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Jason Creek
Niemand steckt in mir, Pad. Niemand weiß, was ich denke. Niemand weiß, was ich fühle. Niemand! Manchmal nicht einmal ich.
Das waren Jason Creeks Worte, die er mir damals unter dem alten Ahorn, weit hinter den Feldern unserer Farm, sagte und an die ich mich noch, als wäre es erst gestern gewesen, erinnere.
Er blickte mir dabei tief in die Augen, und die seinigen, eines davon so blau, dass man das Gefühl hatte, einem Husky gegenüber zu sitzen, das andere so braun wie der Dreck unter den Nägeln meines Großvaters, funkelten kurz.
„Manchmal … nicht einmal ich“, wiederholte er leise, während der weit entfernte Schrei einer Krähe für einen Augenblick seine Worte zu bekräftigen schien.
Eine leichte Brise strich über die Landschaft, die am Horizont von einem dichten Pinienwald, auf der anderen Seite in etwa gleicher Entfernung durch Großvaters Maisfelder, gesäumt war.
Hier an der Stelle, wo Jason und ich im Schatten des Ahorn hockten, befand sich nichts weiter als das saftige Grün der Wiese, das nur an vereinzelten Stellen durch Herbstblumen unterbrochen wurde. Es wurde von Tag zu Tag kühler, ein sicheres Zeichen, dass der Winter bald kommen würde.
Ich liebte diese, meine kleine Welt, die für mich zu jener Zeit doch so gewaltig groß war, dass ich nicht einmal im Traum daran dachte, dass da hinter dem Horizont noch irgendetwas anderes sein könnte. Warum auch? Alles war hier. Alles, bis zu jenem Tag im Oktober, der vieles verändern sollte.
Jason legte den Kopf in den Nacken, und ein winziger Sonnenstrahl durchbrach das gelb schimmernde Blattwerk, berührte seine kahle Kopfhaut und ließ die bleiche Haut noch bleicher erscheinen. Er seufzte.
„Ist was passiert?“, fragte ich vorsichtig.
Jason behielt den Kopf im Nacken. „Wie kommst du darauf?“
Seine dünnen, langen Arme, die er zum Abstützen nach hinten gestreckt hatte, wirkten wie die Beine eines gewaltigen Insekts.
„Du bist so nachdenklich“, sagte ich.
Er schwieg für einen Moment, dann sah er mich wieder an. „Nein, Pad. Es ist nichts passiert.“ Er wartete. „Noch ist nichts passiert.“
Seit dem Verschwinden seiner Adoptiveltern vor knapp fünf Jahren lebte Jason Creek bei uns; mittlerweile war er mir beinahe wie ein Bruder geworden, wir verstanden uns prächtig, und manches Mal scherzten wir gar darüber, dass es als echte Geschwister mit Sicherheit nicht so harmonisch gewesen wäre.
Jason wurde von allen anderen Kindern im Ort gemieden; eigentlich wurde er von jedem gemieden, denn er war nicht gerade das, was man als 'normal' bezeichnet hätte.
Jason maß mit seinen fünfzehn Jahren bereits über zwei Meter, und sein Körper war dermaßen dünn, dass es aussah, als hätte jemand versucht, ihn auseinander zu ziehen. Ich hatte einmal probiert, seine Taille mit den Händen zu umfassen, und es war mir problemlos gelungen.
Wenn Jason aufrecht stand, dann reichten seine Hände bis hinunter zu seinen Knien; die Handflächen selbst waren so groß, dass er damit mühelos mein gesamtes Gesicht hätte bedecken können.
Das Erschreckenste allerdings war seine bleiche Hautfarbe, die wirkte, als hätte sie jemand mit Mehl bestreut. Mit wirklich viel Mehl.
„Fährst du heute noch runter ins Dorf?“, fragte er nach einer Weile.
„Ich habe Großvater versprochen, noch ein paar Besorgungen für ihn zu machen.“ Das war gelogen, doch hatte ich ein schlechtes Gewissen, Jason zu erzählen, was mich wirklich dorthin trieb.
Er stand auf und ging zu seinem Fahrrad, das, trotz des erhöhten Sitzes und Lenkers, neben ihm wie ein Kinderspielzeug aussah.
