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Jahr 1945: Vertreibung aus der Heimat

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02.02.2005
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Jahr 1945: Vertreibung aus der Heimat

Vertreibung aus der Heimat

Vertreibung aus der Heimat

Irgendwo in einem Dorf im Sudetenland.
Wir schrieben den 6./7. Mai 1945. Ganz in unserer Nähe hörten wir schweren Kanonendonner und Geschützeinschläge, die von der russischen Armee stammten. Die Truppen drangen immer weiter nach Westen vor.
Durch die vielen Flüchtlingstrecks aus Schlesien, die ein bis zwei Tage in unserem Ort Station machten, hatten wir bereits von den unmenschlichen Behandlungsmethoden der Russen erfahren. Von Plünderung, Verwüstung, Besetzung und Vergewaltigung war die Rede. Keiner von uns konnte die Grausamkeiten so recht glauben. Doch seit diesem Tag lebte die Angst mit unter unserem Dach.

Sollte jetzt alles auch hier Wirklichkeit werden?

Die Schlesier, die durch unseren Ort gezogen waren, kamen wieder zurück. Sämtliche Straßen gen Westen waren verstopft. Es gab kein Weiterkommen mehr für sie. Es blieb ihnen nur noch der Rückweg in ihre Heimat, auf dem sie allerdings von den Russen gestoppt, ihrer wenigen Habseligkeiten beraubt und geschändet wurden.
Was aus den Menschen geworden ist haben wir nie erfahren.

Zwei Tage später, am 08.05.1945, befand ich mich gerade bei Verwandten, die am anderen Ende des Ortes wohnten, als russische Kradmelder mit großem Lärm die Landstraße entlang fuhren.
Nun hieß es für mich auf dem schnellsten Weg nach Hause zu laufen. Würde ich es noch schaffe, unseren Hof zu erreichen, bevor die Panzer in unserem Ortsteil einfielen? Oder waren sie etwa schon dort? Was war mit meinen Eltern und meiner Schwester, die zu dieser Zeit auf dem Hof sein mussten?
Viele Fragen schossen mir durch den Kopf. Getrieben von der Sorge um meine Familie schlug ich im Laufschritt die Richtung zu unserem Haus ein.
Doch bereits an der Flussbrücke, die gesprengt war und von Fußgängern nur unter Mühe überklettert werden konnte, wimmelte es auf beiden Uferseiten von russischen Soldaten.
Kurz bevor ich unseren Hof erreichte, sah ich, dass einige Russen meinen Schulkameraden in die Zange nahmen. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen.
Verborgen hinter einem Baum beobachtete ich aus sicherer Entfernung, wie er seine Lederjacke auszog und einem der Soldaten übergab.
Was sollte das Bedeuten? Was hatten sie mit ihm vor? Und wie konnte ich ihm helfen, ohne selbst in Gefahr zu geraten?
Während ich noch zögerte, ob ich meine Deckung verlassen sollte, sah ich, wie einer der Männer meinem Freund die Uhr vom Handgelenk riss und ihn dann laufen ließ.
Erleichtert atmete ich auf und setzte meinen Weg nach Hause fort, ständig mit der Angst im Nacken, von den Russen angehalten zu werden.
Wie ich mich durch die Ansammlung von Soldaten schlängeln konnte, ohne weiter belästigt zu werden, ist mir heute noch ein Rätsel. Wahrscheinlich hat mein Schutzengel besonders gut auf mich aufgepasst.
Kaum hatte ich die Soldaten passiert, merkte ich, dass ich verfolgt wurde. Ein kurzer Blick zurück gab mir die Bestätigung. Die Männer holten stetig auf.
‚Jetzt aber die Beine in die Hand nehmen’, sagte ich mir und jagte nach Hause. Um den Verfolgern nicht zu zeigen, in welchem Haus ich wohnte, begann ich einen Zickzacklauf. Auch dies schaffte ich ohne einen Kratzer. Meine Todesangst hatte mir unsagbare Kräfte verliehen.
Zu Hause angekommen, schlüpfte ich schnell in die Wohnung. Vom Fenster aus konnten wir beobachten, wie ein Trupp russischer Soldaten langsam unseren Berg hinauf marschierte. Alle waren zu Fuß.
Bereits am Tag vorher hatten wir in unserem Viertel weiße Bettlaken an den Dachfenstern aufgehängt, zum Zeichen, dass wir uns ergeben und keinen Widerstand leisteten. Wir hatten Angst, die Eindringlinge könnten jeden erschießen, der ihnen in die Quere kam.

