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Je tiefer du blickst

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23.02.2004
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Je tiefer du blickst

Je tiefer du blickst [überarbeitet]

Je tiefer du blickst

Manchmal beneide ich die Dummen.

Ich beneide die Hilfsarbeiter, die oben in der Bronx leben und deren durchschnittlicher Intelligenzquotient die Hundert-Punkte-Marke nur knapp erreicht. Ich beneide die jungen Mütter, die zu wenig Hirn haben, um zu studieren oder etwas Ordentliches zu Lernen, und sich bereits mit achtzehn einem Mann für alle Zeit verschrieben haben. Ich beneide die aknegeplagten Teenager des 21. Jahrhunderts, die sich abends in der Gesellschaft von Bier und Kartoffelchips einen absurd blutigen Splatterfilm ansehen und noch nie mehr Zeilen eines vernünftigen Buches gelesen haben, als die Suchmaschinen im Internet ausspucken, wenn Titel und Namen des Autors eingegeben wird, um für die Schule eine Pflichtlektüre nachzuerzählen.

Alle beneide ich sie, die sie mit ihrer Beschränktheit Tag ein Tag aus vor sich hin vegetieren, handeln, ohne zu überlegen, fühlen ohne zu denken, ja leben ohne sich allgegenwärtig mit den Konsequenzen seines Tuns und Seins beschäftigen zu müssen. Das sind die Leute, die noch zu leben wissen, die breite Masse an Menschen, die noch leben können, weil sie nicht denken.
Bei mir verhält es sich da anders – ich habe schon vor Jahren aufgehört, ein Leben als solches zu führen. Doch die Umstände waren nicht immer so, wie sie es heute sind – früher einmal war ich wie alle anderen auch. Normal, würde man wohl sagen.

Als Kind ist man mutig, man traut sich Dinge zu tun, bei denen Erwachsene nur den Kopf schütteln. Da springt ein Zehnjähriger mit dem Skateboard über eine Rampe, die ich nicht einmal zu Fuß begehen würde, und ein kleines Mädchen ärgert mit ihren Fingern Piranhas in einem Aquarium. Ja, als Kind ist die Welt noch in Ordnung – aber nur, weil man sie nicht kennt.

Kinder kennen keine Angst, existiert doch ein Sprichwort, nicht wahr? Natürlich nicht, aber was passiert denn, wenn ein Kleinkind das erste Mal seine Handfläche auf die kochend heiße Herdplatte legt? Die Hitze verbrennt in Sekundebruchteilen die äußeren, dann die inneren Hautschichten. Schließlich wird auch das Fleisch angesengt, bis sich die Hand in einen rot-glühenden Schrein der Schmerzen verwandelt hat. Ab diesem Zeitpunkt kennt das Kind die Gefahr, die von einer heißen Herdplatte ausgeht, und ich gehe jede Wette ein, dass es kein weiteres Mal in seinem Leben absichtlich auf eine solche greifen wird. Es weiß jetzt Bescheid.

Ich selbst habe keine Kinder – habe mich doch nie getraut, mit einem Mädchen sexuell in Kontakt zu treten. Mit Vierzehn hab’ ich zwar mal eines geküsst, aber da wusste ich es nicht besser. Wissen Sie eigentlich, wie viele Tausend Keimzellen ein einziger Tropfen menschlicher Speichel enthalten kann? Nun, ich weiß es, und ich weiß auch, was diese durch Drüsen abgesonderte Flüssigkeit noch so alles beinhaltet. Ich könnte ihnen eine ganze Liste mit Bestandteile schreiben, aber glauben Sie mir, Sie wollen es nicht wissen. Was Sie noch weniger wissen möchten, ist die Anzahl und Artenvielfalt der Bakterien in den Sekreten einer gesunden, weiblichen Vagina. Von einer nicht gesunden ganz zu schweigen. Wenn Sie es dennoch erfahren möchten, holen Sie sich ein Lexikon oder sehen Sie im Internet nach – vielleicht verstehen Sie dann ja auch meine Abneigung gegenüber anderen Leuten. Gegen Sex.