„Wir sehen uns dann heute Abend“, rief er, schwang sich auf den Sattel und war kurz darauf auf dem Weg neben der Maisfelder verschwunden.
Noch ist nichts passiert. Ich überlegte, was er damit gemeint haben könnte.
* * *
Der Menschenauflauf im Ort war schon zu sehen, als ich mit meinem Rad die Brücke des kleinen Flusses überquerte.
Ich stieg ab und blickte mit pochendem Herz auf das Szenario, während der Fluss unter mir rauschte.
Vaters Polizeiwagen stand am Rand einer riesigen Menschenmenge. Ihn selbst konnte ich nirgends ausmachen.
Ich dachte an Sarah, dachte an unser geplantes Treffen, eines von vielen, das ich jedes Mal vor Jason geheim hielt, weil ich wusste, dass er selbst etwas für sie empfand, und weil ich wusste, dass er niemals auch nur den Hauch einer Chance bei ihr haben würde.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, es ihm vorhin beim Ahorn zu sagen, doch irgendwie war es nicht der rechte Zeitpunkt gewesen. Irgendwie war Jason heute anders. Manchmal hatte ich das Gefühl, als verberge auch er ein Geheimnis.
Als ich wenig später neben dem Polizeiwagen zum Stehen kam, durchbrach Vaters Stimme die Geräuschkulisse: „Leute, jetzt beruhigt euch doch. Der Sheriff ist in ein paar Minuten da!“
Und wie auf Kommando ertönte das stetige Auf- und Ab der Sirene, das die Menge augenblicklich verstummen ließ.
„Pad, was machst du hier?“ Ich sah Vater auf mich zukommen. Sein Deputystern wirkte seltsam matt.
„Was ist passiert, Pa?“
„Fahr nach Haus zurück, Junge, und sag Großvater und deiner Mutter Bescheid, dass es heute später wird.“
Die Sirene des Sheriffwagens verstummte hinter meinem Rücken, und Sekunden später vernahm ich das Zuschlagen einer Autotür. Die Menschenmenge vor mir wich ehrfürchtig zur Seite.
„Bob!“
Ich erkannte ein winziges Zucken in Vaters Augen, als die Stimme von Sheriff Hawks die Stille zerschnitt.
„Geh jetzt, Junge“, sagte Vater leise. Dann drehte er sich um und ging auf den Sheriff zu.
Wieder kamen mir Jasons Worte in den Sinn, die noch keine Stunde zurücklagen. Noch ist nichts passiert.
Zwischen einigen Personen entdeckte ich Rupert McDawn, einen Jungen aus meiner Klasse, dessen pomadige Haare in der Sonne glänzten. Ich schob mein Rad zu ihm herüber, und als er mich entdeckte, kam er mir mit einem breiten Grinsen entgegen.
„Hey, Pad.“ Er ließ die Hände in seine Hosentaschen verschwinden.
„Mac.“
„Dein Dad wird ne Menge zu tun haben heute.“
„Weißt du, was passiert ist?“
Seine Stimme war viel zu laut als er sagte: „Man hat sie gefunden.“
Ich schluckte, wurde mir doch sofort bewusst, wen Rupert McDawn mit sie meinte. Warum war ich da nicht sofort darauf gekommen?
„Wer hat sie gefunden?“, fragte ich.
„Irgendwer.“
„Sind sie …“
Er blickte sich um. „Das kannste laut sagen. Is nicht mehr viel übrig von ihnen.“
„Scheiße.“ Meine Hände um die Griffe des Lenkers wurden feucht.
Die Carter-Zwillinge, zwei junge Mädchen, waren seit ein paar Tagen verschwunden. Vater hatte es abends bei Tisch erwähnt, doch da ich persönlich nicht viel mit ihnen zu tun gehabt hatte, war da mehr als ein entsetztes Echt? nicht gewesen.
Ein lautes Murmeln ließ mich wieder aufblicken. Ich sah Vater und Sheriff Hawks in ihre Fahrzeuge steigen und kurz darauf waren sie in Richtung der Humbold-Wälder verschwunden.
Ich blickte in Ruperts Gesicht.
„Sie solln fast nur noch Matsche sein“, flüsterte er an den Boden gewandt.
Etwas drehte sich in meinem Magen.
„Die sagen, es wär fast wie geschmolzene Kerzen.“
* * *
Wir saßen schweigend am Tisch; Mutter, Großvater, Jason und ich.
