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Jake
Nun stand Jake da, ein Messer in der Hand, auf der Fensterbank im 27sten Stock, drei Packungen Schlaftabletten und eine Pistole in den Taschen und einen Strick um den Hals geknüpft. Hinter ihm, in der Wohnung, loderte das Feuer, das er gerade gelegt hatte, nachdem seine Eltern zum Einkaufen gefahren waren, und er hörte das leise Ticken des Sprengsatzes, den er gebastelt und in dem Holzkasten, neben dem er auf dem Sims balancierte, verstaut hatte. Für einen 10jährigen war Jake wirklich bemerkenswert.
Konzentriert befestigte er das andere Ende des Seils um seinen Hals am oberen Teil des Fensterrahmens mit einem sicheren Schifferknoten, den er sich extra zu diesem Zweck beigebracht hatte, schließlich sollte diesmal nichts schiefgehen. Es folgte ein prüfender Blick auf die Uhr, 57, um drei Minuten nach kam der Zug. Sonst, wenn er alle Hausbewohner weckte, weil die Schienen direkt am Gebäude vorbeiführten, war er stets pünktlich, auch mitten in der Nacht.
Schließlich setzte Jake sich, es blieb ja noch etwas Zeit. Stirnrunzelnd überflog er noch einmal die Packungsbeilagen der Tabletten...wenn nicht allein die Überdosis ausreichen würde, blieben die Wechselwirkungen untereinander - er hatte peinlich genau auf diesen Umstand geachtet. 58. Jake krempelte die Ärmel des Kapuzenshirts hoch, gerade als er das erste Martinshorn erklingen hörte. Nun würde sich zeigen, wie gut die Arbeit, die er geleistet hatte, denn wirklich war. Diese Seite des Hauses würden die Einsatzkräfte kaum erreichen, sie war von der Bahngesellschaft gut genug abgeriegelt worden, nachdem ein Kind von einem Zug erfasst worden war. Die Wohnungstür war mit zwei Schränken zugestellt, den Aufzug hatte er ebenfalls angehalten, im obersten Stockwerk, wo niemand wohnte. Ein simpler Ziegelstein in der Tür blockierte den Schließungsmechanismus. Die Treppe glänzte von 8 Litern Bohnerwachs, die Stahlpforte zum zweiten Treppenhaus war ohnehin von einem Vorhängeschloss verriegelt, das er mit einer Tasse Klebstoff übergossen hatte, so dass auch der Hausmeister niemandem öffnen könnte. Nein, in 4 1/2 Minuten würde niemand diese Etage von Außen betreten, auch nicht über die seit Wochen kaputte Feuertreppe an der Fassade. Selbst die Mechanismen der hauseigenen Löschanlage hatte Jake in der eigenen Wohnung unbrauchbar gemacht.
Dennoch hatte Jake, der Perfektionist von 1.40m, kein Gefühl für das Ausmaß seiner Vorkehrungen. Professionalität war immens wichtig, das hatten ihm seine Eltern in die Wiege gelegt, und so zweifelte er trotz Allem ein wenig an seiner Planung. 59. Wieso trug er keine Funkuhr? Schon hatte er einen Fehler gefunden, auch noch einen derart offensichtlichen. Was half ein ideales Konzept, wenn man es nicht bis in die Details durchdachte und umsetzte? Frustriert knirschte er mit den Zähnen und überlegte, ob das Feuer das Schlafzimmer und damit den Funkwecker seiner Eltern wohl schon erreicht haben sollte. Eine Überschlagsrechnung sagte ja. Was für ein Tag, dachte Jake bei sich, alles ging mal wieder schief. Noch drei Minuten. Er packte die ersten Tabletten aus und schluckte sie hektisch, verschluckte sich einmal, zweimal. Vielleicht doch vorher kauen. Seine Finger zitterten, und er zog die Ärmel gegen den kühlen Abendwind wieder herunter. Sekunden später fühlte er seinen Magen rebellieren. Medikamente nehmen ohne vorher etwas gegessen zu haben war tatsächlich nicht allzu sinnvoll, da hatte Mutter recht gehabt. Die erste Packung war leer. Leicht schwindelig widmete er sich der nächsten. Eine Minute nach, noch eine Packung übrig. Jake weinte. Er warf die restlichen Tabletten weg. Plötzlich wollte er sie nicht mehr. Der Perfektionismus war jetzt sowieso egal. Seine kleine Hand zog die schwere Waffe aus der Tasche, die Finger umklammerten das kalte Metall, erst sachte, dann entschlossener. Jake übergab sich. Weißer, pulveriger Brei und Galle fielen hinab. Er schüttelte das klamme Gefühl ab, rieb sich die Augen, zog den Abzugshahn nach hinten. Seitlich an den Schädel oder in den Mund? Er wusste es nicht mehr, dabei hatte er es sich doch aufgeschrieben. Jake schluchzte. Wo war Mum? Einkaufen. In den Mund. Seine Lippen stülpten sich über den Lauf. Noch zu früh, erst zwei nach. In dem Holzkasten tickte es. Seine Zähne knirschten wieder, diesmal auf der Waffe. Bitte, dachte er flehend, keine Ladehemmung. Als er die Wahrscheinlichkeit einer solchen Fehlfunktion errechnen wollte, verlor er den Faden. Mittlerweile war er ruhiger geworden, doch noch immer rollten Tränen seine Wangen hinunter. Dann kam der Zug in Sicht.