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Jenseits der Routine

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24.04.2003
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Jenseits der Routine

"Darf ich bitte mal vorbei?"
Ich bin in Eile. Meine U-Bahn wird jeden Augenblick kommen.
Die Menschen, die sich vor der ins Unterirdische führenden Treppe versammelt haben und den Durchgang versperren, scheint meine Hast nicht zu interessieren.
Wie hypnotisiert stehen sie da und starren auf etwas, was mir hinter ihren Rücken verborgen bleibt.
Ich quetsche mich zwischen zwei Männern in Regenmänteln hindurch. Sie nehmen überhaupt keine Notiz von mir.
"Vielen Dank", sage ich, und schüttel den Kopf. Nun sind die steinernen Stufen vor mir frei.
Ich will gerade wieder loslaufen, als ich sehe, was auch all die anderen um mich herum bereits gesehen haben.
Eine riesige Motte, so groß wie die Hand eines Erwachsenen, sitzt an der Wand und rührt sich nicht.
Angewidert trete ich einen Schritt zurück. In meinem Magen breitet sich eine nervöse Hitze aus.
Ein solches Tier habe ich noch nie gesehen. Darf es Motten dieser Größe überhaupt in Europa geben?
Eine Frau hinter mir unterbricht das seltsame Schweigen.
"Die ist bestimmt irgendwo entwischt."
Ich frage mich, ob sie damit Recht hat. Viel quälender ist für mich aber die Frage: Von wo ist dieses Ding entwischt?
Ehe es zu weiteren Spekulationen kommt, breitet die Motte ihre Flügel aus, und verschwindet in der Tiefe des Bahnhofs. Ein Mann, der gerade nach oben laufen wollte, weicht ihr entsetzt aus.
Ein wenig Gemurmel. Kurzes Geplänkel zwischen sich unbekannten Menschen.
Dann löst die Ansammlung der Augenzeugen sich auf. Die Leute gehen wieder ihre Wege. Zurück bleibe ich. Ein Junge rempelt mich an, während er nach unten läuft. Er hat von alledem nichts mitbekommen.
Mich schüttelt es. Ist das gerade wirklich passiert?
Ich stehe hier, mitten auf den Stufen, und das Leben nimmt wieder seinen gewohnten Lauf. Als wäre nichts gewesen.
Meine U-Bahn habe ich wohl verpasst.
In bizarren Gedanken vertieft, laufe ich an den kleinen Geschäften vorbei, und fahre mit der Rolltreppe weiter nach unten.
Die Leuchttafel zeigt an, dass meine Bahn Verspätung hat.
In diesem Moment fährt sie ein. Was für ein Glück ich doch habe.
Drinnen ist es fast leer. Ein alter Mann hat es sich auf einer Zweierbank bequem gemacht, und ein Typ im Anzug klammert sich an eine Haltestange. Vermutlich wird er bald aussteigen.
Ich setze mich; starre durch das Fenster in die Dunkelheit des unterirdischen Gleissystems. Gelegentlich zischen Leuchtstoffröhren vorbei.
Keine Spur von riesigen Motten, die hier unten ihr neues Leben gefunden haben. Warum denke ich bloß immer so einen Mist?

Zu Hause werde ich Sandra von dem Vorfall erzählen. Ich weiß jetzt schon, was sie sagen wird.
So groß wie deine Hand? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Möglicherweise wird sie damit sogar richtig liegen. Ich neige zu Übertreibungen. So bin ich halt. Meine Erinnerung wird schwammig. Je intensiver ich mich in ihr verliere, desto unwirklicher kommt sie mir vor.
So groß wird die Motte gar nicht gewesen sein.
Doch andererseits: Die Menschen sind wegen ihr stehen geblieben; haben riskiert, ihre Bahn zu verpassen.
Aber bleiben die Leute nicht auch bei großen Spinnen stehen?