Vater war vor ein paar Minuten wieder hinaus; hatte nur kurz etwas gegessen. Und er hatte berichtet.
Jason schlürfte seine Suppe, und der Löffel verschwand fast in seiner Hand.
Seit ich zurückgekommen war, hatte er nicht ein Wort gesprochen.
Ich legte meinen Löffel beiseite.
„Die arme Misses Carter“, sagte Mutter.
Großvater nickte kurz.
Jason stand auf. „Ich bin draußen.“
Auch ich erhob mich. „Ich geh mit, Ma.“
Jason ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
„Zieht eure Jacken an, Jungs.“
* * *
„Jason!“
Ich hatte Mühe, seinen großen Schritten zu folgen.
Am Zaun, der den Weg zu den Feldern begrenzte, hielt er inne, und kurz darauf hatte ich ihn keuchend erreicht.
Wir blickten eine ganze Weile schweigend auf den wankenden Mais vor unseren Augen. Für mich war er wie eine gewaltige Wand; für Jason muss es einfach nur ein Maisfeld gewesen sein, über das er mühelos hinweg blicken konnte.
„Hast du das heute Mittag gemeint?“, fragte ich ihn, ohne meinen Blick von der Mauer abzuwenden.
„Nein.“
„Du hast gesagt, noch ist nichts passiert.“
„Ich weiß, was ich gesagt habe.“
Ich war verwirrt. „Und du hast nicht den Mord gemeint?“
„Der Mord war zu der Zeit doch schon passiert, oder?“
Vaters Worte kamen mir in den Sinn: „Sie müssen schon ein paar Tage tot gewesen sein, bevor sie Dutch gefunden hat.“
Er hatte das Ganze nicht näher ausgeführt. So wie er es erzählt hatte, klang es wie ein ganz gewöhnlicher Mordfall. Aber ich wusste ja, was mir Rupert McDawn gesagt hatte. Sie solln fast nur noch Matsche sein. Die sagen, es wär fast wie geschmolzene Kerzen.
„Ja“, antwortete ich also auf Jasons Frage. „Sie waren schon tot. Aber was meintest du dann?“
Er sah mich an, und sein blaues Auge wirkte seltsam hell. „Es wird noch einiges passieren, Pad.“
„Aber was? Wird noch jemand ermordet?“
Jason seufzte. „Ja“, sagte er dann.
* * *
Ich hatte noch kein Auge zugetan in dieser Nacht, wohl des Wissens um der schrecklichen Morde an den Zwillingen, als auch um der Worte, die Jason Creek draußen am Zaun zu mir gesagt hatte.
Das leise Motorengeräusch sich nähernder Fahrzeuge schreckte mich auf, und wenig später sah ich die ersten Scheinwerfer, welche die Dunkelheit des kleinen Raumes zerschnitten. Es waren eindeutig mehrere Fahrzeuge, die jetzt vor unserem Haus zum Stehen kamen, und deren Motoren krächzend erstarben. Türen wurden geschlagen. Schreie.
Ich hörte Großvaters Schritte über die quietschenden Dielen, kurz darauf wurden die Stimmen lauter. „Liefer uns das Monster aus!“
Ein Zucken durchfuhr meinen Körper, und ich blickte hinüber zu Jasons Bett, als der kurze Anflug von Erleichterung die aufkeimende Panik verdrängte. Jason war nicht da.
Sofort sprang ich aus dem Bett, hörte Großvater etwas brüllen. War da auch Mutters Stimme?
„Er hat die Mädchen abgeschlachtet!“, dröhnte wieder jemand. Ich meinte, die Stimme von Rupert McDawns Vater erkannt zu haben.
„Jason?“, flüsterte ich und stellte fest, dass ich wirklich allein in unserem Zimmer war. Der Stuhl, über den Jason immer seine Kleidung hing, war leer, seine Schuhe davor waren verschwunden.
Er hat es wirklich getan!, durchfuhr es mich. Und jetzt ist er abgehauen. Ja genau, abgehauen, damit nicht noch jemand ermordet wird.
Ich sprang in meine Kleidung und schwang mich wenig später aus dem Fenster, während es hinter der Tür laut polterte. Jemand schrie.
