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Johann
Jeder hatte sich eine Vorstellung davon gemacht, wie Johann sein müsse.
Die Mehrheit stellte sich ihn wahrscheinlich als pathologischen Idioten vor, wofür wohl der bäuerliche Name verantwortlich war.
Der Umstand jedoch, dass er zu uns in die elfte Klasse kam, relativierte unser Vorurteil gegen ihn als dümmlich Beschränkten.
So wenig glaubwürdig ein Name als Aussage über einen Menschen generell ist, war er das bei ihm vor allem dadurch, dass er ihn erst seit kurzer Zeit trug.
Und so fragt sich jeder, wie schwierig es sein muss, plötzlich nicht mehr der sein zu können, der man früher war.
Die Schulleitung hatte selbstverständlich versucht, Johanns Identität geheim zu halten, doch die Diskretion leckte, und heraus sickerte die Geschichte, deren Substanz bereits so viele Ausläufer und Verzweigungen hatte, dass die Austrittsstelle unauffindbar wurde.
Daraus entstand ein neues Schweigen, eine Diskretion der zweiten Dimension- Wir leugnen unser Wissen.
Johann, der ganz normale, neue Schüler.
Ich aber fürchte mich vor meinem Wissen und dem, was passiert, schöpfe ich einmal aus Versehen, in einem unüberlegten und banalen Moment aus diesem.
Man weist uns ein, wir spielen ein Spiel, lügen über das offene Geheimnis, verstellen uns.
„Seid nett, loyal und sozial zu Johann“, sagt unsere Lehrerin, bevor sie die Klasse verlässt, und sich auf den Weg macht, den Neuen abzuholen.
Dass etwas in unser aller Köpfen anders läuft als sonst, merke ich daran, dass es trotz der Abwesenheit der Lehrerin still im Raum, gefüllt mit sechsundzwanzig Jugendlichen, bleibt.
Ich spüre die straffe Spannung aller und die Angst, dass unsre kaum zu überspielende Befangenheit uns verraten könnte.
Ich persönlich versuche nichts zu denken, nicht an Johann, nicht an mich, ich will nur das größtmögliche Nichts denken, bis die Tür aufgeht.
Unsre Köpfe heben sich aus der Versenkung zwischen unseren Schultern, unsere Augen richten sich von der Tischplatte auf einen plötzlich vor der Tafel stehenden hageren Körper, den wir noch nie gesehen haben, jedoch alle wissen, was er bereits erlebt hat.
Und dann vergehen die Sekundenbruchteile, die eine Musterung dauert.
Dünne Beine von einer engen Jeans bekleidet, ein khakifarbenes, offen getragenes Hemd über einem weißen T-Shirt, und silberne Ringe an langgliedrigen Fingern. Das Gesicht schmal und hohlwangig, halb bedeckt von blondem, langem Haar.
Es sind Sekunden der Betrachtung, eine Heftigkeit in kürzeste Zeit gepackt, die mein Gehirn zum Totalabsturz bringen, Angst und eine unbestimmte Panik, die von meinem Wissen herrühren. Plötzlich zeigt der Lehrer neben mich, und dieser Junge kommt auf mich zu.
Ich begreife mit einem heißen Schreck, dass er neben mir sitzen wird.
Unheil naht, macht mich hektisch und lässt meine Gedanken sich überschlagen. Dann höre ich mich plötzlich sprechen, automatisch, in zu hoher unnatürlicher Stimme.
„Und du bist Michael?“
Es ist still in der Klasse.
Wäre ich vor Schreck nicht derart versteift, schlüge ich mir die Hand vor den Mund.
Es ist wie beim Tabu-Spiel. Und ich habe eines der Worte auf dem Kärtchen gesagt.
Aber es ist nicht etwa das Schuldgefühl, meiner Mannschaft den Punkt versaut zu haben, es ist die egoistische Scham über meine eigene Dummheit.
