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Joggen mit Schiller

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24.08.2007
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Joggen mit Schiller

„Wie machst du das nur?“, fragte ich meine Freundin Evelyn, als wir uns im Café gegenübersaßen. Evelyn ist groß und schlank und trägt ihr Haar grau. Ich bin gern mit ihr zusammen, wir lachen über die selben Dinge, und man braucht ihr nichts zu erklären. Wenn sie lächelt, blicken ihre dunkelbraunen Augen ganz warm.

„Ich habe ganz zufällig in einer Zeitschrift darüber gelesen“, sagte sie, „beim Arzt im Wartezimmer, und es hat tatsächlich funktioniert.“ Mit der Kuchengabel nahm sie ein Stück von ihrer Mohn-Kirsch-Sahne-Torte, einem Traum in rosa, weiß und schiefergrau, und erklärte: „Immer eine Minute laufen, dann zwei Minuten gehen, eine Minute laufen, zwei Minuten gehen, das Ganze eine halbe Stunde lang. Du wirst nicht glauben, wie lang eine Minute ist. Doch wenn du das jeden Abend machst, kannst du bald eine Minute laufen, eine Minute gehen, und später verschiebt sich das immer mehr.“ Nachdenklich rührte ich in meinem Tee.

Ich gehe abends recht gerne laufen. Ambitioniertere Menschen würden es vielleicht „free-style-walking“ nennen, denn ich passe es ganz meiner Stimmungslage an. In den letzten Monaten scheint sich meine Stimmung entscheidend verbessert zu haben, denn ich trage beim Laufen mein geblümtes Leinenkleid und leichte Schuhe, betrachte den Himmel, höre den Vögeln zu, nasche ein paar Himbeeren von den Sträuchern am Wegesrand und bleibe stehen, so oft eine Maus über den Waldboden huscht.

Heute Abend will ich ein neues Lauf-Leben beginnen – joggend. Ich ziehe die Uhr mit dem Sekundenzeiger an, Jeans und Turnschuhe. An den Häusern spaziere ich vorbei und schaue in die Luft, als ob nichts wäre, doch sobald ich mich unbeobachtet fühle, blicke ich auf die Uhr und setze mich in Trab. Die erste Minute ist geschafft, der Atem geht noch ruhig. Locker überspringe ich eine Klasse, gehe nur eine Minute statt der erlaubten zwei, jogge dann wieder eine Minute. Ich fühle mich gut. Das mag auch daran liegen, dass ich, wie von Evelyn empfohlen, in die Strecke eine leichte Steigung eingebaut habe, die Richtung aber so wähle, dass der Weg bergab führt. Allmählich wird der Weg eben, die Atmung tiefer. Ich überlege, wie umständlich Einstein die Relativitätstheorie bewiesen hat, dabei ist es doch so einfach: bewege ich mich schnell, vergeht die Minute langsam, und umgekehrt.

Aber ich halte durch, selbst dann, als mir bewusst wird, dass ich, um zu meinem Ausgangspunkt, einem gemütlichen blauen Sofa, zurückzukehren, die Steigung auch in umgekehrter Richtung bewältigen muss. Bei meiner ersten Strecke bergauf stolpere ich, keuche und fühle mich, als der Sekundenzeiger die Minute für vollendet erklärt, wie eine Königin.

Ein graziles Reh blickt mir aus großen braunen Augen mitleidig nach, wie ich da blauäugig und -jeansig vorbeihoppele. Beschämt suche ich nach einem Rhythmus, finde ihn jedoch nur im Wummern meines pochenden Herzens. "Klappe", sage ich, doch es gehorcht mir nicht. Offenbar hat mich die Geschwindigkeit in den anaeroben Bereich katapultiert, und da bin ich nun, wie einstmals Schiller, als er durch tägliches Joggen in der Ilmenau vergeblich versuchte, seine pathetischen Überspannungen zu lösen. „Er muss es übertrieben haben“, denke ich in der Erinnerung an den Anblick seiner betont leptosomen Weste, die ich bei einem Besuch im Schiller-Haus mit einem kurzen Blick umfasste. Es muss frustrierend gewesen sein, stets nur Silber zu schaffen, während der Olympier alles Gold für sich beanspruchte. So entlehnte er von der Siegesgöttin kostspielige Flügelschuhe und joggte an einem herbstlich getönten Augustabend an der Ilm entlang, im Takt seiner Schritte skandierend:

„Von der Stirne heiß
rinnen muss der Schweiß,
soll das Werk den Meister loben,
doch der Regen kommt von oben.“

Gegen Ende des Weges würde es leichter, hatte Evelyn gemeint. Das kann ich so nicht bestätigen. Trotzdem gelingt es mir ganz am Schluss, eine Formation brauner Nacktschnecken zu überholen, die eilig das feuchte Gras ansteuern. Das sollte sich im Nachhinein gesehen als Fehler erweisen, denn sie nehmen Witterung auf, verfolgen mich unbemerkt, warten versteckt hinter Grasbüscheln und in den Buchenhecken, bis ich, keine zwei Meter von dem Gemetzel entfernt, den Schlaf des gerechten Joggers schlafe, und überfallen in der Nacht meine zarten jungen Zucchini.

Doch davon weiß ich jetzt noch nichts, erreiche endlich die ersten Häuser, betrachte, als ob nichts wäre, den dunkler werdenden Himmel und schlendere gemächlich nach Hause.

 

Hallo enigma,
ich danke dir! Ich habe mich amüsiert, ich wurde unterhalten, dabei halte ich das Joggen für das Langweiligste und Sinnloseste, was es gibt. Für mich hast du's als solches auch entlarvt - trotz Schiller und Einstein oder gerade mit ihrer Hilfe. Gleichzeitig aber bin ich gern an der Seite deiner Protagonistin gejoggt. Toll!

Humoristik hoch 10:

Trotzdem gelingt es mir ganz am Schluss, eine Formation brauner Nacktschnecken zu überholen, die eilig das feuchte Gras ansteuern. Das sollte sich im Nachhinein gesehen als Fehler erweisen, denn sie nehmen Witterung auf, verfolgen mich unbemerkt, warten versteckt hinter Grasbüscheln und in den Buchenhecken, bis ich, keine zwei Meter von dem Gemetzel entfernt, den Schlaf des gerechten Joggers schlafe, und überfallen in der Nacht meine zarten jungen Zucchini.

 

Salü enigma,

da Kasimir den Humoristikpunkt 10 bereits vergeben hat, hier Punkt 9 (oder 11?):

Ich fühle mich gut. Das mag auch daran liegen, dass ich, wie von Evelyn empfohlen, in die Strecke eine leichte Steigung eingebaut habe, die Richtung aber so wähle, dass der Weg bergab führt.

Und:

Es muss frustrierend gewesen sein, stets nur Silber zu schaffen, während der Olympier alles Gold für sich beanspruchte. So entlehnte er von der Siegesgöttin kostspielige Flügelschuhe und joggte

Das ist einfach kostbar geschrieben. Danke für's Lachen!

Herzlich, Gisanne

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo, ihr beiden Lieben,

das möchte ich euch gerne zurückgeben: "Danke für´s Lachen"!!!, denn ich hatte keine Ahnung, wie es wohl ankommen würde.

Vielen Dank für eure Antworten, und ein schönes Wochenende! Meines habt ihr jedenfalls gerettet.

Und ratet mal, wo ich gerade herkomme....(nee, echt jetzt) Schiller wollte allerdings nicht mit, obwohl die Sonne scheint. Hat sich eine Blase gelaufen, gestern. Sollte sowieso besser Hanteltraining machen...immer nur davonlaufen führt nirgendwo hin.