Sie werden ihnen nichts tun, sagte ich mir. Sie werden der Familie des Deputys nichts tun.
Dann rannte ich zu meinem Fahrrad. Ich wusste, wo ich Jason finden würde.
* * *
Der gewaltige Ahorn zeichnete sich gegen den dunklen Horizont wie eine unheilschwangere Wolke ab.
Ich hatte die Maisfelder hinter mir gelassen, das Treten in die Pedale wurde immer schwerer und ich stieg ab, um den Rest des Weges das Rad zu schieben. Zunächst befürchtete ich schon fast, mich geirrt zu haben, als ich wenig später die hagere Gestalt neben dem majestätischen Stamm erkannte.
„Hey, Jason.“
Er stand mit dem Rücken zu mir und rührte sich nicht. Als ich mich neben ihn stellte, reichte ich gerade einmal bis zu seinem Ellenbogen. Ich blickte hinauf.
„Jason?“
„Ja, Pad?“
„Warst du es, Jason?“
„Weißt du noch, was ich dir heute Mittag gesagt habe, Pad?“
„Du hast gesagt, dass noch einiges passieren wird.“
„Ja, das auch. Aber ich sagte noch etwas anderes.“
Jetzt blickte er zu mir hinab, und ich erkannte die Veränderung, die sich in seinem Gesicht abzeichnete. Seine Züge waren hart, erinnerten mich an eine in Stein gehauene Skulptur eines grotesken Totenschädels. Seine unterschiedlich farbigen Augen waren nur noch schwarz.
Ich wollte seine Hand fassen, doch er wich zurück. Seine Lider zuckten kurz, dann lächelte er, und kurz darauf waren meine Hände von seiner Hand umschlossen.
Seine Haut fühlte sich heiß an, ich wollte meine Hände zurückziehen, doch hatte ich das Gefühl, dass sie von einem Schraubstock umschlossen waren.
In diesem Moment leuchtet für den Bruchteil einer Sekunde ein Teil der Baumkrone auf, in genau demselben Augenblick, als das Motorengeräusch zu uns herüber drang.
Der Griff um meine Hände wurde stärker, heißer.
„Pad, sie werden den Mörder nicht finden.“ Er sah mich eindringlich an.
„Jason, du tust mir weh.“
Ich sah das Gras neben Jasons Füßen; es begann zu qualmen.
Die Fahrzeuge kamen näher.
„Denk an meine Worte, Pad.“
Ich schrie, als sich der Schraubstock in glühendes Eisen verwandelte.
Schüsse bellten, als Jason mich losließ und ich kurz darauf unsanft auf dem kalten Boden landete. Ich sah meine Hände, feuerrot. Fast wie geschmolzene Kerzen.
Als ich den Kopf zur Seite drehte, sah ich Jason in Richtung des Pinienwaldes rennen. Seine Beine waren wie bewegliche Stelzen, lang und schnell. Auch seine Arme berührten jetzt den Boden, schienen noch länger zu werden, katapultierten den Körper gazellengleich aus meinem Sichtfeld heraus.
„Er ist weg!“, brüllte jemand. Wieder Schüsse.
* * *
Jason hatte an jenem Abend Recht behalten. Man hatte den Mörder der Carter-Zwillinge niemals gefunden. Genauer gesagt, man hatte Jason Creek niemals gefunden, denn alle im Ort waren sicher, dass er der Mörder der beiden Mädchen gewesen sei. Jason Creek, das Monster.
„Einmal ein Monster, immer ein Monster“, hatte ich Douglas McDawn, den Vater meines Klassenkameraden, einmal sagen gehört.
Der Doktor hatte in der Nacht meiner Mutter gesagt, dass ich verdammtes Glück gehabt hatte. Die verbrannte Haut meiner Hände würde sich erholen, doch wenn die Retter nicht rechtzeitig gekommen wären … Geschmolzene Kerzen.
Ich denke seither viel an Jason Creek, denn ich glaube, dass ich der Einzige war, der niemals das Monster in ihm sah, sondern lediglich den Bruder.
Und immer wieder denke ich auch an seine Worte, an jene Worte, die er mir damals unter dem Ahorn sagte.
Niemand steckt in mir, Pad. Niemand weiß, was ich denke. Niemand weiß, was ich fühle. Niemand! Manchmal nicht einmal ich.