf die Schulter: „Mensch, Junge, deine Luzie hat es aber auch faustdick hinter den Ohren. Ein echtes Weib. Die weiß, was sie will, mit ihrem hauchdünnen Hemdchen.“
Ich zerquetsche eine Kirschtomate auf meinem Teller, dass die glibschigen Kerne in alle Himmelsrichtungen spritzen. „Alles andere ist halt noch nass. Wir sind gestern in einen Regen gekommen.“
Mein Vater schweigt, während ich die Tomate zu Püree verarbeite. Dann höre ich ihn seltsam röcheln, als ob er weint. Als ich aufblicke, sehe ich, dass er lacht. Tränen dringen durch die zusammengekniffenen Lider und er schnaubt in kurzen Stößen durch die Nase.
Ich werfe die Gabel auf den Tisch und stehe erbost auf. „Was?!“
Er schüttelt den Kopf, sein Körper bebt. „Nichts, nichts. Es ist nur, du bist so naiv. Fällst voll drauf rein. Das war doch kein Zufall mit dem Regen. Dieses weiße Hemd und kein BH drunter – das ist ihre Jagduniform.“