In unserer Nähe wohnte ein alter Mann. Er war schwerhörig und verstand nicht sofort, was die Eindringlinge von ihm wollten. Diese hatten es nur auf seine goldene Uhr abgesehen, die er am Handgelenk trug. Da der Mann zu lange zögerte, wurde kurzer Hand auf ihn geschossen. Die Russen nahmen seine Uhr und verließen gleich darauf das Haus.
Eine Stunde später wurde der alte Mann von seiner Nachbarin entdeckt. Er war elendig verblutet, nur weil er schlecht hörte.
So geschah es auch mit anderen Bewohnern, die nicht sofort die geforderten Utensilien, wie Uhren, Ketten und Ähnliches herausrücken wollten. Die neuen Machthaber verfehlten selten ihr Ziel.
Gegen Abend desselben Tages kamen die ersten Russen in die Nähe unseres Hauses. Meine Eltern und ich waren in der Küche, als sie uns überfielen. Sie wollten nach Herzenslust essen und trinken. Mutter musste sofort anfangen zu kochen. Während dessen flüsterte Vater uns Mädchen zu, ein paar Straßen weiter in das Haus von Bekannten zu fliehen. Dies waren alte Leute, und es war unwahrscheinlich, dass die Russen, die auf der Suche nach jungen Mädchen waren, dort so genau nachschauen würden.
Leise schlich ich hinaus und schlug mich bis zu ihnen durch. Kaum war ich in der Stube angekommen, polterte es schon an die Tür und vier russische Soldaten standen im Zimmer, Maschinenpistolen im Anschlag. So hielten sie uns in Schach, um in Ruhe alles durchsuchen zu können. Zusammengedrängt standen wir in der Ecke des Zimmers. In meiner Verzweiflung schrie ich: „Ich will zu meiner Mutti!“. Doch als einer der Russen seine Maschinenpistole anlegte und mich anschrie, verstummte ich sofort vor lauter Angst.
Nachdem sie alles auf den Kopf gestellt hatten, zogen sie wieder ab. Ich nahm allen Mut zusammen und ging über die Straße in das Nachbarhaus zu einer jungen polnischen Familie, die schon lange in unserem Ort wohnte.
Dort sollte ich mich verstecken. Die Frau half mir in einen Verschlag, der mit lauter Gerstengrannen gefüllt war. Hier musste ich hineinkriechen und mich ruhig verhalten, bis die Russengefahr für heute vorüber war.
Wer etwas von der Landwirtschaft versteht, wird wissen, wie unangenehm das ist, sich in den juckenden und stechenden Grannen einzugraben und auch noch still zu sein.
Plötzlich tauchte auch Mutter bei mir auf. Vater hatte sie zu uns geschickt, da auch sie zu Hause vor den russischen Vergewaltigern nicht mehr sicher war.
Wir hofften, abends wieder aus dem juckenden Haufen von Grannen befreit zu werden. Doch wir wurden enttäuscht. Drei Tage und drei Nächte mussten wir in dem Verschlag verbringen. Die Polin brachte uns, wenn es möglich war, etwas Milch und ein Stück trockenes Brot, damit wir nicht verdursteten.
Ihrem Mann gelang es durch Verhandlungen mit den russischen Soldaten, dass sein Haus von weiteren Durchsuchungen verschont wurde. So konnten wir wenigsten unser Versteck verlassen und zogen im Dachgeschoss in ein kleines Stübchen. Doch mussten wir uns dort leise verhalten, denn jeglicher Krach hätte unser Versteck verraten. Daher nutzen wir die Zeit, um Pläne für die Zukunft zu schmieden.
Abends hörten wir russische Stimmen auf dem Vorplatz. Schweißgebadet krochen wir hinter die Möbel, um ungeschoren davon zu kommen. Auch dieses Mal war es wieder dem polnischen Landsmann zu verdanken, dass die Männer abzogen, nachdem sie seine Wohnung durchsucht hatten.

