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Jahreszeiten im Abgrund
Tank ist noch nicht da, also müssen wir warten, das sind wir unserer Freundschaft schuldig. Aber ein Bierchen genehmigen wir uns trotzdem, und die alten Slayer-Scheiben dürfen wir auch hören, spricht ja nichts dagegen. Also legt Mark „Reign in Blood“ auf, zum hundersten Mal, und ich frage mich, ob das neue Album genauso kompromisslos und hart sein wird wie dieses. Auf dem Cover ist ein großer Totenkopf mit umgedrehten Kreuzen zu sehen, das ist schonmal gut. Und die Titel klingen verheißungsvoll: „War Ensemble“, „Dead Skin Mask“, „Seasons in the Abyss“, Dunkelheit, Nacht, so soll es sein.
„Was heißt Abyss?“, frage ich Mark und er stellt die Dose Bitburger auf seinem Schreibtisch ab, auf dem Schulbücher und Stifte liegen, stellt sie mitten auf sein aufgeschlagenes Matheheft, in zwei Wochen ist Prüfung, das Bier wird einen Rand lassen, ein Zeichen des Protests zwischen den Formeln und Zahlen, den Versuchen, die Wirklichkeit in ein System zu zwingen, mitten in der schönen Ordnung der ganzen Schule, dieses verdammten Dorfes. Mark nimmt das Wörterbuch, fährt mit dem Finger über die Seite.
„Abgrund“, ruft er und ich bin sofort ergriffen, blicke nochmal auf die Liste der Titel: „Seasons in the Abyss“, Jahreszeiten im Abgrund, ja, das hat was. Und ich denke an dunkle Schluchten, Fantasielandschaften, denke daran, wie die Sonne in der Ferne untergeht, die Schatten auf den Felsen länger werden, wie Kälte hinaufkriecht und die Wüstenhitze vertreibt, sie war immer da, heimlich, aber jetzt übernimmt sie das Kommando, Kälte und Dunkelheit, der Tag ist vorbei. Ich nippe an meinem Bier und blicke aus dem Fenster. Die Sonne geht auch hier unter, der Wald sieht fast bläulich aus. Mark zerdrückt seine Bierdose und ich schüttele meine Büchse: Sie ist noch halbvoll. Und in dem Moment hören wir, wie unten die Bremsen von Tanks Fahrrad quietschen. Jetzt wird er das Rad abstellen, Marks Mutter wird ihm die Tür öffnen, Tank wird die Treppe hochmarschieren und dann werden wir endlich wissen, wie Jahreszeiten im Abgrund klingen.
„Ihr habt ja schon mit dem Saufen angefangen“, ruft Tank, als er ins Zimmer kommt, aber wir hören kaum, was er sagt, und das weiß er ganz genau, denn wir sind gefangen von dem, was wir sehen: Tank trägt eine Lederjacke.
Er hat es tatsächlich getan: Am Tag nach der Konfirmation ist er in die Stadt gefahren und hat all das Geld von seiner Verwandtschaft für die Lederjacke ausgegeben, die wir zehntausendmal bewundert haben, im Fenster des Motorradladens, dreihundertzwanzig Mark hat er auf den Tresen gehauen und da ist sie, schwarz, voll mit dicken Reißverschlüssen und schweren, silbernen Knöpfen.
„Wie geil ist das denn?“, ruft Mark.
Und Tank grinst, er sieht breit und kräftig aus in der Jacke, das weiß er, hat er bestimmt vorm Spiegel ausprobiert, und zum ersten Mal spüre ich, dass wir richtige Rocker sein können, wenn wir wollen, dass wir ernst genommen werden können in der Schule, im Dorf und sogar in der Stadt. Nach Weihnachten werde auch ich das Geld beisammenhaben, und dann kaufe ich mir die gleiche Jacke und Mark vielleicht auch, dann werden alle sehen, dass wir eine Einheit sind mit unseren Lederjacken und unseren langen Haaren, eine verschworene Armee.
„Sieht cool aus“, ruft Mark und Tank zurrt ein bisschen an der Jacke herum, er fühlt sich noch nicht so ganz wohl darin und sieht erleichtert aus, als ich ihn frage, ob ich sie mal anprobieren darf.
