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Joggen mit Schiller
„Wie machst du das nur?“, fragte ich meine Freundin Evelyn, als wir uns im Café gegenübersaßen. Evelyn ist groß und schlank und trägt ihr Haar grau. Ich bin gern mit ihr zusammen, wir lachen über die selben Dinge, und man braucht ihr nichts zu erklären. Wenn sie lächelt, blicken ihre dunkelbraunen Augen ganz warm.
„Ich habe ganz zufällig in einer Zeitschrift darüber gelesen“, sagte sie, „beim Arzt im Wartezimmer, und es hat tatsächlich funktioniert.“ Mit der Kuchengabel nahm sie ein Stück von ihrer Mohn-Kirsch-Sahne-Torte, einem Traum in rosa, weiß und schiefergrau, und erklärte: „Immer eine Minute laufen, dann zwei Minuten gehen, eine Minute laufen, zwei Minuten gehen, das Ganze eine halbe Stunde lang. Du wirst nicht glauben, wie lang eine Minute ist. Doch wenn du das jeden Abend machst, kannst du bald eine Minute laufen, eine Minute gehen, und später verschiebt sich das immer mehr.“ Nachdenklich rührte ich in meinem Tee.
Ich gehe abends recht gerne laufen. Ambitioniertere Menschen würden es vielleicht „free-style-walking“ nennen, denn ich passe es ganz meiner Stimmungslage an. In den letzten Monaten scheint sich meine Stimmung entscheidend verbessert zu haben, denn ich trage beim Laufen mein geblümtes Leinenkleid und leichte Schuhe, betrachte den Himmel, höre den Vögeln zu, nasche ein paar Himbeeren von den Sträuchern am Wegesrand und bleibe stehen, so oft eine Maus über den Waldboden huscht.
Heute Abend will ich ein neues Lauf-Leben beginnen – joggend. Ich ziehe die Uhr mit dem Sekundenzeiger an, Jeans und Turnschuhe. An den Häusern spaziere ich vorbei und schaue in die Luft, als ob nichts wäre, doch sobald ich mich unbeobachtet fühle, blicke ich auf die Uhr und setze mich in Trab. Die erste Minute ist geschafft, der Atem geht noch ruhig. Locker überspringe ich eine Klasse, gehe nur eine Minute statt der erlaubten zwei, jogge dann wieder eine Minute. Ich fühle mich gut. Das mag auch daran liegen, dass ich, wie von Evelyn empfohlen, in die Strecke eine leichte Steigung eingebaut habe, die Richtung aber so wähle, dass der Weg bergab führt. Allmählich wird der Weg eben, die Atmung tiefer. Ich überlege, wie umständlich Einstein die Relativitätstheorie bewiesen hat, dabei ist es doch so einfach: bewege ich mich schnell, vergeht die Minute langsam, und umgekehrt.
Aber ich halte durch, selbst dann, als mir bewusst wird, dass ich, um zu meinem Ausgangspunkt, einem gemütlichen blauen Sofa, zurückzukehren, die Steigung auch in umgekehrter Richtung bewältigen muss. Bei meiner ersten Strecke bergauf stolpere ich, keuche und fühle mich, als der Sekundenzeiger die Minute für vollendet erklärt, wie eine Königin.
Ein graziles Reh blickt mir aus großen braunen Augen mitleidig nach, wie ich da blauäugig und -jeansig vorbeihoppele. Beschämt suche ich nach einem Rhythmus, finde ihn jedoch nur im Wummern meines pochenden Herzens. "Klappe", sage ich, doch es gehorcht mir nicht. Offenbar hat mich die Geschwindigkeit in den anaeroben Bereich katapultiert, und da bin ich nun, wie einstmals Schiller, als er durch tägliches Joggen in der Ilmenau vergeblich versuchte, seine pathetischen Überspannungen zu lösen. „Er muss es übertrieben haben“, denke ich in der Erinnerung an den Anblick seiner betont leptosomen Weste, die ich bei einem Besuch im Schiller-Haus mit einem kurzen Blick umfasste. Es muss frustrierend gewesen sein, stets nur Silber zu schaffen, während der Olympier alles Gold für sich beanspruchte. So entlehnte er von der Siegesgöttin kostspielige Flügelschuhe und joggte an einem herbstlich getönten Augustabend an der Ilm entlang, im Takt seiner Schritte skandierend:
„Von der Stirne heiß
rinnen muss der Schweiß,
soll das Werk den Meister loben,
doch der Regen kommt von oben.“
Gegen Ende des Weges würde es leichter, hatte Evelyn gemeint. Das kann ich so nicht bestätigen. Trotzdem gelingt es mir ganz am Schluss, eine Formation brauner Nacktschnecken zu überholen, die eilig das feuchte Gras ansteuern. Das sollte sich im Nachhinein gesehen als Fehler erweisen, denn sie nehmen Witterung auf, verfolgen mich unbemerkt, warten versteckt hinter Grasbüscheln und in den Buchenhecken, bis ich, keine zwei Meter von dem Gemetzel entfernt, den Schlaf des gerechten Joggers schlafe, und überfallen in der Nacht meine zarten jungen Zucchini.
Doch davon weiß ich jetzt noch nichts, erreiche endlich die ersten Häuser, betrachte, als ob nichts wäre, den dunkler werdenden Himmel und schlendere gemächlich nach Hause.