Inzwischen wurde meinem Vater von einer Gruppe Polen befohlen, unsere herrlichen Pferde, es waren Hannoveraner, vor den Wagen zu spannen, um Kriegsbeute nach Polen zu fahren. Der Wagen war voll geladen mit geklauten Sachen, die deutsche Polen, oder polnische Deutsche, keine Ahnung wie man sagen sollte, mit zurück in ihre Heimat nehmen wollten.
Sie waren damals aus Polen nach Deutschland gekommen, da sie angaben Deutsche zu sein. Jetzt, nachdem sich die Lage für die Deutschen verschlechtert hatte, waren sie auf einmal wieder Polen, die in ihre polnische Heimat zurück wollten.
So mussten unsere beiden Pferde „Lisa“ und „Fux“ den beladenen Wagen mit Beutegut kilometerweit Richtung Polen ziehen. Wie Vater uns später erzählte, versuchte er unterwegs mehrmals auf die Polen einzureden, damit sie sich andere Pferde besorgten und ihn wieder nach Hause ließen. Die Tiere wurden immer schlapper, und das Futter war auch knapp geworden.
Doch die Antwort, die er von ihnen bekam, lautete: „Wir waren nun schon so lange in Deutschland. Jetzt kannst du auch mal mit uns nach Polen kommen.“ Dabei lachten sie unverschämt und bedrohten ihn mit dem Revolver, wenn er versuchte, mit ihnen zu verhandeln.
Nach einiger Zeit machte einer der Polen den Vorschlag, wenn Vater auf seine Pferde verzichtete, dann wollten sie selbst fahren, und er konnte abhauen. Sie hatten wahrscheinlich gedacht, dass Vater den Rückweg nicht lebend überstehen könne, da schon die Russen auf ihn lauern und ihn als Partisan erschießen würden.
Schweren Herzens und in Gedanken bei seiner Familie, für deren Schutz er verantwortlich war, verzichtete er auf unsere Pferde. Ohne Nahrung, immer auf der Hut vor den Rebellen, trat er seinen Rückmarsch an.
Wir, Mutter und ich, erfuhren von dem gefährlichen „Ausflug“ unseres Vaters erst nach einigen Tagen, als er erschöpft bei dem polnischen Ehepaar auftauchte.
Nach etwa vierzehn Tagen waren die Russen aus unserem Haus abgezogen, so konnten wir wieder zurück.
Aber, oh Schreck! Mutter stieß einen spitzen Schrei aus.
Was uns da erwartete, kann ich kaum beschreiben. Wir erkannten unser Wohnung nicht wieder. Alles war auf den Fußboden geworfen, Essensreste, Hühnerfedern, Knochen, Brot, Eier. Dies vermischte sich mit Bettfedern aus den zerrissenen Daunendecken. Die ganze Wohnung stank fürchterlich.
Sie hatten Hühner geschlachtet, und nur die besten Stücke gegessen. Die Überreste waren zum Teil schon verschimmelt und lagen überall herum. Es stank zum Himmel. Zum Glück hatten sie wenigstens unsere Schweine, Kühe und Hasen am Leben gelassen. Dafür gab es keine Eier, keinen Speck und kein Räucherfleisch mehr. Auch waren die Hälfte der eingekochten Wurstgläser hatten sie leer gegessen.
Wir durchsuchten unsere Schränke und stellten fest, dass die gute Kleidung geplündert und Wäsche und Geschirr mitgenommen worden waren.
Ganze Lastwagen voll Beutegut transportierten die Russen aus den Häusern ab. Nur Unrat, Dreck und Lumpen ließen sie zurück. Sogar schwere Möbelstücke wurden verladen.

Sie machten auch vor den Tieren keinen Halt und gaben Befehl, dass alle Kühe auf eine große Wiese gebracht werden sollten. Doch die Bauern waren schlauer. Viele, darunter auch unsere Familie, trieben das Vieh in die näheren Wälder, um nicht alles zu verlieren.
Doch das hört sich einfacher an, als es war. Die Tiere hatten keine Erfahrung im Almauf- und Almabtrieb. Sie wurden für gewöhnlich nur im Herbst auf die Weide gelassen. Den Mist, den sie lieferten, brauchten wir für unsere kargen Böden zum Düngen.
Wie die Verrückten sprangen sie herum. Es war schwer, eine Ordnung hineinzubringen. Jedes einzelne Tier musste, an einem Strick gebunden, in die Wälder geführt werden, denn sonst wären sie rennend und springend in alle Richtungen davongelaufen. Das war ein Zerren, Stoßen und Ziehen, bis wir endlich schweißgebadet im Wald anlangten.
Morgens wurden wir von „Geheimagenten“ unterrichtet, ob wir das Vieh im Stall lassen konnten, oder die ganze Prozedur wieder von vorne beginnen mussten. Zeitweilig mussten wir jeden zweiten bis dritten Tag raus in die Wälder.
Eines Tages hatte Mutter ihr Malheur mit einer jungen Kuh namens „Linda“. Sie war so temperamentvoll, dass sie Mutter umschmiss und noch ein ganzes Stück hinter sich herzog. Dabei zog sie sich schwere Prellungen zu, die ihr noch längere Zeit zu schaffen machten. Obwohl sie uns allen Leid tat, konnte keiner so richtig Rücksicht darauf nehmen. Irgendwie musste es weitergehen.
Nach Pfingsten kam zu unserem Schrecken die nächste Gefahr, die Tschechen.
Sie besetzten sämtliche wichtigen Ämter im Rathaus und ordneten an, dass alles, was die Russen nicht verschont hatten, nun bei ihnen beim „Naristuy Vibor“ (Gemeinde) abgeliefert werden sollte.
Natürlich gab es auch hier wieder Ausnahmen bei der Enteignung, von uns die „Bonzen“ genannt. Sie waren der Kommunistischen Partei beigetreten und wollten sich dadurch Vorteile verschaffen.
Diese Individuen verrieten Landsleute, oft sogar die eigenen Nachbarn, nur um selbst keine Unannehmlichkeiten von den Tschechen zu erhalten. Leute, die früher der NSDAP angehört hatten, wurden von ihnen angezeigt. Die Tschechen trieben dann die Männer und Frauen auf einem Platz zusammen, ließen sie im Kreis gehen und prügelten mit Holzscheiten und anderen Folterinstrumenten auf sie ein, bis sie unter Stöhnen und Schreien auf dem Boden liegen blieben.

