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Jake

DoT

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08.07.2007
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Jake

Nun stand Jake da, ein Messer in der Hand, auf der Fensterbank im 27sten Stock, drei Packungen Schlaftabletten und eine Pistole in den Taschen und einen Strick um den Hals geknüpft. Hinter ihm, in der Wohnung, loderte das Feuer, das er gerade gelegt hatte, nachdem seine Eltern zum Einkaufen gefahren waren, und er hörte das leise Ticken des Sprengsatzes, den er gebastelt und in dem Holzkasten, neben dem er auf dem Sims balancierte, verstaut hatte. Für einen 10jährigen war Jake wirklich bemerkenswert.
Konzentriert befestigte er das andere Ende des Seils um seinen Hals am oberen Teil des Fensterrahmens mit einem sicheren Schifferknoten, den er sich extra zu diesem Zweck beigebracht hatte, schließlich sollte diesmal nichts schiefgehen. Es folgte ein prüfender Blick auf die Uhr, 57, um drei Minuten nach kam der Zug. Sonst, wenn er alle Hausbewohner weckte, weil die Schienen direkt am Gebäude vorbeiführten, war er stets pünktlich, auch mitten in der Nacht.
Schließlich setzte Jake sich, es blieb ja noch etwas Zeit. Stirnrunzelnd überflog er noch einmal die Packungsbeilagen der Tabletten...wenn nicht allein die Überdosis ausreichen würde, blieben die Wechselwirkungen untereinander - er hatte peinlich genau auf diesen Umstand geachtet. 58. Jake krempelte die Ärmel des Kapuzenshirts hoch, gerade als er das erste Martinshorn erklingen hörte. Nun würde sich zeigen, wie gut die Arbeit, die er geleistet hatte, denn wirklich war. Diese Seite des Hauses würden die Einsatzkräfte kaum erreichen, sie war von der Bahngesellschaft gut genug abgeriegelt worden, nachdem ein Kind von einem Zug erfasst worden war. Die Wohnungstür war mit zwei Schränken zugestellt, den Aufzug hatte er ebenfalls angehalten, im obersten Stockwerk, wo niemand wohnte. Ein simpler Ziegelstein in der Tür blockierte den Schließungsmechanismus. Die Treppe glänzte von 8 Litern Bohnerwachs, die Stahlpforte zum zweiten Treppenhaus war ohnehin von einem Vorhängeschloss verriegelt, das er mit einer Tasse Klebstoff übergossen hatte, so dass auch der Hausmeister niemandem öffnen könnte. Nein, in 4 1/2 Minuten würde niemand diese Etage von Außen betreten, auch nicht über die seit Wochen kaputte Feuertreppe an der Fassade. Selbst die Mechanismen der hauseigenen Löschanlage hatte Jake in der eigenen Wohnung unbrauchbar gemacht.
Dennoch hatte Jake, der Perfektionist von 1.40m, kein Gefühl für das Ausmaß seiner Vorkehrungen. Professionalität war immens wichtig, das hatten ihm seine Eltern in die Wiege gelegt, und so zweifelte er trotz Allem ein wenig an seiner Planung. 59. Wieso trug er keine Funkuhr? Schon hatte er einen Fehler gefunden, auch noch einen derart offensichtlichen. Was half ein ideales Konzept, wenn man es nicht bis in die Details durchdachte und umsetzte? Frustriert knirschte er mit den Zähnen und überlegte, ob das Feuer das Schlafzimmer und damit den Funkwecker seiner Eltern wohl schon erreicht haben sollte. Eine Überschlagsrechnung sagte ja. Was für ein Tag, dachte Jake bei sich, alles ging mal wieder schief. Noch drei Minuten. Er packte die ersten Tabletten aus und schluckte sie hektisch, verschluckte sich einmal, zweimal. Vielleicht doch vorher kauen. Seine Finger zitterten, und er zog die Ärmel gegen den kühlen Abendwind wieder herunter. Sekunden später fühlte er seinen Magen rebellieren. Medikamente nehmen ohne vorher etwas gegessen zu haben war tatsächlich nicht allzu sinnvoll, da hatte Mutter recht gehabt. Die erste Packung war leer. Leicht schwindelig widmete er sich der nächsten. Eine Minute nach, noch eine Packung übrig. Jake weinte. Er warf die restlichen Tabletten weg. Plötzlich wollte er sie nicht mehr. Der Perfektionismus war jetzt sowieso egal. Seine kleine Hand zog die schwere Waffe aus der Tasche, die Finger umklammerten das kalte Metall, erst sachte, dann entschlossener. Jake übergab sich. Weißer, pulveriger Brei und Galle fielen hinab. Er schüttelte das klamme Gefühl ab, rieb sich die Augen, zog den Abzugshahn nach hinten. Seitlich an den Schädel oder in den Mund? Er wusste es nicht mehr, dabei hatte er es sich doch aufgeschrieben. Jake schluchzte. Wo war Mum? Einkaufen. In den Mund. Seine Lippen stülpten sich über den Lauf. Noch zu früh, erst zwei nach. In dem Holzkasten tickte es. Seine Zähne knirschten wieder, diesmal auf der Waffe. Bitte, dachte er flehend, keine Ladehemmung. Als er die Wahrscheinlichkeit einer solchen Fehlfunktion errechnen wollte, verlor er den Faden. Mittlerweile war er ruhiger geworden, doch noch immer rollten Tränen seine Wangen hinunter. Dann kam der Zug in Sicht.

