Was ist neu

Janosch

Mitglied
Beitritt
26.11.2008
Beiträge
4

Janosch

Martins Lachen klang wie immer, als wir uns den Ball zuwarfen, und doch wirkte es bemüht, irgendwie aufgesetzt. Er konnte mir nie was vorspielen. Sechs Jahre trug er damals und wir waren befreundet, ich schätze, wohl seit er vier war. Wir beide hatten nur einander und das war im Grunde viel. Ich wusste nicht, was im Kreis seiner Familie vor sich ging, da ich ihn nie besuchen durfte, irgendwie hatten sie was gegen mich, aber ich wusste, dass er nicht glücklich war, dass ihm niemand zuhören wollte. Ich wusste auch, dass seine Eltern beide arbeiteten und er die meiste Zeit mit seiner Großmutter verbrachte. Auch wenn er nicht viel über seine Probleme sprach, seine Gefühle konnte er nie vor mir verstecken. Wir trafen uns immer draußen, auf einem großen Parkplatz, der immer wie leergefegt dalag, und warfen uns Bälle zu. Das bereitete uns große Freude, es war ein dünner Hauch unbefangenen Kindseins, den das Leben uns zuflüsterte, und wir atmeten ihn dankbar ein. Martin war, seit ich denken konnte, ein in sich gekehrter Junge gewesen, immer ein bisschen schwermütig. Doch als wir uns zum Ballspielen trafen, leuchtete sein Gesicht. Wir sprachen nie viel miteinander, uns genügte der Ball, das Lachen, das Beisammensein. Das sprach mehr als alle Sprachen der Menschheit.
An diesem Tag jedoch war etwas anders. Martin schien gebrochen, auch wenn sein Lachen klang wie sonst, es war etwas, das mitschwang. Er lachte nicht, weil er ausgelassen und selbstvergessen war, er lachte, um sich zu vergessen. Es tat mir weh, das zu spüren, doch ich wollte ihn nicht darauf ansprechen. Wahrscheinlich würde er ohnehin bald nach Hause müssen. Dunkel deckte der Himmel den Parkplatz zu; nur einige vereinzelte Lichtstrahlen hielten sich hartnäckig bei uns. Wahrscheinlich würde es bald gewittern. Zum ersten Mal, seit wir uns trafen, sah ich Autos hier stehen. Wahrscheinlich hatten sie sich verirrt. Wahrscheinlich. Plötzlich warf Martin den Ball nicht mehr zurück und ließ den Kopf sinken.
„Janosch?“, sprach er mich an. „Wirst du irgendwann nicht mehr da sein?“
Ich versprach ihm, niemals von ihm zu gehen, doch er begann zu weinen.
„Irgendwann gehst du ja doch! Alle gehen irgendwann! Und dann bin ich allein! Und dann muss ich auch gehen!“
Ich wusste darauf nichts zu erwidern, ich konnte ihm nur nochmals zusichern, immer da zu sein und ihn auffordern, den Ball zu werfen, alles sei gut. Traurig und kraftlos warf er den Ball, ich warf ihn zurück. Nach einer Weile hielt er inne. Sein Gesicht war wie von Tränen fortgeschwemmt.
„Janosch?“, sagte er. „Ich muss nach Hause… Kommst du bitte mit?“
Ich sagte ihm, dass ich gerne mitkäme, seine Eltern mich jedoch nicht ins Haus lassen würden, da sie mich nicht mochten, wir hätten das bereits versucht.
Martin schluchzte: „Bitte, Janosch. Komm bitte mit.“
Was sollte ich tun? Ich ging mit ihm, wenngleich ich wusste, dass es vergeblich war, seine Eltern würden mich doch wieder fortschicken. Den gesamten Heimweg über schwieg er. Die Wolken grollten tiefschwarz und kletterten tief zu uns hinab, als wollten sie uns mit aufgequollenen Fingern dem Erdreich entreißen. Martins Augen hielten sich am Gehweg fest. Kurz bevor wir in seine Straße einbogen, trat er eine verwesende Maus beiseite, die sich seinen Füßen in den Weg gelegt hatte, doch sie kullerte nicht weit.
Als wir an seiner Haustür angekommen waren, sagte Martin: „Bitte geh nicht, Janosch. Ich mach, dass sie dich reinlassen.“, und klingelte.
Die Tür schwang auf. Seine Eltern standen vor uns, riesig, die Gesichter in unerreichbaren Höhen thronend, schwarz und elegant gekleidet.
„Da bist du ja endlich! Wie siehst du denn aus? Ab jetzt, mach dich fertig. Wir müssen los!“, herrschte der Vater ihn an, mich außer Acht lassend, als wäre ich Luft. Martin vergrub den Blick im Boden. „Tschuldigung.“
„Entschuldigen kannst du dich später, wir müssen gleich los!“, sagte die Mutter.
Martin stand betreten auf der Stelle.
„Was ist denn noch?“, fragte der Vater, sichtlich in Eile.
„Kann Janosch bitte mitkommen?“, fragte er mit bettelnder Stimme.
„Fängst du wieder damit an?“, stöhnte die Mutter und rollte mit den Augen. „Komm jetzt, wir müssen los!“ Sie zog Martin am Hemdkragen in die Wohnung und schlug die Tür vor meiner Nase zu.
Am nächsten Tag lief Martin zum großen Parkplatz, um mir den Ball zuzuwerfen. Zahlreiche Autos standen dort und warteten auf ihre Besitzer. Menschen kamen und gingen. Martin suchte mich. Doch er fand mich nicht. Alles, was er fand, war eine graue Betonmauer, auf die ein frech grinsendes Comic-Gesicht gesprüht war. Darunter stand „Janosch“. Martin warf den Ball schwach gegen die Mauer; er prallte ab, landete vor seinen Füßen und rollte davon.
„Also bist du doch gegangen.“, sagte Martin betrübt und lief nach Hause.