Es war eine Stimmung, als herrsche Bürgerkrieg in unserem Dorf. Keiner konnte mehr dem anderen trauen. Auch bei Gesprächen, die man ja sowieso nur noch gelegentlich führte, musste man bei der Wortwahl und Lautstärke vorsichtig sein, denn der Feind hörte mit.
Es kamen neue Anordnungen, die wir zu befolgen hatten.
So war es nicht mehr gestatten, dass mehr als zwei Personen auf der Straße zusammenstehen durften.
Alle Deutschen mussten auf der linken Brustseite einen 10 x 7 cm großen weißen Kreis mit den „N“ anstecken, und zwar gut sichtbar. Das sollte jedem zeigen, dass wir Deutsche waren. Später wurden diese Kreise durch Armbinden ersetzt, damit man die „Deutschen“ auch von hinten erkennen konnte.

Die Tschechen konnten sich jetzt alles erlauben. Häuser, die ihnen gefielen, wurden besetzt und die früheren Besitzer vertrieben. Aber wenn man genauer hinsah, dann konnte man erkennen, wer sich hinter den „vornehmen Tschechen“ verbarg. Es waren frühere Knechte, Zigeuner, Ringelspielmänner, Drahtbinder und Ähnliche. Sie kamen in ausgelatschten Militärschuhen und zerrissenen Uniformen daher, meistens nur mit einem Karton unter dem Arm und markierten den großen Mann.
So kam auch „unser Tscheche“ Mitte August 1945 in unser Haus. Er zeigte uns einen Zettel, auf dem stand, dass er jetzt der Eigentümer dieses Hauses und der Landwirtschaft sei.
So einfach war das damals.
Vierzehn Tage später trafen dann seine Frau, mit den drei Söhne und der Tochter ein. Der Kleinste war fünf Jahre alt. Sie hatten wie alle Einwanderer nur zwei kleine Kartons bei sich.
Von nun an waren wir zehn Personen im Haushalt, für die Mutter alle kochen musste. Aber da war guter Rat teuer. Was sollte sie denn jeden Tag für so viele hungrige Mäuler auf den Tisch bringen? Schweine durften keine geschlachtet werden, Speck, Fett und Räucherfleisch waren vergraben und sind es noch bis heute. Das Mehl hatten wir in vielen Säcken oben in der Scheune hinter dem Stroh versteckt.
Doch alle Mühe war umsonst. Eines Abends kam Vater wütend aus der Scheune ins Haus.
„Jetzt haben sie auch noch unsere Mehlvorräte entdeckt. Bleibt nur noch das eine große Fass Sauerkraut für uns.“
Und das bedeutete, dass es von nun an jeden Tag Sauerkraut und Kartoffeln gab. Vater quetschte heimlich mit der elektrischen Schrotmühle Korn, Gerste und Weizen für Nachbarn, davon kochte Mutter „Reisbrei“. Was hatte das damals so gut geschmeckt. Dazu gab es eine Tasse Milch, und das war unser Mittagessen.