Liebe Grüße

enigma

 

„Daß euch mein Gedicht Freude machte, war mir sehr angenehm zu hören. Aber gegen Göthen bin ich und bleib ich eben ein poetischer Lump.“
Schiller 27.06.1796

Hallo, enigma,

auch mir gefällt Dein „Joggen mit Schiller“.

Zu dem, was Gisanne und Kasimir gesagt haben, gibt’s und vermag ich nichts hinzuzufügen, außer vielleicht,

dass Dein Schiller-Zitat ein (vielleicht unbewusster) Hinweis darauf ist, dass die heutige alltägliche Freizeitwelt nichts anderes ist als die Verlängerung der Arbeitswelt mit (scheinbar) selbst gewählten Mitteln: man trifft sich regelmäßig zu festgelegten Zeiten mit Freunden/Bekannten um in bestimmten Textilien („Nordic Walking“, Jogging, Fahrrad, Motorrad u. v. a. m., oftmals auch modisch bewusst und zur Schau gestellt) einem bestimmten „Hobby“, der „well-„ und „fitness“ zu frönen, weil man einerseits auf der Höhe der Zeit sein will und es andererseits auch noch „chic“, „gesund“ und alles in allem „systemkonform“ ist. Und gerade das ist die scheinbare Idylle des Liedes von der Glocke eben nicht, denn gegen Ende hört man „Freiheit und Gleichheit!“ schallen und „der ruh’ge Bürger greift zur Wehr“ und nicht zum Skistock zum Walken.

Sigrid Damm berichtet in „Christiane und Goethe“ davon, dass die jungen Leute in Weimar beim Vortrag der „Glocke“ vor Lachen von den Stühlen gefallen wären, und dennoch war dies die Jugend, die, - nachdem sie ganz tief vor Buonaparte gebuckelt hatte und dann der Rausch der frz. Revolution blutig über sie weggezogen war, - aus eben der verlachten Glocke das Motto wählte, „der Mann muss hinaus in’s feindliche Leben“ und ins Idyll des Biedermeiers ein- und untertauchte.

So gibt Dein kleiner, feiner Text auch noch ein wenig Zeitkritik her.

Gruß

friedel

 

Hallo enigma!

Auch ich fand deine Geschichte recht unterhaltsam, ich musste zwar nicht lachen, aber schmunzeln schon... :p Joggen ist so ne Sache, entweder man machts, oder man machts nicht. Selbst wenn man sich nur mal am Wochenende morgens im Park trifft (in Sportklamotten wohlgemerkt ;)) um zu "joggen" und das am Ende doch nur ein Spaziergang mit Klatsch und Tratsch wird, kann man am Ende sagen: Ich war am Sonntag im Park laufen (laufen ist ja so schön vieldeutig...) :D

wie einstmals Schiller, als er durch tägliches Joggen in der Ilmenau
Bitte? In Ilmenau, oder? ;)
Du hast mich sehr gut unterhalten, danke. :)

Liebe Grüße,
Apfelstrudel

PS: "Goethe finde ich nett, deswegen bevorzuge ich Schiller. Wenn Goethe Pop ist, dann ist Schiller Rock." Äh, wer hat das doch gleich gesagt? Achja, Matthias Schweighöfer ;)

 

Hallo enigma,
diese tiefschürfenden Überlegungen Friedrichards kann ich nicht so ganz nachvollziehen.
Ich habe eine kurzweilige, kleine Geschichten gelesen, die ich eher unter "nett und harmlos" einstufen würde. Aber ein schöner Stil, angenehme Erzählstimme.
Nette, kleine Geschichte.

Gruß
Quinn

 

Hallo enigma, hattest du diese Geschichte nicht neulich schon einmal gepostet? Ich bilde mir ein, das neulich schon einmal gelesen zu haben, dann wollte ich was dazu schreiben und es war auf einmal weg.
Na, wie dem auch sei - hat mir gut gefallen, erinnert mich so nett an Weimar... Es liest sich gut und hat so einen leichten Witz,
gern gelesen, sammamish

 

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