 

Hallo DoT,

und willkommen hier.
Ich las den ersten Satz deiner Geschichte und dachte: "Oh Gott, mal wieder eine Suizidgeschichte als Debut."
Ich las den letzten Satz deiner Geschichte und dachte. "Ach nein, das muss ich nicht lesen".
Aber das Dazwischen hat mich amüsiert. Es ist in seiner Übertreibung eher eine Satire auf Suizidgeschichten, dein Junge lässt überlässt wirklich nichts dem Zufall und droht gerade daran zu verzweifeln. Die Stelle, an der er nicht mehr weiß, wie er die Pistole halten muss, ist komisch und zugleich tragisch. Im Grunde immer toll, wenn einem das gelingt. Da verzeihe ich bei dieser Geschichte auch gern, dass gar nicht klar wird, warum ein Junge schon mit zehn aus dem Leben treten möchte.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo DoT,

und auch von mir ein herzliches Willkommen auf KG.de und in Seltsam.

Meine Gedanken gestern waren mit denen von sim identisch, nur daß ich da nicht den Mittelteil gelesen habe. Suizidgeschichten gibt es in ausreichender Menge, und da Deine zeilenmäßig eher kurz geraten ist, ahnte ich, daß der Mittelteil keine wesentlichen neuen Erkenntnisse, Einblicke bringen wird.

So kann man sich täuschen, Du hast eine wirklich absurde und seltsame Situation am Fenstersims aufgebaut, ein Hang zum Perfektioniosmus, der mich unterhalten hat und trotz des Selbstmordes belustigt.
Wenngleich ich Dein Intro und Denen letzten Satz auch nicht glücklich finde, den letzten Satz fast noch unglücklicher, weil zu offen, wenn auch eigentlich klar...

Unterhaltsam also ist sie geworden, Dein Debut hier, dennoch würde ich Dir empfehlen, mehr Absätze einzubauen, wenn der Countdown (eigentlich ja Countup) zählt eine eigene Zeile, bei Gedankensprüngen eine eigene, das lockert die Optik und damit den ganzen Text auf und macht ihn verständiger.

Grüße,
C. Seltsem

 

Hallo DoT,

gefällt mir außerordentlich, makaber, aber sehr treffend, auch in anderen Situationen steht man sich häufig selbst im Weg.:D:thumbsup:

Und auch von mir, ein Herzlich Willkommen auf Kg.de

liebe Grüße Weltflucht

 

Ich finde eure Art, Texte zu lesen, verwirrend. Nennt mich anachronistisch, aber ich fange am Anfang an und lese Richtung Ende weiter.

Da verzeihe ich bei dieser Geschichte auch gern, dass gar nicht klar wird, warum ein Junge schon mit zehn aus dem Leben treten möchte.
Den Kritikpunkt verstehe ich nicht. Aber danke.

...dennoch würde ich Dir empfehlen, mehr Absätze einzubauen...
Ja, ich dachte auch zuerst daran, denn das Buchstabenchaos wirkte auf mich beim ersten Anblick erschlagend. Eine 'aufgeräumtere' Struktur gereicht dem Text aber in meinen Augen nicht zum Vorteil - er profitiert für mein Empfinden davon, den Leser bis zu einem gewissen Maß anzustrengen. Am Deutlichsten wird das gegen Ende, wo es um die Pistole geht. Das funktioniert nicht, wenn es ordentlich gegliedert wird.
Insofern sind wir im Prinzip sogar der gleichen Ansicht. Und ich muss zugeben, dass der Text in dieser Form auch kaum länger sein dürfte.

Ansonsten danke für Lob, Aufmerksamkeit und Kritik.

-DoT

 

Hallo DoT,

immer lesen wir nicht so, aber etwa fünfzig Prozent aller Debüttexte sind hier so beschaffen, dass anfangs jemand am Klippenrand, auf dem Hochhausdach oder der Brücke steht, eine Pistole oder ein Rasiermesser in der Hand hat, Alkohol oder Tabletten, manchmal auch beides, während des Textes sinniert, wie erlösend der Tod wäre, und sich selbst bemitleidet, bis er sich am Ende umbringt. Wenn also ein Text hier beginnt wie deiner, scrollt man bei der Vielzahl solcher Texte einfach runter, um zu sehen, worauf man sich einlässt.
Natürlich kommt in kaum einem solcher Texte die wirklich Entwicklung bis hin zum Suizid vor. "Das Leben ist scheiße und gemein" ist mir als Grund aber einfach zu wenig.
Vielleicht habe ich in deinem Text ja auch was überlesen, aber das Motiv ist mir entgangen.

Lieben Gruß, sim

 

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