Obwohl es gefährlich war, holten wir uns trotzdem ab und zu eine Dose mit eingekochter Wurst aus dem Versteck. Dabei stand immer einer als Wache draußen. Diese Delikatesse wurde dann in unserem Zimmer, das wir mit Erlaubnis der Tschechen alle zusammen bewohnen durften, mit Genuss verspeist. Hier waren wir so gut wie sicher, denn die jetzigen Hausherren betraten diesen Raum nie offiziell.
Vater musste dem neuen „Besitzer“ sämtliche Felder zeigen. Doch wir glaubten nicht, dass er ihnen alle Wiesen und Äcker zeigte. Natürlich musste er für ihn arbeiten. Nebenbei bestellte er auch noch den Boden, von dem der Tscheche nichts wusste, damit die Felder nicht ganz verwahrlosen sollten, und wenn die Gefahr vorüber war, wieder von uns voll genutzt werden konnten. Denn zu dieser Zeit glaubte noch niemand den Unkenrufen, dass wir unsere Heimat auf Nimmerwiedersehen verlassen sollten.
Der Tscheche selbst wollte nur Geld machen. Den Viehverkauf tätigte er daher selbst. Die schwere Arbeit mussten wir für ihn erledigen.

An Weihnachten 1945 gibt es keine Erinnerungen mehr. Sicher waren es Tage wie alle andere auch, voll gepackt mit Arbeit.
Im Januar 1946 wurden in Dorf schon die ersten Transporte für die Vertreibung zusammengestellt. Es wurde also Ernst. Die Gerüchte bewahrheiteten sich.
Am 27.02.1946 abends gegen 18.00 Uhr wurde uns ein Zettel überreicht. Darauf stand der Befehl, dass wir uns morgen früh um 8.00 Uhr im katholischen Vereinshaus einzufinden hatten. Mitnahme von 50 kg Gepäck pro Person war erlaubt. Alles sollte mit einer großen „17“ beschriftet sein.
Vater war am Nachmittag bei unserer Nachbarin, um ihr eine Kiste zum Verstauen ihrer Sachen zu bauen, die sie bei einer eventuellen Vertreibung mitnehmen wollte. Schnell liefen wir hinüber, um ihn vom erhaltenen Befehl zu unterrichten.
„Vater komm schnell, wir müssen morgen früh fort.“
Das war ein Schock. Wir suchten zu Hause erst einmal große Säcke, in die wir unsere Sachen verstauen wollten. Säcke waren natürlich besser zu transportieren als Kisten und sie waren längst nicht so schwer. Handgepäck sollte frei sein. Also kamen noch Rucksäcke hinzu.
Mutter war kaum in der Lage an alles zu denken. Daher war es an mir, alle Vorkehrungen zu treffen. Kinder verkrafteten so etwas doch besser, obwohl wir wussten, dass es keine Abenteuerreise werden würde. Dafür hatten wir schon zu viele Gerüchte aufgeschnappt.
Bis abends um 20.00 Uhr blieb uns Zeit zum Packen, dann löschte der Tscheche das Licht und wir mussten aufhören und uns ruhig verhalten.

Am nächsten Morgen um 8.00 Uhr sollte die Reise ins Ungewisse beginnen.

 

Hallo bambu,
du hast die Erlebnisse deine Oma (oder von wem auch immer) so wahrheitsgemäß wie wiedergegeben, wie sie dir erzählt wurden, weil du an die Schrecken dieser Zeit erinnern willst. Klasse! Dabei bist du beim Erzählen geblieben. Geschichten leben davon, dass du Details zeigst, die für den Leser mit allen Sinnen und Gefühlen wahrnehmbar werden. Wenn du ein paar nebensächliche Details, welche die Geschichte lebendiger werden lassen, ausschmückst, leidet die Authenzität keineswegs. Im Gegenteil, der Leser erlebt die Schrecken, auf die du hinweisen willst, noch intensiver. Also zeigen, statt erzählen oder show, don't tell. Beispiel:

"Ich werde den Abend des 8. Mai 1945 niemals vergessen können. Morgens hatten wir beobachten, wie die ersten russischen Soldaten langsam unseren Berg hinauf marschierte. Seitdem hatten meine Eltern und ich das Haus nicht verlassen. Als wir uns gerade zum Abendbrot setzten wollten, hörten wir, wie sich energische Schritte näherten. Mein Vater warf durch die Gardine einen vorsichtigen Blick nach draußen. Als er sich umdrehte, war er blass.
"Lauf rüber, zu den Krakowkis", flüsterte er mir zu. "Die werden dich verstecken. Schnell, durch den Garten!"
Meine Mutter steckte mir eine Scheibe Brot zu. Ich rannte zur Hintertür hinaus. Im Dunkeln stolperte ich über eine Baumwurzel, aber ich spürte keinen Schmerz. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich rappelte mich wieder auf, sprang über den Gartenzaun in den Garten unserer polnischen Nachbarn, hämmerte mit der Faust gegen deren Tür. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die junge Frau aufmachte. Ich stotterte: "Die, die R-russen!"
Sie nickte und führte mich sofort zu einem Verschlag voller Gerstengrannen. Ohne zu zögern quetschte ich mich hinein. Die Grannen juckten und kratzen an meinen Armen, Beinen, im Gesicht. Doch ich dachte daran, was Maria mir erzählt hatte. Das Mädchen aus Schlesien war in meinem Alter gewesen. Auf der Flucht aus Schlesien war sie mit ihrer Familie durch unser Dorf gekommen."