Die Jacke ist schwer und das dunkle Leder riecht herb. Mit dem Gewicht auf meinen Schultern fühle ich mich ein bisschen wie ein Zwerg, der in einem Meer aus Leder und silbernen Knöpfen versinkt, aber Mark und Tank sehen mich ernst an, nicken anerkennend, und ich drücke mein Kreuz durch und fühle mich gut. Dann reiche ich die Jacke an Mark weiter, er ist der Kräftigste von uns dreien und kann fünf Dosen Bier an einem Abend trinken, mir wird schon nach der dritten schwindelig.
„Warm in dem Ding“, murmelt er, aber ich sehe, dass es ihm gefällt. Nach Weihnachten werden wir alle so eine Jacke haben, vielleicht mache ich auch einen Aufnäher auf den Ärmel, von Slayer oder Metallica.
Als das Album endlich läuft ist es dunkel draußen. Mark hat zwei Kerzen angezündet und plötzlich geschieht etwas in dem Zimmer. Seine Mutter ist in die Stadt gefahren und wir haben die Anlage voll aufgedreht; Gitarrenriffs schneiden durch die Luft, das Schlagzeug drischt auf unsere Schädeldecke ein und die Schreie des Sängers dringen hinein in unsere Seelen, rütteln uns auf, es ist, als würde pure Energie aus den Boxen stoßen, in unsere Körper hinein, und wir können nicht anders, erst sitzen wir im Schneidersitz auf dem Boden und nicken zum Takt, aber irgendwann steht Mark auf und schüttelt seinen Kopf, so wie wir es in den Videos auf MTV „Headbanger’s Ball“ sehen oder im Rockpalast, wo wir manchmal Samstags hingehen. Ich muss lachen und Mark lacht auch, aber dann stehen auch Tank und ich auf und schütteln unsere Haare, meine gehen mittlerweile bis zum Kinn, seit kurzem kann ich mir einen Zopf machen, und wir schwingen unsere Mähnen zu Slayer, und Tank spreizt Zeigefinger und kleinen Finger von der ausgestreckten Faust ab, während er in der anderen die Bierbüchse hält. Er trägt die Lederjacke, es ist genau wie in den Videos, und ich denke: Jetzt gibt es kein Zurück mehr. In dem Moment ist es, als wären wir eine Bande von Verstoßenen, wir hausen im Wald, wo wir die Trupps des Sheriffs überfallen, uns über ihr Gold hermachen, und Abends sitzen wir ums Lagerfeuer und essen mit unseren bloßen Händen von Fett triefendes Fleisch. Und ich merke, dass da noch etwas anderes ist im Zimmer, etwas Uraltes, eine Präsenz, als wären wir in dunkle Zeiten hinabgestiegen, in eine Höhle, Menschen, die zum ersten Mal ihre Stärke erfahren gegen die wilden Tiere, die Unwetter und die Welt dort draußen, die im flackernden Licht des Feuers den Rausch auskosten, und in dem Moment ist die Schule mit all den Klausuren und Hausaufgaben wie auf einem anderen Planeten.
Draußen ist die Luft kühl geworden, Tank zieht am Reißverschluss seiner Lederjacke und wir schieben unsere Räder. Mark geht noch ein Stück mit, zur Tankstelle, Kaugummi und Chips kaufen, bevor wir uns trennen müssen und jeder seinen Weg nach Hause geht, morgen ist wieder Schule. Es ist still auf den Straßen, kaum ein Auto fährt noch in diesem Kaff, nur unsere Schritte und das Quietschen der Fahrräder in der Nacht, aber in unseren Ohren klingt noch die Musik. Vor uns die Lichter der Tankstelle, und daneben im Dunkeln die Bushaltestelle, von der aus wir immer in die Stadt fahren. Auf einer Bank sitzen zwei Gestalten, mit dem Rücken zu uns und rauchen. Als wir näherkommen, sehen wir, dass es Björn und Teufel sind. Ich schlucke und habe das Gefühl, dass der Takt nicht mehr stimmt, dass wir drei plötzlich in unseren Bewegungen stocken, dass wir aus unserer Welt hinausgerissen und in eine andere Wirklichkeit hineingestoßen werden. In dem Moment dreht sich Teufel um, er hat etwas gehört, blickt angestrengt in die Dunkelheit. Wir sind schon so nah gekommen, dass er uns sehen kann und nun grinst er blöd und stößt seinen Kumpel an, nickt rüber zu uns und da blickt auch Björn zu uns her, steht sofort auf und zieht an seiner Zigarette.