Zum Glück komme ich mit keinen Menschen mehr in Kontakt, seit ich mich vor ein paar Jahren in meiner Wohnung verschanzt habe. Wissen Sie um die Smog-Belastung dieser Stadt? Vermutlich nicht, und selbst wenn, dann wissen Sie nicht um all die Keime, die von einem blauen, wolkenlosen Himmel herabregnen, sich in die Schleimhäute der Menschen fressen, ins Blut übertragen werden und sich dort festsetzen wie Blutegel an einem Frauenhals. Sehen Sie – die Blutegel wissen ebenfalls nichts darüber, sonst würden sie ihre Aktivitäten mit Sicherheit einstellen.

Dank der technologischen Errungenschaften der Menschheit brauche ich die wundersame Sterilität meiner Wohnung nicht mehr zu verlassen. Lebensmittel (vakuumverpackt, nur mit Gütesiegel) bestelle ich über das weltweite Datennetz, ebenso wie das Poland Spring Mineralwasser aus Maine, wo die Quellen noch rein und die Wälder keimfrei sind, genauso wie ich all die Bücher, aus denen ich mein Wissen ständig erweitere, online bestelle. Selbstverständlich trage ich Handschuhe, wenn ich das Paket öffne, das mir der Postbote durch eine spezielle Luke in die Wohnung wirft.

Sie fragen sich bestimmt, woher ich mein Geld beziehe, ohne dass ich die Wohnung verlasse. Nun, ich kann wieder nur auf die Informationstechnologie verweisen, die heutzutage vieles möglich macht, eigentlich nahezu alles. Die Bücher, die ich schreibe, vertreibe ich über einen Onlinehandel, und ja, man kann davon leben, wenn auch nicht wirklich gut.

Aber ich benötige nicht viel Geld. Kleider trage ich grundsätzlich keine, seit ich den Artikel über Milben auf der Website eines wissenschaftlichen Magazins gelesen habe. Lediglich das Essen kostet mich und selbstverständlich die Heizkosten und all die Sicherheitseinrichtungen, die ich in meiner Wohnung vorgenommen habe. Wussten Sie eigentlich, dass man bereits staubundurchlässige Foliengitter zum Abkleben der Fenster bestellen kann? Diese sind mit einer antibakteriellen Lösung bestrichen, die alle Keime abtötet und somit nur gefilterte, klare Luft zu mir herein lässt. Die Keimzellen bringen uns noch alle um! Denken Sie an meine Worte, wenn Sie das nächste Mal die 5th Avenue hinunter spazieren und die Abgase der 12.500 Taxis einatmen, die täglich 1,5 Millionen Menschen und all deren Bakterien und Erreger durch Manhattan chauffieren.

Schlimmer noch aber, viel schlimmer als die Bakterien, die durch die Lüfte schwirren und in den Straßen unserer Stadt zu finden sind, sind diejenigen, die sich in unseren Körpern niedergelassen haben. Drei verdammte Kilogramm sind es, die ein menschlicher Körper in sich herumträgt. Milliarden von Bakterien, die im Magen und Darm die Nahrung zersetzen, sie zu Kot verarbeiten oder andere Funktionen nachgehen. Mein Gott, haben Sie je die vergrößerte Fotographie einer Darmbakterie gesehen? Wie ein Spinnentier mit unzähligen haarigen Beinen und Kauwerkzeuge, die denen einer Krabbe gleichen. Unförmige Körper, die sich im Darmschleim wälzen wie Schweine im Dreck, die sich an unserer Scheiße laben und sie in unser Blut befördern. Das muss man sich erst einmal vergegenwärtigen – wir haben tatsächlich Scheiße im Blut.

Doch nicht mit mir. Heutzutage, wo man magische Pilze, Halluzigene und andere bewusstseinsverändernde Drogen im Internet bestellen kann, ist es ein Leichtes, an Antibiotika zu geraten. Nun, vielleicht sind sie nicht so wirkungsvoll wie diejenigen, die die Ärzte verschreiben, aber glauben Sie mir eines – in der richtigen Dosis angewandt bewirken diese Medikamente genau das, was sie sollen: Nämlich die Bakterien im Körper zu töten.

Vielleicht bin ich blasser, als andere Menschen. Vielleicht sind meine Augen mehr gerötet, als die Augen anderer Menschen. Vielleicht habe ich weniger Abwehrkräfte, trockenere Schleimhäute, einen schlechteren Gleichgewichtssinn, schwächere Sehkraft und mehr weiße Flecken unter den Fingernägeln als andere Menschen. Aber eines habe ich garantiert nicht: mehr Bakterien im Körper, als andere Menschen.

Und auch nicht auf der Haut. Desinfektionsmittel und Bezinbäder – das sind die Zauberworte, das ist die sichere Formel für eine erregerfreie Haut. Der Schmerz, der sich einstellt, wenn Sie nackt in der Badewanne liegen, und die Aceton-Lösung sich langsam aber sicher durch den Schlitz Ihrer Eichel zur entzündeten Harnröhre vorarbeitet, ist zwar nicht angenehm, aber wenn man sich immer den Gedanken vor Augen haltet, dass mit jedem schmerzenden Stechen eine Vielzahl von Lebewesen auf und in Ihrem Körper sterben – dann ist es erträglich. Dann ist alles erträglich.

Die Flechten, die sich auf der schuppigen Haut bilden, lassen sich leicht mit einem desinfizierten Bimsstein abschruppen. Die fleischigen Stellen an den Ellenbogen und Wirbeln, dort wo die Haut am dünnsten ist, müssen eben mit Mullbinden abgedeckt werden. Krätzen auf der Kopfhaut und im Schambereich, die sich durch tägliche Rasur bilden, werden mit einer Pinzette sorgfältig abgezwickt. Meine Vorhaut, die sich bereits nach den ersten Bädern in einen knallroten Fetzen lebloses Gewebe verwandelt hatte, habe ich einfach abgeschnitten. Manchmal muss etwas Kleines opfern, um etwas Großes zu erreichen.

Natürlich werde ich nie alle erwischen. Aber mit jeder Tablette, die ich schlucke, und mit jedem Bad, das ich nehme, weiß ich, dass wieder Dutzende von ihnen gestorben sind. Das viele Blut im Stuhl ist nur eine weitere Bestätigung für meinen Erfolg, genauso wie der ständige Durchfall, der alles aus mir hinaus spült, was nicht dorthin hingehört.

Nun gut, für mich wird es langsam Zeit. Ich habe noch ein Buch zu Ende zu lesen. „Der Schlaf des Menschen“, lautet der Titel. Wussten Sie, dass achtzig Prozent der Körperfunktionen während des Schlafes herabgesetzt sind? Das soll heißen, der menschliche Körper funktioniert im Schlafen nicht so gut, wie er es sollte. Kann man das als Mensch überhaupt zulassen? Ich jedenfalls möchte nicht, dass mein Körper aufhört zu funktionieren. Dass er auf Stand-By steht, dass er angreifbar ist wie eine Indianerhorde in der weiten Prärie.

Ich glaube, ich selbst werde heute etwas länger wach bleiben. Ich werde stattdessen die Klistierspritze ausprobieren, die heute Morgen mit der Post gekommen ist. Mal sehen, wie den kleinen Scheiße-Fressern eine kräftige Ladung Lysol schmeckt…


© Markus Böhme, Februar / März 2005

 

Naja. Die ersten zwei Drittel der Geschichte hängen in meinen Augen ganz schön durch, bieten einfach nichts besonderes: Der Protagonist gibt halt das gleiche ignorante, arrogante Gelaber von sich, wie ich es in so vielen Geschichten hier lesen muss.
Thrill, Spannung, Horror kommt erst danach auf, wo ich über die ganzen neurotisch übertriebenen, stetig extremer ausfallenden Säuberungsmaßnahmen erfahre.
Summa summarum: Keine Glanzleistung.

FLoH.

 

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