Jetzt denkt jeder ich bin dumm.
Ich hebe den Blick, und sehe in dieses hohlwangige, von mir verratene Gesicht.
„Ich ...ich ...“, meine Hand fährt in mein ratloses Gesicht, wobei ich mir mit meinen ruckartigen Bewegungen den Zeigefinder beinahe ins Auge ramme, „Ich ... bin nicht der... also...“, stammele ich, bis es herausplatzt: „Alle wissen es!“
Und eine weitere heiße Welle durchfährt mich. Nein, ihn hatte ich nicht verraten, ich hatte von Anfang an uns alle verraten.
Mit großen Augen sehe ich ihn an, wie er mit der Hand auf die Rückenlehne des Stuhls gestützt noch immer vor mir steht.
Mein Blick wandert herunter von seinem Gesicht, die schmalen Schultern herab, den Arm entlang zu seiner Hand mit den beringten Fingern.
„Johann, kommen Sie mit, ich bringe Sie raus“, unsere Lehrerin steht neben ihm, legt sanft ihre Hand an seinen Oberarm.
Ich verstehe nicht, warum sie mich nicht sofort mit einem bösen Blick bedenkt, mich nicht sofort rügt, aber dann verstehe ich.
Es geht nicht um mich. Es geht um Michael- um Johann.
Plötzlich höre ich ein Flüstern, „Schon okay.“
Die Hand auf der Stuhllehne in meinem Blickfeld löst sich und Johann nimmt neben mir Platz.
Jetzt wage ich es, meiner Lehrerin direkt in die Augen zu sehen.
Sie weiß selbst nicht, was sie machen soll, was richtig ist.
Unsicheren Schrittes geht sie zurück ans Pult, wo sie beginnt, Papiere unnötig zu ordnen.
In dieser Zeit beginne ich den Groll der sechsundzwanzig Schüler zu spüren.
Jetzt gibt es eine dritte Dimension des Schweigens, und schon mit der Zweiten waren wir überfordert.
Ich wage es kaum, neben mich zu sehen, taste mit meinen Augen wie mit Händen im Dunkeln. Vorsichtig, nicht wissend, was ich erwischte, packte ich zu.
Aber Johann schaut nach vorne, die Arme auf der Tischplatte verschränkt.
Mit drei zusammengehefteten Blättern macht die Lehrerin große Schritte auf meinen Tisch zu, und legt sie vor Johann hin.
„Das ist dein Stundenplan, ein Raumplan und eine allgemeine Schülerinformation.“
Er blickt lächelnd zu ihr auf, ein wohlwollendes Lächeln und streicht sich dabei mit den Fingern Haar aus dem Gesicht hinters Ohr.
Warum machen wir uns bloß so verrückt? Er wird es gewohnt sein, dass die Menschen auf ihn betroffen reagieren, er wird es so sehr gewohnt sein, dass er es satt ist.
Die Lehrerin beginnt in die stumm vor ihr sitzende Klasse hineinzureden, ob sie Zuhörer hat, weiß ich nicht.
Unsere Situation kommt dem Bewusstmachen eines verdrängten Inhalts gleich. Johann ist das Ich, vor dem wir als Über-Ich in ein Schweigen hinein das Schlimme verdrängt haben. Jetzt ist es bewusst geworden, wir konnten es nicht länger mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche drücken.
Und nun?
Ich blicke neben mich, als Johann aufsteht und die Lehrerin verstummt.
Langsam unter siebenundzwanzig Augenpaaren geht er nach vorne.
Als er neben unserer Lehrerin ankommt, sieht er uns alle an. Sein Blick streift durch die Reihen.
Was ihn auch dazu bringt, vielleicht die Erkenntnis, dass bewusst gewordenes Trauma verarbeitet werden will, auch wenn er es für sich wahrscheinlich schon mehr als einmal getan hat, aber er beginnt, uns von Michael zu erzählen.