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Janosch
Martins Lachen klang wie immer, als wir uns den Ball zuwarfen, und doch wirkte es bemüht, irgendwie aufgesetzt. Er konnte mir nie was vorspielen. Sechs Jahre trug er damals und wir waren befreundet, ich schätze, wohl seit er vier war. Wir beide hatten nur einander und das war im Grunde viel. Ich wusste nicht, was im Kreis seiner Familie vor sich ging, da ich ihn nie besuchen durfte, irgendwie hatten sie was gegen mich, aber ich wusste, dass er nicht glücklich war, dass ihm niemand zuhören wollte. Ich wusste auch, dass seine Eltern beide arbeiteten und er die meiste Zeit mit seiner Großmutter verbrachte. Auch wenn er nicht viel über seine Probleme sprach, seine Gefühle konnte er nie vor mir verstecken. Wir trafen uns immer draußen, auf einem großen Parkplatz, der immer wie leergefegt dalag, und warfen uns Bälle zu. Das bereitete uns große Freude, es war ein dünner Hauch unbefangenen Kindseins, den das Leben uns zuflüsterte, und wir atmeten ihn dankbar ein. Martin war, seit ich denken konnte, ein in sich gekehrter Junge gewesen, immer ein bisschen schwermütig. Doch als wir uns zum Ballspielen trafen, leuchtete sein Gesicht. Wir sprachen nie viel miteinander, uns genügte der Ball, das Lachen, das Beisammensein. Das sprach mehr als alle Sprachen der Menschheit.
An diesem Tag jedoch war etwas anders. Martin schien gebrochen, auch wenn sein Lachen klang wie sonst, es war etwas, das mitschwang. Er lachte nicht, weil er ausgelassen und selbstvergessen war, er lachte, um sich zu vergessen. Es tat mir weh, das zu spüren, doch ich wollte ihn nicht darauf ansprechen. Wahrscheinlich würde er ohnehin bald nach Hause müssen. Dunkel deckte der Himmel den Parkplatz zu; nur einige vereinzelte Lichtstrahlen hielten sich hartnäckig bei uns. Wahrscheinlich würde es bald gewittern. Zum ersten Mal, seit wir uns trafen, sah ich Autos hier stehen. Wahrscheinlich hatten sie sich verirrt. Wahrscheinlich. Plötzlich warf Martin den Ball nicht mehr zurück und ließ den Kopf sinken.
„Janosch?“, sprach er mich an. „Wirst du irgendwann nicht mehr da sein?“
Ich versprach ihm, niemals von ihm zu gehen, doch er begann zu weinen.
„Irgendwann gehst du ja doch! Alle gehen irgendwann! Und dann bin ich allein! Und dann muss ich auch gehen!“
Ich wusste darauf nichts zu erwidern, ich konnte ihm nur nochmals zusichern, immer da zu sein und ihn auffordern, den Ball zu werfen, alles sei gut. Traurig und kraftlos warf er den Ball, ich warf ihn zurück. Nach einer Weile hielt er inne. Sein Gesicht war wie von Tränen fortgeschwemmt.
„Janosch?“, sagte er. „Ich muss nach Hause… Kommst du bitte mit?“
Ich sagte ihm, dass ich gerne mitkäme, seine Eltern mich jedoch nicht ins Haus lassen würden, da sie mich nicht mochten, wir hätten das bereits versucht.
Martin schluchzte: „Bitte, Janosch. Komm bitte mit.“
Was sollte ich tun? Ich ging mit ihm, wenngleich ich wusste, dass es vergeblich war, seine Eltern würden mich doch wieder fortschicken. Den gesamten Heimweg über schwieg er. Die Wolken grollten tiefschwarz und kletterten tief zu uns hinab, als wollten sie uns mit aufgequollenen Fingern dem Erdreich entreißen. Martins Augen hielten sich am Gehweg fest. Kurz bevor wir in seine Straße einbogen, trat er eine verwesende Maus beiseite, die sich seinen Füßen in den Weg gelegt hatte, doch sie kullerte nicht weit.
Als wir an seiner Haustür angekommen waren, sagte Martin: „Bitte geh nicht, Janosch. Ich mach, dass sie dich reinlassen.“, und klingelte.
Die Tür schwang auf. Seine Eltern standen vor uns, riesig, die Gesichter in unerreichbaren Höhen thronend, schwarz und elegant gekleidet.
„Da bist du ja endlich! Wie siehst du denn aus? Ab jetzt, mach dich fertig. Wir müssen los!“, herrschte der Vater ihn an, mich außer Acht lassend, als wäre ich Luft. Martin vergrub den Blick im Boden. „Tschuldigung.“
„Entschuldigen kannst du dich später, wir müssen gleich los!“, sagte die Mutter.
Martin stand betreten auf der Stelle.
„Was ist denn noch?“, fragte der Vater, sichtlich in Eile.
„Kann Janosch bitte mitkommen?“, fragte er mit bettelnder Stimme.
„Fängst du wieder damit an?“, stöhnte die Mutter und rollte mit den Augen. „Komm jetzt, wir müssen los!“ Sie zog Martin am Hemdkragen in die Wohnung und schlug die Tür vor meiner Nase zu.
Am nächsten Tag lief Martin zum großen Parkplatz, um mir den Ball zuzuwerfen. Zahlreiche Autos standen dort und warteten auf ihre Besitzer. Menschen kamen und gingen. Martin suchte mich. Doch er fand mich nicht. Alles, was er fand, war eine graue Betonmauer, auf die ein frech grinsendes Comic-Gesicht gesprüht war. Darunter stand „Janosch“. Martin warf den Ball schwach gegen die Mauer; er prallte ab, landete vor seinen Füßen und rollte davon.
„Also bist du doch gegangen.“, sagte Martin betrübt und lief nach Hause.