Während deine Prot in dem Verschlag wartet, immer mehr Durst und Hunger hat und es juckt und kratzt, geht ihr durch den Kopf, was sie erlebt und gehört hat. Hier kannst du in Rückblenden die anderen Episoden einbauen. Ok., vielleicht klingt das für dich zu dramatisch. Aber ich hoffe, du verstehst die Richtung: konkrete Details, Namen, Sinneswahrnehmungen.
Alles klar?
viel Spaß dabei
tamara

 

geschichte wird für die nachwelt durch text erst konstruiert. deswegen hat man da als autor eine grosse verantwortung, der du meiner meinung nach nicht gerecht wirst.

worum geht es dir in deiner geschichte. um die gefühlslage eines menschen der vertrieben wird?

nun dafür könnte sogar die kg-form geeignet sein, wenn du den inhalt auf eine persönliche, pointierte geschichte reduzierst.

oder geht es dir um dokumentation historischer ereignisse ? nun dafür ist dein text im moment nicht geeignet. warum? weil er zu kurz ist. weil er nicht auf die komplexität der ereignisse, auf vorgeschichten und bedingungen eingeht.

im moment haben wir eine episode aus der perspektive eines naiven(im besten sinne) kindes durchwoben mit der erzählerstimme eines effektsuchenden, kurzsichtigen erwachsenen.

als (noch zu) reflektierende romanepisode meinetwegen geeignet, als kurzgeschichte ungeeignet.

 

Hallo tamara,
hallo Harkhov Syndrom,

vielen Dank für eure Kritik.

@ tamara
Vielen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, einen Teil meiner Geschichte nach deinen Gesichtspunkten zu schreiben.
Ich würde sagen, es ist für einen Außenstehenden leichter, eine wirkliche Geschichte daraus zu machen. Mir liegt die Vertreibungsgeschichte meiner Mutter vor und ich habe wahrscheinlich Angst, zu viel hineinzudichten, Angst davor, die eigentlichen Ereignisse zu verfälschen.
Gut, wenn ich mir deinen Verbesserungsvorschlag durchlese, muss ich sagen, sehr gut geschrieben. Hätte mir auch einfallen können und verkitscht die Realität überhaupt nicht.
Ich glaube mein Fehler ist, dass ich mich zu sehr an die vorhandenen Ereignisse halte und vor der dichterischen Freiheit etwas zurückschrecke. Ich muss mich wohl von der Lebensgeschichte mehr lösen und auch mal Mut zeigen, einige erfundene Ausschmückungen hineinzubringen.
Ich werde mir die Geschichte nochmals durch den Kopf gehen lassen.

Zunächst mal vielen Dank für dein Feedback.

@ Harkhov Syndrom
Du hast Recht mit deiner Behauptung. Es hört sich wirklich mehr nach einer Dokumentation an. Wenn du dir die Antwort auf tamaras Kritik durchliest, findest du schon einen Teil meiner Antwort auch auf deine Kritik.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, einen bestimmten Teil der Handlung, der gegen Ende passiert, vielleicht sogar den letzte Abend vor der Vertreibung, zu schildern und dann die dokumentierten Ereignisse als Rückblenden einfließen zu lassen.
Ich nehme an, dass ich dich so richtig verstanden habe.

Also wie ich sehe, gibt es immer noch kritische Punkte in der Geschichte, die ich nochmals angehen sollte.