 

Hi Herr Lesniak
Deine Geschichte lässt mich nicht so recht los ...
Ich denke, dass Janosch seit Anbeginn nicht mehr war, als ein imaginärer Freund; jemand, der Martin die Möglichkeit gibt, seine Sorgen wegzuschieben.
Im direkten Umgang mit seinen Eltern ist er allerdings allein. Diese Zeit möchte er vielleicht bewusst erleben - schließlich arbeiten beide und es klingt auch so, als hätte sie wenig Zeit: " [...] wir müssen gleich los!" (Dafür spricht auch, dass Martin oft bei der Großmutter ist)
Auch spricht Janosch in deiner Geschichte nicht.
Martin denkt, dass Janosch gegangen ist. Ich denke das nicht, da Janosch, der Erzähler, das Ende deiner Geschichte ja sonst nicht mitbekommen hätte.
Verstehst du meinen Gedankengang?

Ich finde deine Geschichte gut, eben weil ich mir nicht sicher bin, ob ich sie verstanden habe und noch immer darüber nachdenke.
Auffällig ist der verstärkte Einsatz von Hypotaxen; ich weiß nur noch nicht so recht, ob ich das gut finde.
Du hast eine für mich surreal wirkende Umgebung geschaffen [ die Wolken; der Parkplatz, welcher plötzlich voll ist; die Autos, welche auf ihre Besitzer warten (Personalisierung) ... ], was ein passendes Stimmungsbild erschafft und ein Indiz für meine Theorie des imaginären Kumpels ist - rein gedanklich.

Würde mich freuen, mehr von dir zu lesen.
Bye

salzundpfeffer

 

Hallo Herr Lesniak,

auch mich hat deine Geschichte fasziniert. Zu Beginn kam sie mir völlig schräg vor, weil ich dachte, der Ich-Erzähler sei ein anderes Kind. Dafür hätte der Sprachduktus nicht gepasst. Doch eine Phantasiegestalt hat vielleicht die vom Kind ersehnten Eigenschaften, ist vor allem mitfühlend und interessiert, spürt, im Gegensatz zu den Eltern sofort was los ist.

Wir beide hatten nur einander und das war im Grunde viel.

Den Satz mochte ich. Er macht das Ende noch trauriger. Aber ein Kind, dass sich einen Freund ausdenken kann, hat schon mal etwas. Das kommt gar nicht so selten vor. Und ich kann mir vorstellen, dass viele die hier schreiben, schon als Kind eine lebhafte Phantasie hatten. ;)

Es scheint, dass der Junge das Alter erreicht, wo ihn die Realität erwischt. Er versteht, was Tod bedeutet. Er beginnt vielleicht am Weihnachtsmann zu zweifeln. Und damit verliert er auch seinen Freund.
Vielleicht ist es auch das, was mich beim Lesen deines Textes berührt. Dass es mich an die Zeit der ersten großen Desillusionierungen erinnert. (die mit sechs gerade mal beginnt)
Ich finde, du hast das gut gemacht, zu beschreiben, wie verzweifelt er sich Mühe gibt, seinen Freund in die Realität zu retten. Die Art, wie er scheitert wirft noch mal ein Schlaglicht auf seine Einsamkeit und seine Eltern.

Sechs Jahre trug er damals

Den Ausdruck kenne ich nicht, er irritiert mich irgendwie, klingt sehr tragisch, könnte ich mir eher für einen Neunzigjährigen vorstellen.

Ansonsten mag ich deinen Stil, so ruhig, irgendwie ein bisschen gesetzt. Und die Idee, die Geschichte aus der Sicht des imaginierten Freundes zu schreiben gefällt mir auch sehr gut, auch wenn es am Ende so wirkt, als ob ein Toter erzählt. Aber wer weiß, wo sie sich alle aufhalten, die ausgedachten Wesen.:)

Liebe Grüße von Chutney

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom