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Jenseits der Routine
"Darf ich bitte mal vorbei?"
Ich bin in Eile. Meine U-Bahn wird jeden Augenblick kommen.
Die Menschen, die sich vor der ins Unterirdische führenden Treppe versammelt haben und den Durchgang versperren, scheint meine Hast nicht zu interessieren.
Wie hypnotisiert stehen sie da und starren auf etwas, was mir hinter ihren Rücken verborgen bleibt.
Ich quetsche mich zwischen zwei Männern in Regenmänteln hindurch. Sie nehmen überhaupt keine Notiz von mir.
"Vielen Dank", sage ich, und schüttel den Kopf. Nun sind die steinernen Stufen vor mir frei.
Ich will gerade wieder loslaufen, als ich sehe, was auch all die anderen um mich herum bereits gesehen haben.
Eine riesige Motte, so groß wie die Hand eines Erwachsenen, sitzt an der Wand und rührt sich nicht.
Angewidert trete ich einen Schritt zurück. In meinem Magen breitet sich eine nervöse Hitze aus.
Ein solches Tier habe ich noch nie gesehen. Darf es Motten dieser Größe überhaupt in Europa geben?
Eine Frau hinter mir unterbricht das seltsame Schweigen.
"Die ist bestimmt irgendwo entwischt."
Ich frage mich, ob sie damit Recht hat. Viel quälender ist für mich aber die Frage: Von wo ist dieses Ding entwischt?
Ehe es zu weiteren Spekulationen kommt, breitet die Motte ihre Flügel aus, und verschwindet in der Tiefe des Bahnhofs. Ein Mann, der gerade nach oben laufen wollte, weicht ihr entsetzt aus.
Ein wenig Gemurmel. Kurzes Geplänkel zwischen sich unbekannten Menschen.
Dann löst die Ansammlung der Augenzeugen sich auf. Die Leute gehen wieder ihre Wege. Zurück bleibe ich. Ein Junge rempelt mich an, während er nach unten läuft. Er hat von alledem nichts mitbekommen.
Mich schüttelt es. Ist das gerade wirklich passiert?
Ich stehe hier, mitten auf den Stufen, und das Leben nimmt wieder seinen gewohnten Lauf. Als wäre nichts gewesen.
Meine U-Bahn habe ich wohl verpasst.
In bizarren Gedanken vertieft, laufe ich an den kleinen Geschäften vorbei, und fahre mit der Rolltreppe weiter nach unten.
Die Leuchttafel zeigt an, dass meine Bahn Verspätung hat.
In diesem Moment fährt sie ein. Was für ein Glück ich doch habe.
Drinnen ist es fast leer. Ein alter Mann hat es sich auf einer Zweierbank bequem gemacht, und ein Typ im Anzug klammert sich an eine Haltestange. Vermutlich wird er bald aussteigen.
Ich setze mich; starre durch das Fenster in die Dunkelheit des unterirdischen Gleissystems. Gelegentlich zischen Leuchtstoffröhren vorbei.
Keine Spur von riesigen Motten, die hier unten ihr neues Leben gefunden haben. Warum denke ich bloß immer so einen Mist?
Zu Hause werde ich Sandra von dem Vorfall erzählen. Ich weiß jetzt schon, was sie sagen wird.
So groß wie deine Hand? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Möglicherweise wird sie damit sogar richtig liegen. Ich neige zu Übertreibungen. So bin ich halt. Meine Erinnerung wird schwammig. Je intensiver ich mich in ihr verliere, desto unwirklicher kommt sie mir vor.
So groß wird die Motte gar nicht gewesen sein.
Doch andererseits: Die Menschen sind wegen ihr stehen geblieben; haben riskiert, ihre Bahn zu verpassen.
Aber bleiben die Leute nicht auch bei großen Spinnen stehen?
Ich schaue auf meine Handflächen. So groß kann keine Motte sein.
Es ist unmöglich.
Nein, die Vergangenheit spielt mir einen Streich. So schnell, wie die Beobachter vorhin auseinander gegangen sind, so schnell weicht auch die Erinnerung an ein Monstrum.
Besser ist es wohl, ich werde Sandra überhaupt nichts erzählen.
Motten, so groß wie die eigene Hand, gibt es nicht.
Da bin ich mir völlig sicher.
Die Bahn hält. Der Typ im Anzug steigt aus, wie ich es vermutet habe.
Alles nimmt seinen Lauf.
Ich lächle, und freue mich auf das Abendessen.
Ich freue mich auf den routinierten Alltag.
Alles ist ... vollkommen normal.