Bis bald
bambu

 

Diese Geschichte ist eine Geschichte vom Hörensagen, ja mehr noch, in ihr selbst werden Geschichten vom Hörensagen erzählt. So wird von Vergewaltigungen erzählt, aber niemand wird wirklich vergewaltigt. Es wird davon berichtet, dass ein alter schwerhöriger Mann erschossen worden ist, weil er seine goldene Uhr nicht herausgeben wollte, aber es war niemand dabei, denn die Nachbarin fand ihn erst eine Stunde später tot.
Ich will nicht weiter auf die Einzelheiten eingehen, die subjektiv so gesehen werden konnten. Und okay, es ist ein Tatsachenbericht, erzählt im Nachhinein von einer Frau, die damals ein junges Mädchen war, aber muss das wirklich in diesem Stil und zudem total unreflektiert wiedergegeben werden? Es mag sein, dass die Geschichte wortwörtlich so der Autorin erzählt worden ist, aber muss sie denn genauso weiter erzählt werden? Der Text ist unbeholfen erzählt und entspricht dem Niveau einer Schülerin bis max. 8.Klasse, und es ist mir ein Rätsel, wieso er trotzdem empfohlen werden konnte.
Dies wäre anders zu beurteilen, wenn die Geschichte unmittelbar nach der Vertreibung von eben diesem Mädchen oder wenigstens im Stil dieses Mädchens – der Icherzählerin - niedergeschrieben worden wäre, aber dem widersprechen Sätze wie „An Weihnachten 1945 gibt es keine Erinnerungen mehr. Sicher waren es Tage wie alle andere auch, voll gepackt mit Arbeit.“, die belegen, dass aus großer zeitlicher Distanz berichtet wird.
Und obwohl soviel Zeit seitdem vergangen ist, bleibt die Sprache die von damals: Die Russen und Tschechen sind immer noch Rebellen und der Feind hört nach wie vor mit.
Mehr ist dazu nicht zu sagen.

 

Hallo Sirius,

tut mir leid, dass dir die Geschichte nicht gefallen hat.
Mehr habe ich nicht dazu zu sagen.

Viele Grüße
bamub

 

Hallo Sirius,

tut mir leid, dass dir die Geschichte nicht gefallen hat.
Mehr habe ich nicht dazu zu sagen.


Hallo Bambu,

du machst dir schon ein bisschen einfach, wenn du meinst, meine Kritik ließe sich auf ein simples Nichtgefallen reduzieren, schließlich habe ich Beispiele gebracht und damit die Kritik auch begründet.
Das Einzige, was ich nicht begründet habe, ist die Behauptung, das Niveau der Geschichte wäre das einer Schülerin der 8.Klasse, weil ich meinte, dass wäre so offensichtlich, dass man keine Beispiele nennen müsste.
Das will ich gerne anhand des Anfangs deiner Geschichte nachholen:

Zwei Tage später, am 08.05.1945, befand ich mich gerade bei Verwandten, die am anderen Ende des Ortes wohnten, als russische Kradmelder mit großem Lärm die Landstraße entlang fuhren.
Nun hieß es für mich auf dem schnellsten Weg nach Hause zu laufen.Würde ich es noch schaffen, unseren Hof zu erreichen, bevor die Panzer in unseren Ortsteil einfielen? Oder waren sie etwa schon dort? Was war mit meinen Eltern und meiner Schwester, die zu dieser Zeit auf dem Hof sein müssten?
Abgesehen von den 2 Grammatikfehlern, ist der fett geschriebene Satz eine typische - und unbeholfene - Formulierung, die man aus den Schulaufsätzen kennt.


Viele Fragen schossen mir durch den Kopf. Getrieben von der Sorge um meine Familie schlug ich im Laufschritt die Richtung zu unserem Haus ein.
Doch bereits an der Flussbrücke, die gesprengt war und von Fußgängern nur unter Mühe überklettert werden konnte, wimmelte es auf beiden Uferseiten von russischen Soldaten.
Kurz bevor ich unseren Hof erreichte, sah ich, dass einige Russen meinen Schulkameraden in die Zange nahmen. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen.
Dass der Icherzählerin viele Fragen durch den Kopf gingen, wissen wir bereits aus dem vorigen Absatz, und bei dem Satz „Doch bereits …“ dachte ich, die Icherzählerin kann nicht weiter gehen, aber es ging trotzdem weite; hier wäre es besser, auf das anfängliche „Doch“ zu verzichten.
Dann wird unvermittelt vom „meinen Schulkameraden“ so gesprochen, als ob er dem Leser schon bekannt sein müsste; wenn schon, dann müsste es heißen „einen meiner Schulkameraden“.


