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Jugendsünden
Nach sechs Jahren treffe ich Jade wieder. Sie entdeckt mich, glücklicherweise, denn ich hätte sie nie erkannt. Ich hätte wahrscheinlich beim Anblick der dicken Frau erschrocken gedacht, ihre tote Mutter sei wiederauferstanden. Als jemand in der Bowlingbahn neben mir mit schriller Stimme: „Oh mein Gott, Hayley, bist du das?“, ruft, drehe ich mich verwundert um. Ich erwarte hier niemanden, der mich kennen könnte. Vor mir steht eine unglaublich fette Frau im rosa Frotteeanzug, kleine Kinder stolpern um sie herum. Auf der Bank ruht sich erschöpft ein ebenso dicker Mann mit Vollbart aus, auf seinem Schoß hockt ein Kleinkind, den Daumen im Mund.
„Hi!“, sage ich vorsichtig, denn ich habe jetzt eine leise Ahnung, wer der rosa Fleischberg vor mir ist. Ich schiele auf den Monitor, wo alle Spieler ihren Namen eintragen. „Mom“ steht bei ihr.
„Ich bin’s, Jade!“, schreit sie und zerrt mich an sich.
Jade.
Ich schaue sie an, ihr breites Gesicht, ihre seltsame blonde Hochsteckfirsur mit einer Art Dutt, der wie Gehirnmasse aus ihrem Kopf zu quellen scheint. Früher hatte sie braune Haare. Früher war sie dürr wie eine Heuschrecke.
„Was machst du hier?“, ruft sie und gibt gleichzeitig Anweisungen nach rechts und nach links.
„Geh mit deinem Bruder auf’s Klo! Willst du noch ein Soda, mein Schatz?“
„Ich bin hier auf einem Ausflug mit …“ Ich suche nach den passenden Worten. „Mit den Heimbewohnern, bei denen ich jetzt arbeite.“ Ich deute auf Elias hinter mir, der mit seinen nach innen gedrehten Beinen zur Bowlingbahn humpelt. Mit kieksenden Stimme schreit er: „Und los!“ Die Bowlingkugel knallt laut auf die Bahn und rollt langsam zum Ende. Zwei Kegel fallen wie in Zeitlupe um. Elias und die anderen aus dem Heim johlen ekstatisch.
Jade starrt sie ungeniert an.
„Die Verrückten gehören zu dir?“ Es ist mehr eine Feststellung, als eine Frage. Schon immer hat sie unverblümt Bemerkungen dieser Art losgelassen. Jade hat nie eingesehen, warum das, was ihr in den Kopf kommt, nicht auch zu ihrem Mund heraus soll.
„Sie sind entwicklungsbehindert, nicht verrückt“, sage ich mit fester Stimme.
„Haha“, lacht Jade. „Immer noch lustig, die alte Hayley!“
Das kleine Kind auf dem Schoss des bärtigen Mannes fängt an zu heulen.
„Gib ihr’n Nuckel, Jeremy!“ befiehlt Jade. „Das ist Hayley, du weißt doch, meine alte Freundin. Hab‘ dir doch von unseren Streichen erzählt!“
Jeremy hebt seine Hand ein Stückchen hoch. Jade strahlt mich an. Hinten fehlen ihr zwei Backenzähne. „Ein netter Kerl“, sagt sie plötzlich leise. „Alles habe ich ihm natürlich nicht erzählt.“
Ich nicke.
Unsere Häuser standen genau nebeneinander. Ich sage hier Häuser, obwohl sie ja, technisch gesehen, Wohnwagen waren. Aber Mutter und Tanta Marjorie hatten versucht, diesen düsteren Katen eine persönliche Note zu geben. Tante Marjorie hatte einen kleinen Gartenzaun errichtet und dahinter verschiedenes Grünzeug angebaut. Vor unserem Wagen standen ein paar Stühle und ein Klapptisch, wo Marjorie und Mutter saßen und vorgaben, wichtige Unterhaltungen zu führen. In Wirklichkeit warteten sie auf Kunden. Tante Marjorie lauerte auf willige Opfer, die sich ihre trostlose Zukunft prophezeien lassen wollten und meine Mutter präsentierte sich für Freier. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie da warteten und schwatzten. Tanta Marjorie - riesig und gewaltig, in einen ihrer geblümelten Kaftane gehüllt. Mit ihren tiefliegenden kleinen Schweinsäuglein und ihrer winzigen, seltsam eingesunkenen Nase erweckte sie immer den Eindruck, als ertrinke sie in ihrem eigenen Fett. Mutter hockte daneben wie eine knorrige Wurzel, ihr mageres Dekolleté großzügig zur Schau gestellt.
Ganz früher hat sich meine Mutter für Gott prostituiert. Da stand sie noch unter dem Einfluss von meinem Vater, einem durchgeknallten Baptistenpfarrer. Für ihn ging sie jeden Sonntag früh los und klingelte bei den Leuten an der Tür. Mit einem frischen: „Haben Sie die Bibel gelesen, Sir?“, eröffnete sie das Gespräch, welches letztendlich darauf hinauslief, den Leuten ein paar der religiösen Pamphlete meines Vaters aufzuschwatzen. Als ich klein war, hat sie mich öfters mitgenommen, so ein herziges Mädchen macht sich ja immer gut, besonders bei alten Damen.