Ich schaue auf meine Handflächen. So groß kann keine Motte sein.
Es ist unmöglich.
Nein, die Vergangenheit spielt mir einen Streich. So schnell, wie die Beobachter vorhin auseinander gegangen sind, so schnell weicht auch die Erinnerung an ein Monstrum.
Besser ist es wohl, ich werde Sandra überhaupt nichts erzählen.

Motten, so groß wie die eigene Hand, gibt es nicht.
Da bin ich mir völlig sicher.

Die Bahn hält. Der Typ im Anzug steigt aus, wie ich es vermutet habe.

Alles nimmt seinen Lauf.
Ich lächle, und freue mich auf das Abendessen.
Ich freue mich auf den routinierten Alltag.

Alles ist ... vollkommen normal.

 

Hi Cerberus!

Viel sagen zu dieser Geschichte kann ich leider nicht, deshalb werde ich es aufschreiben. (Gratis Schenkelklopfer.)

Jetzt mal ernsthaft: die Handlung ist etwas, mhm, dünn. Zwischendurch kam bei mir sogar etwas Langeweile auf. Auch das Ende ist sehr unspektakulär. An sich sind die Gedanken schon interessant, aber die Handlung ist zu seicht, als dass sie zum Nachdenken animieren könnten.

Schade eigentlich.

Details:

Darf es Motten dieser Größe überhaupt in Europa geben?
Darf es?
Schöner werde: Gobt es Motten dieser Größe überhaupt...

Eine Frau hinter mir unterbricht das seltsame Schweigen.
In meinem subjektiven Sprachverständnis wird Schweigen durch- und nicht unterbrochen.

In diesem Sinne
c

 

Eine interessante Geschichte.

banal - daher wirkungsvoll

arbeite sie noch etwas aus! Sonst gut - etwas gänsehautmäßig.

Gruß
Ricarda

 

@ chazar,

Schöner werde: Gobt es Motten dieser Größe überhaupt...

tschuldige, aber das mußte sein :D


@ cerb

Viel quälender ist für mich aber die Frage: Von wo ist dieses Ding entwischt?

Da hättest du einhaken und deine Phantasie in Gen-Laboren schweifen lassen können...

Eigens erlebte Geschichten für virtuelle Kameraden interessant zu erzählen ist nicht leicht; selber hat man die Tiefe des Erlebens hinter sich, aber dieses in Worte zu kleiden bedarf leider mehr als du uns mit dieser Geschichte offeriert hast. Ich fands nicht besonders unterhaltsam, besonders, da er dieses für ihn so wichtige Ereignis nicht einmal seiner Freundin erzählen konnte...

Lieber Gruß
ber

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Cerberus!

Also mir gefällt Deine Geschichte sehr gut - genau so, wie sie ist.

Gerade die subtile Handlung regt zum Nachdenken an, und ich finde es auch gut, daß Du nicht eine Richtung vorgegeben hast (Genlabore). Und sie müßte ja gar nicht direkt einem Genlabor entschlüpft sein - ich glaube kaum, daß die dort Motten züchten -, sie könnte genausogut etwas Genmanipuliertes (z.B. Getreide) zu sich genommen haben...
Die Geschichte läßt einen aber über verschiedenes andere auch nachdenken, zum Beispiel darüber, wie wir Dinge verdrängen, die wir nicht glauben wollen - es kann nicht sein, was nicht sein darf...
Die Riesenmotte ist einfach stellvertretend für etwas, das schwer zu glauben ist. Gesellschaftlich gibt es ja auch öfter Dinge, die unwahrscheinlich klingen - zum Beispiel fällt mir da die Sache mit den KZs ein: Wie mag es auf die ersten Leute gewirkt haben, die davon hinter vorgehaltener Hand erfahren haben? Wie viele mögen es gewesen sein, die erst gesagt haben, das glauben sie nicht, weil es einfach so unglaublich klang?