Meine Todesangst hatte mir unsagbare Kräfte verliehen.
Zu Hause angekommen, schlüpfte ich schnell in die Wohnung. Vom Fenster aus konnten wir beobachten, wie ein Trupp russischer Soldaten langsam unseren Berg hinauf marschierte. Alle waren zu Fuß.
Bereits am Tag vorher …
Abgesehen davon, dass der fett geschriebene Satz überflüssig ist – wenn Soldaten (langsam) marschieren, dann sind sie zu Fuß -, wird der Bericht über das aktuelle Geschehen mit „Bereits am Tag vorher …“ abgebrochen und nie wieder fortgesetzt. Der Leser weiß also nicht, was in der Folge passiert ist – immerhin marschiert gerade ein Trupp Soldaten auf das Haus zu -, obwohl man kurz zuvor noch beinahe jeden Schritt und jeden Gedanken der Icherzählerin mitgeteilt bekam.
Das kann einer alten Frau, deren Erinnerungen ein wenig durcheinander geraten sind, beim erzählen schon passieren, aber das darf nicht so stehen bleiben, jedenfalls nicht in einer Geschichte, die uns hier empfohlen wird und sogar den dritten Platz bei der Wahl zum Top2005 gemacht hat.
Sollte so etwas aber normal sein, dann bin ich hier wahrscheinlich falsch.

Sirius

 

Hallo Sirius,

oh, oh, da hat sich jemand aber Mühe gemacht, um mir zu verdeutlichen, dass die Geschichte auf dem Niveau der 8.Klasse geschrieben ist.
Also, komme ich nicht drumherum, um Stellung zu nehmen. Eigentlich gibt es nur wenige Punkte, die ich erwähnen möchte.
1. handelt es sich um eine Geschichte, die ich vor 2 1/2 Jahren geschrieben habe. Wenn ich deine aufgeführten Punkte lese, dann muss ich dir in manchen Dingen Recht geben. Ich würde heute, nachdem ich hier im Forum ständig dazulerne, den Text wahrscheinlich auch nicht mehr in dieser Art und Weise schreiben.
2. Die Geschichte war mit meine erste, oder überhaupt die erste, die ich im Genre "Historik" geschrieben habe. Mittlerweile habe ich mich für andere Art von Texten entschieden, für ein anderes Genre.
3. Ich habe eigentlich nicht mehr vor, an dieser Geschichte zu arbeiten. Zum einen fehlt mir die Zeit, mich noch im schon fast vergessene Texte zu kümmern. Und zum anderen ist es auch ganz spannend, mal Geschichten zu lesen, die man in früheren Zeiten geschrieben hat. Man hat da am ehesten einen Vergleich dazu, wie man damals geschrieben hat und wie man es heute tut.
4. Du schreibst in deinem vorletzten Satz so, als wäre ich dafür verantwortlich, dass meine Geschichte in die Empfehlungen und dann auch noch auf den dritten Platz gekommen ist. Das lag leider nicht in meiner Hand. Empfehlen kann ich mich als Autor ja nicht selbst, und das hätte ich auch nie gemacht. Beschweren musst du dich dann an anderer Stelle.

So, ich hoffe, dass ich dir meinen Standpunkt ein bisschen verdeutlichen konnte.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo Are-Efen,

entschuldige, dass ich Sirus vorgezogen haben.
Nichts desto weniger habe ich mich über deinen Kommentar gefreut. Der rote Faden war eigentlich nur die Geschichte des Mädchens, die mir mal erzählt wurde. Alles andere war nur Ausschückung, die allerdings schon in diese Zeit hineinpasste.
Dafür ist das ganze ja als "Geschichte" zu sehen und nicht als "Historik". Und wie du schon richtig geschrieben hast, soll der Text hauptsächlich dazu dienen, dass jemand diese Zeit ein wenig festhält, dass sie auch noch für weitere Generationen greifbar ist.

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo bambu,
Spannende Geschichte, die Lust aufs Weiterlesen macht. Besonders Anfangs finde ich alles sehr gelungen. Der zweite Teil ist etwas distanzierter und ein bißchen zu Zeitraffer-artig. Besonders das Zusammenleben mit den Tschechen hätte mich interessiert. Konnten die Kinder tschechisch, oder die tschechischen Kinder Deutsch? Da muss doch sehr viel passiert sein.

Der Kleinste war fünf Jahren alt.
Jahre
Für uns selbst nahmen wir die Gefahr auf uns,
2 x uns

lg
Bernhard

 

Hallo Bernhard,

vielen Dank für die positive Kritik. Die hat mir sehr gut getan.
Wenn ich das Zusammenleben auf dem Hof mit den Tschechen noch etwas ausführen soll, dann muss ich meine Quelle noch einmal anzapfen. Vielleicht kann ich noch einiges mehr erfahren.
Übrigens gibt es noch eine Fortsetzung, falls du noch ein bisschen mehr erfahren willst. Es geht darin um die Fahrt in die "neue" Heimat.
Jahr 1946: Der Weg in die ungewisse Zukunft

Die beiden Fehler werde ich noch ausbessern.

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.
Viele Grüße
bambu

 

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