Johannes und der Apfel
„So“, flüsterte Merten, „du weißt, was du tun musst.“
Er sah auf einen kleinen, blonden Burschen, der neben ihm im Gebüsch hockte. Johannes drehte nervös eine rote Kappe in seinen klammen Fingern.
„Muss ich wirklich…?“, entgegnete er zaghaft, „Was ist, wenn sie mich erwischen?“
„Wenn du erwischt wirst, dann…“
„…Dann werden sie dich in ihren Keller einsperren“, wurde Merten von Christoph unterbrochen.
„Wir alle haben das gemacht“, sagte Merten eindringlich, „Wenn du bei uns dabei sein willst, dann musst du jetzt gehen.“
Johannes seufzte leicht und setzte sich die Kappe auf den blonden Schopf. Zaghaft ließ er seinen Blick über die alte Mauer schweifen, die drohend in den blauen Himmel ragte. Merten streifte ein paar Äste zur Seite und wies auf ein kleines Loch, gerade groß genug für einen achtjährigen Burschen. Johannes lugte vorsichtig hindurch, aber Blätter versperrten ihm die Sicht. Er hatte keine Wahl, er musste sich durch das Gemäuer zwängen. Hinter sich hörte er das aufgeregte Flüstern seiner Kameraden.
Seine Schultern waren durch… sein Bauch… und schließlich verschwanden auch seine Füße auf der anderen Seite.
„Sehr gut“, hörte er Merten, „die Bäume stehen um die Ecke, hinter dem Haus, nicht vergessen!“
Johannes lächelte matt, wie sollte er das vergessen? Er wischte sich die Erde an der Hose ab und schob einen Zweig zur Seite. Vor seinen Augen erstreckte sich eine riesengroße Wiese. Überall waren bunte Blumen, gelbe, rote, violette, weiße… Johannes hatte noch nie so einen schönen Garten gesehen. Aber er durfte nicht durch die Wiese laufen.
Links von ihm war ein Holzhaus, in dem die Nonnen ihre Werkzeuge aufhoben. Dahinter konnte er schon die Baumkronen erkennen, da musste er hin.
Er kroch, verdeckt von den Büschen, links die Mauer entlang, bis er mit dem Haus auf einer Höhe war. Jetzt musste er das Stück zwischen Mauer und Haus ungesehen überqueren.
Johannes holte tief Luft, sprang auf, lief so schnell er konnte zur Hausecke und ließ sich dann sofort auf die Knie fallen. Er presste sich an die Wand und lauschte keuchend auf verräterische Geräusche. Aber außer dem leisen Summen von Hummeln und Bienen konnte er nichts hören.
„Die Hausmauer entlang, bis zur nächsten Ecke. Aber pass auf die Fenster auf!“, flüsterte er angespannt.
Schließlich streckte er seinen Kopf, bis zur Nasenspitze, um die Ecke. Was für ein großer Garten! Die Bäume waren weiter weg, als er gedacht hatte. Johannes sah sich noch einmal vorsichtig um und als er niemanden entdecken konnte, preschte er, so schnell er konnte, zum ersten Baumstamm.
Das war ein Apfelbaum, er konnte die Früchte hoch oben erkennen. Aber auf der Wiese lag kein einziger. Er lief zum nächsten… aber auch hier war kein Apfel herunter gefallen. Er sah hinauf, direkt über ihm baumelte einer. Johannes sprang, so hoch er konnte, aber er war zu klein. Er nahm die Kappe und versuchte ihn mit der Kappe zu fangen, aber der Apfel war einfach zu hoch oben. Es hatte keinen Sinn, er musste hinauf klettern.
Er griff sich den niedrigsten Ast und stemmte seine Füße gegen den Stamm. In dem Moment hörte er hinter sich eine Frauenstimme. Johannes rutschte vor lauter Schreck ab und fiel auf den Rücken.
„Mein Kleiner“, hörte er wieder die Stimme, „Hast du dir eh nicht weg getan?“
Ein besorgtes Gesicht lächelte auf ihn herab.
Johannes wirbelte herum und sprang auf.
„Bitte… bitte“, stammelte er, „nicht in den Keller. Ich wollte doch nur…“
Bei dem Gedanken an den finsteren Keller erstarb seine Stimme und Tränen stiegen ihm in die Augen.
„Aber, mein Kleiner“, lächelte die Frau, „das ist doch kein Grund zu weinen. Ich tu dir doch nichts.“
Johannes sah vorsichtig auf. Das Gesicht der Frau war von einem schwarzen Tuch umrahmt, das alle Haare versteckte. Sie war noch jung, bestimmt nicht älter, als seine Schwester.
„Hallo, junger Mann“, lächelte die Frau wieder, „Ich bin Schwester Marianne, und wie heißt du?“
„Johannes“, piepste es unter dem roten Käppchen hervor.
Die Frau trat einen Schritt zurück und setzte sich dann in das weiche Gras.
„Willst du mir nicht sagen, was du hier so ganz alleine machst, Johannes?“
„Ich will … naja, ich wollte … nur einen Apfel… wissen Sie … Weil meine Freunde, die haben gesagt, sie spielen nur mit mir, das heißt, ich darf nur in ihre Bande, wenn ich einen Apfel von hier hole!“, platzte es aus ihm heraus.
„Du sollst einen Apfel von hier holen?“, fragte die Nonne noch mal.
„Ja“, entgegnete Johannes leise, „Bitte nicht in den Keller…“
„Weißt du, dass die Äpfel den Nonnen gehören?“
„Ja“, hauchte der kleine Bursche mit gesenktem Kopf, „Aber ich will doch unbedingt in die Bande.“
„Ich verstehe“, lächelte Schwester Marianne, „Ich mach dir einen Vorschlag: Ich schenk dir einen Apfel.“
„Wirklich?“ Johannes strahlte über das ganze Gesicht.
„Ja“, versicherte Schwester Marianne freundlich, „Du musst nur hier warten. Ich hol dir einen.“
„Warum nicht gleich den?“, Johannes deutete aufgeregt in die Höhe.
„Ach, die sind noch nicht reif. Die schmecken noch ganz sauer“, mit diesen Worten verschwand sie in der Hütte.
„Schwester Marianne?“, flüsterte Johannes leise, als seine Hände einen großen, roten Apfel umklammerten, „Bitte sagen Sie nichts meinen Freunden, weil…“
„Natürlich nicht“, sagte die junge Frau ernst, „das ist unser Geheimnis.“
„Schwester Marianne?“
„Ja?“
„Darf ich durch die Wiese laufen, mit den vielen bunten Blumen?“
„Aber ja, mein kleiner Johannes“, lächelte Schwester Marianne und tippte ihm auf den Kappenschirm.
„Danke schön“, flüsterte der Bursche und zischte ab, quer durch die große Wiese.
Seine Kameraden sahen erstaunt auf die rote Beute, die Johannes stolz in den blauen Himmel hob.
„War es schwer?“, fragte Merten.
„Nein“, entgegnete Johannes, „ein Engel hat mir geholfen“, und biss in den saftigen Apfel.