Mir ist übrigens einmal, als ich noch im fünften Stock wohnte, ohne Gegenüber, mit freier Sicht über Wien, abends ein grasgrüner Riesenheuhüpfer ins Zimmer gesprungen/geflogen, der angeblich in Afrika beheimatet ist (habe ihn selbst bisher noch nirgens abgebildet gefunden). Aber mein Sohn hat ihn auch gesehen, es war keine optische Täuschung...

Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit.
Das zu löschen, ist die einzige Änderung, die ich Dir vorschlagen möchte. Ist ja keine Notwendigkeit dafür da, das dazuzuschreiben - zumindest nehme ich nicht an, daß Dir die Geschichte persönlich so nahe geht, daß Du Dir rücksichtsvolle Kommentare erwartest. :D Eher glaube ich, daß dieser Satz das Denken zu sehr auf die Handlung selbst lenkt. ;)
Aber wahrscheinlich hast Du den Satz ja dazugeschrieben, um auf die tatsächliche Existenz solcher Riesenmotten aufmerksam zu machen, das würde ihn natürlich wieder rechtfertigen.
Naja, jetzt, wo ich Dich bezüglich des Satzes hoffentlich verwirrt hab, mach ich mich besser wieder aus dem Staub...:D

Liebe Grüße,
Susi :)

[edit]Nein, halt! Da war noch was: In welchen Intervallen fahren denn bei Dir die U-Bahnen, daß einem "sein" Zug davonfahren kann und eine Verspätung angezeigt wird? :susp: - Würde das Ganze eher in einem Bahnhof mit "richtigen" Zügen spielen lassen, das klingt echter. ;)

 
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Hallo zusammen.

Es stimmt schon, die eigentliche Handlung ist etwas dünn. Viel mehr kam es mir auch auf die Schilderung der Verdrängung an. Oftmals nehmen wir Dinge wahr, die uns unterbewusst unglaublich erscheinen, setzen uns aber nicht mit ihnen auseinander, und vergessen sie ganz einfach, oder reduzieren sie auf etwas Normales, für das es eine Erklärung geben muss.
Das ist die Aussage der Geschichte.
Den Nachtrag mit der wahren Begebenheit hätte ich mir wohl tatsächlich sparen können, aber ich erinnere mich noch zu gut an die Szene an der Dortmunder U-Bahn Station, als da plötzlich diese riesige Motte saß. Die Leute blieben stehen, starrten sie an, und nahmen dann eine andere Treppe, da sich niemand wagte, unter ihr durchzugehen.
Das war eine sehr bizarre Situation, und in meiner Erinnerung kann ich mir kaum noch vorstellen, dass das Ding wirklich so groß war. Lediglich der Gedanke daran, dass die Leute stehen blieben zeigt mir, dass diese Motte wohl wirklich gigantisch gewesen ist.

Sehr interessant finde ich daher die Frage: Was wäre gewesen, wenn ich der einzige gewesen wäre, der sie gesehen hätte?


Viele Grüße

Cerberus

P.S.
Ebenfalls interessant: Wenn ich mir diese Szene vor Augen rufe, kommt sie mir heute unwirklich vor, fast wie ein Traum.
Als würde das Gehirn sie tatsächlich zu verdrängen versuchen.

 

Sehr interessant finde ich daher die Frage: Was wäre gewesen, wenn ich der einzige gewesen wäre, der sie gesehen hätte?
Die Motte hätte sich gedacht: "Ha, ein einsames Opfer, das verfolge ich jetzt..." :D

Hm, es wäre nichts anders gewesen, da sich ja alle, die sie gesehen haben, anschließend wieder getrennt haben, also jeder mit seinem Erlebnis nach Hause gegangen ist und es vielleicht jedem jetzt so geht, wie Dir. Für den Einzelnen ist es also eigentlich kein Unterschied, ob es hundert waren oder nur er selbst.
Anders wäre es vielleicht gewesen, wenn sie untereinander zu reden begonnen hätten - aber das ist unmodern... :D

Liebe Grüße,
Susi :)

 

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