Jessie - Ein Leben mit AIDS
Hallo,
Mein Name ist Jessie und ich bin 16 Jahre alt. Ich wohne in Hamburg und um es vorweg zu nehmen, ich bin AIDS-krank. Wieso wollt ihr jetzt sicher wissen, doch es gibt keinen Grund, jedenfalls nicht für mich. Ich habe noch nie zuvor mit einem Mädchen geschlafen und auch sonst keine Schweinereien gemacht. Im großen und ganze bin ich ein recht netter Mensch, hätte ich mich nicht irgendwann einmal, irgendwo infiziert.
Nun, jetzt ist es zu spät. Ein halbes Jahr lang, liege ich nun schon hier in meinem Krankenhausbett und quäle mich durch jeden neuen Tag hindurch. Anfangs ging es ja noch, ich fühlte mich nur so schwach und kraftlos, doch es wurde immer schlimmer. Mittlerweile tut mir selbst das Atmen weh und ich habe größte Mühe diesen Text auf meinem kleinen Notebook zu verfassen. Warum ich so etwas schreibe? Die Ärzte haben gesagt ich würde das Ende dieser Woche wohl nicht mehr erleben, aber ich weiß es besser. Ich werde noch nicht einmal den kommenden Morgen mehr miterleben können. Die Digitaluhr an meiner Seite sagt mir, dass wir zwei Uhr früh haben, doch es ist bedeutungslos für mich geworden. Eigentlich ist mir mittlerweile alles egal, alles bis auf den Tod. Früher habe ich mit meinen Klassenkameraden oft darüber gelacht, wir haben uns gegenseitig Mut gemacht und behauptet man hätte keine Angst davor zu sterben, doch die Zeiten haben sich geändert. Immer wieder stellte sich mir die Frage wie es wohl sein muss zu sterben, was danach kommt und wieso man eigentlich sterben muss. Nun, auf die letzte Frage habe ich bis heute keine Antwort gefunden. Welchen Sinn kann es wohl haben wenn ich sterbe? Tut Gott der Menschheit damit einen Gefallen? Würde ich sonst alle Menschen oder jedenfalls einen großen Teil von ihnen ins Verderben reißen und zu einem Diktator wie Hitler werden? Ich mit meinem Notendurchschnitt von drei bis vier? Ich glaube nicht, jedenfalls halte ich all das für relativ unwahrscheinlich. Auch glaube ich nicht mehr an Gott. Denn wenn es ihn wirklich geben sollte, wenn er wirklich so großartig und herrlich ist, wieso lässt er mich hier dann so leiden? Oft schon habe ich meinen Eltern gesagt, sie sollen einen Pfarrer schicken, damit ich mit ihm mal reden könnte, doch bis heute ist niemals einer aufgetaucht. Ob sie sich nicht trauen einer offenen Konfrontation mit ihrem Glauben gegenüberzutreten oder ob sie einfach nur Angst haben mir ins Gesicht zu sehen und zu sagen „Vertraue in Gott mein Kind, dann wird alles wieder gut“?
Tja, die Kirche hat mich genauso im Stich gelassen wie meine Freunde. Zwar war die Schulklasse mal hier, doch ich habe nie wieder etwas von meinen ehemaligen Kameraden gehört. Alles was mir blieb waren meine Eltern und der PC, zwei Dinge ohne die ich sicher schon viel früher aufgehört hätte zu kämpfen. Aber schließlich, hab ich mich doch vom Todesrausch verführen lassen. Denn jetzt kämpfe ich nicht mehr und ich werde es auch nicht wieder. Ich bin es leid, täglich neue Infusionen, schmerzhafte Untersuchungen und ständig diese geheuchelte „Alles wird gut“ Masche zu ertragen. Ich will förmlich sterben, auch wenn ich Angst davor hab. Wer auch immer diesen Text lesen sollte, der stelle sich mal vor wie es ist tot zu sein. Schließe seine Augen und denke an nichts, an gar nichts. Ich weiß, es scheint unmöglich zu sein und doch kann ich es mir von Tag zu Tag besser vorstellen. Würde ich jetzt die Augen schließen und daran denken tot zu sein, dann wäre ich es. Ich weiß, dann würde ich sterben und all das hier hätte ein Ende. Aber ich will nicht, würde noch so vieles Erleben wollen, hätte so vieles wieder gut zu machen und würde mir nichts sehnlicher wünschen als einen neuen Versuch. Aber das Leben ist brutal, gemein und lacht sich über einen Kaputt. Es kommt immer anders als man denkt, das weiß ein jeder selbst recht gut.
Ich würde so gerne nur einmal mit einem Mädchen schlafen, auch wenn es für einen sechzehnjährigen verrückt klingen mag. Und ich würde am liebsten noch eine Abschiedsparty geben, eine Party wie sie noch nie jemand zuvor gesehen hat. Ich würde mich zusaufen, die härtesten Drogen nehmen, nur um eine paar Minuten lang alle Sorgen und Ängste zu vergessen. Um die neugewonnenen Schwingen auszubreiten und sich den Abgrund hinunterzustürzen, nur um gleich darauf wie eine Phönix aus der Asche wieder aufzusteigen und über den Dingen zu stehen, zu schweben. Ja, ich glaube dann würde ich glücklicher von dieser Welt gehen als es heute der Fall ist. Aber wie gesagt, dass Leben gönnt einem nichts, nicht einmal seinen letzten Wunsch. So, ich glaube ich habe genug erzählt und philosophiert. Ihr müsst wissen das ich mich freuen würde, wenn so viele wie möglich diesen Text lesen zu Gesicht bekämen. Denn ich schrieb ihn um ein Andenken zu hinterlasen, um nicht schweigend zu gehen.
Wir sehen uns in der Ewigkeit,
Jessie
Der abgemagerte Junge schob seinen Notebook mit dürren Fingern von seinem Schoß und drückte den Drehmechanismus seines Bettes. Langsam begannt es um neunzig Grad zu rotieren und blieb schließlich so stehen, dass man ungehindert aus dem Fenster sehen konnte.
Die Augen des Jungen bekamen einen schwachen Glanz, als er über die noch schlafende Stadt blickte und das Meer am Horizont erkennen konnte.
Als um sechs Uhr morgens die Sonne aufging, lag ein Lächeln auf des Jungen Lippen und kurz darauf wurde er von einer Schwester tot im Bett gefunden. Der Notebook zog noch einmal den letzten Funken Strom aus seinem Akku und schaltete sich dann aus. Gespeichert war der Text des Jungen nicht und deshalb wird niemand ihn jemals zu Gesicht bekommen.
... Aber das Leben ist brutal, gemein und lacht sich über einen Kaputt....