„Na sowas, die Mädchen sind noch unterwegs,“ ruft er und bläst den Rauch in die Luft. Das ist seine neueste Idee, uns Mädchen zu nennen wegen unserer Haare.
„Müsst ihr nicht nach Hause, zu Mama? Oder für die Schule lernen?“ Wir gehen einfach weiter, tun so, als bemerkten wir ihn nicht, aber ich spüre, wie unsere Schultern herabsacken. Jetzt sind wir nicht mehr die stolze Armee, jetzt sind wir ein Rudel von Hunden, die immer wieder verprügelt werden. Wir gehen weiter auf die Tankstelle zu, ich wünsche mir, wir würden über irgendwas reden, unsere Stille verrät uns, aber mir fällt nichts ein.
Und plötzlich kichert Teufel los, vom ganzen Rauchen ist seine Stimme kratzig geworden: „Guck Dir mal die Jacke an, Alter!“, ruft er und stößt Björn in die Rippen, seinen Meister, und der beugt sich ein wenig vor, sieht Tanks Jacke und lacht sein unechtes Lachen, wahrscheinlich kann er gar nicht fröhlich sein.
„Ne Lederjacke! Seid ihr jetzt richtige Rocker oder was? Tank, komm mal her, gib mir die Jacke!“, aber wir gehen weiter, an der Tankstelle vorbei, beachten sie nicht, und ich spüre, wie es in meinem Kopf brennt vor Scham.
„Gib mir die Jacke, hab ich gesagt“, ruft Björn und plötzlich landet eine Bierflasche neben uns, explodiert auf dem Asphalt und ich zucke zusammen, wende mein Gesicht ab, weil ich keine Splitter ins Auge bekommen will. Wir schieben unsere Räder, einfach weiter, nicht beachten, aber etwas stimmt nicht, Mark bleibt stehen. Ich drehe mich zu ihm um, will, dass er weitergeht, aber er bewegt sich nicht und ich habe sein Gesicht noch nie so gesehen wie jetzt, voller Entschlossenheit. Er ist ganz ruhig, dreht sich um, hebt den Hals der Bierflasche auf aus all den Scherben, springt plötzlich vor und feuert ihn in Richtung der zwei Idioten, er wirft mit viel Kraft und Björn muss den Kopf einziehen, mit Panik auf dem Gesicht, die Scherbe hätten ihn fast getroffen, aber jetzt zersplittert sie auf der Straße, und Björn und Teufel gucken uns mit großen Augen an. Mist, denke ich, jetzt sind wir dran, aber sie machen gar nichts, starren uns nur verdutzt an und da merke ich, dass die Zeit vorbei ist, in der wir uns von denen was gefallen lassen, etwas ist doch noch da von der Räuberbande, die im Wald haust.
„Pass bloß auf“, ruft Björn, aber es klingt nicht mehr so überzeugt. Und plötzlich lacht Mark, das ist ein echtes Lachen, er streckt den beiden seinen Mittelfinger entgegen, und wir lachen mit, drehen uns um und ich muss mir Mühe geben, mich nicht umzublicken, ob uns die beiden nicht folgen, ob sie nicht eine weitere Bierflasche schmeißen, aber ich schaue geradeaus weil man das so macht, wenn man gewinnt. Und wir reden über das neue Slayer-Album, nicht über die zwei Idioten da hinten, und erst als wir um die Ecke gebogen sind, sage ich: „Hoffentlich verprügeln die uns nicht, wenn die einen von uns alleine sehen.“
Aber Mark zuckt nur mit den Schultern und sagt: „Dann verprügeln wir sie eben das nächste Mal.“
„Genau“, sagt Tank, aber es klingt etwas unsicher.
Mark will sich bald zum Boxen anmelden. Vielleicht mache ich das auch, denke ich, als ich auf mein Rad steige und wir uns Gute Nacht gewünscht haben, und ich lache plötzlich wieder, während das Licht meiner Fahrradlampe auf den Weg scheint, vielleicht ist es das Bier, aber ich fühle mich frei, und in dem Moment weiß ich, dass alles möglich ist, wenn wir nur zusammenbleiben. Dann stelle ich mir vor, wie ich im Rockpalast irgendwann mal ein Mädchen ansprechen und ihr ein Bier ausgeben werde, das nehme ich mir fest vor, aber noch nicht für nächste Woche, nichts überstürzen, erst nach der Matheklausur.