„Wir sind Gottes Botschafter und zeigen der Welt ein strahlendes Antlitz“, bleute sie mir ein. Die Welt strahlte aber nicht zurück. Als uns wieder einmal jemand mit einem „Verpisst euch, ihr blöden Fotzen“, die Tür vor der Nase zuschmiss, muss sie entschieden haben, dass dies nicht der richtige Weg war, einer Neunjährigen den notwendigen gesellschaftlichen Schliff beizubringen. Von da an durfte ich zu Hause bleiben und sie selbst stellte ihre Klinkenputzerei auch bald ein, da mein Vater mittlerweile mit einem jüngeren Schäfchen der Gemeinde auf und davon war.
Jade und ich wussten Bescheid über unsere Mütter. Von irgendetwas muss der Mensch ja leben. Die meisten aus dem Park lebten vom Beschaffen und Wiederverkaufen dubioser Gegenstände. Zu Marjorie kamen alle. Sie las aus Teeblättern, Karten und Kaffeesatz, manchmal auch aus der Hand. Sie versprach nicht zu viel und nicht zu wenig. Meine Mutter war nicht weniger effizient. Während ich mit Jade vor dem Wagen saß und wir uns gegenseitig die Fußnägel lackierten, konnten wir die Verkaufsgespräche verfolgen. Jade lauschte andächtig, mir war es peinlich. Ich war mit fünfzehn noch Jungfrau, Jade hatte dieses Stadium schon seit ein paar Jahren hinter sich gelassen.
An einem Nachmittag erschien ein brutal aussehender junger Mann. Auf die geschäftsmäßige Frage meiner Mutter antwortete er nur mit einer Art Grunzen. Dann fiel sein Blick auf mich.
„Was kostet’s mit der?“, fragte er und starrte mich gierig an. Meine Mutter schob sich energisch vor mich. „Meine Tochter ist tabu!“, sagte sie.
Der Typ blickte sie verächtlich an. „Warum soll ich dich alte Schachtel nehmen, wenn hier draußen was viel Besseres herumsitzt?“, fragte er.
„Dann gehst du mal jetzt lieber, Freundchen!“, antwortete meine Mutter drohend. Marjorie quetschte sich aus ihrer Tür und stemmte die Hände in die Fettschichten auf ihren Hüften.
Sie sah gefährlich aus, für die, die sie nicht kannten. Der Typ ging weg, aber nicht, ohne mir vorher zuzuzwinkern und sich in den Schritt zu greifen. Keiner sagte etwas, aber es war klar, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen war.
Von da an kam er dauernd. Er lungerte an unserem Wagen herum, ging sogar ein paarmal mit meiner Mutter hinein. Sie konnte es sich nicht leisten, auf Kunden zu verzichten. Jedesmal, wenn er wieder herauskam, grapschte er nach seinem Schwanz in der Hose und hielt ihn fest, wenn er an mir vorbeiging. Als sei er zu schwer, um allein in der Hose zu hängen. Dabei schaute er mich an und leckte sich die Oberlippe.
Der Typ hieß Slater und war Mitglied einer neuen Gang, die hoffte, sich in unserem Park als neuen Markt zu erobern. Dabei gab es bei uns gar nicht so viel zu holen, lauter langweilige Leute, die den Kristallen noch nicht so verfallen waren, wie viele andere. Einige soffen nur, oder kifften ein bisschen. Alle hatten Angst vor ihm, aber Jade hasste Slater mit einer überraschenden Inbrunst. Meine heimliche Erklärung dafür war, dass sie eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit war, die er mir entgegenbrachte. Dabei hätte ich gern darauf verzichtet.
An einem Samstag im August war der Park wie ausgestorben. Mutter und Marjorie waren einkaufen gegangen, ein Vergnügen, das sie sich einmal im Monat gönnten und von dem sie mit Ramsch und Firlefanz beladen zurückkamen.
In der Mittagshitze war es hier menschenleer, abgesehen von dem alten Bill Myers am anderen Ende der Straße. Wie immer saß er in seinen alten Bademantel gehüllt in seinem Rollstuhl und starrte in die flimmernde Ferne. Gestrandet, wie ein gespenstischer, verkrüppelter Wächter auf isoliertem Außenposten. Fast alle Männer hockten bei Ross in der Bude, um irgendeinen Boxwettkampf zu sehen. Ross hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Kabelanschluss "erworben", so dass sein Wagen seitdem als eine Art kulturelles Zentrum des Parks genutzt wurde.
Slater tauchte wie der Leibhaftige aus einer Staubwolke auf.
„Hi, Honey“, sagte er und griff mir in die Haare. „Hast du ein bisschen Zeit für mich?“
„Lass los“, sagte ich mürrisch. „Meine Mutter ist nicht da.“
„Ich will auch nicht zu deiner Alten.“ Er beugte sich zu mir herunter und blies mir seinen ranzigen Atem ins Gesicht. „Deine Mutter bringt es nicht mehr. Eigentlich sollte ich mein Geld zurück verlangen.“ Er tat, als überlegte er. Dann zog er mit einem Ruck mein Kinn hoch.
„Vielleicht kannst du das ja wieder gutmachen.“
„Hau ab!“, sagte ich wütend, aber es wurde mir langsam mulmig. Die Stille des Ortes, gepaart mit der schwülen Hitze und meiner knappen Kleidung wurde mir plötzlich bewusst.
Er zerrte mit einer Hand die Tür unseres Wohnwagens auf, schaute sich kurz um und wollte mich hineinschieben. Ich fing an, mich zu wehren. Ich trat ihn gegen sein Schienbein und konnte dennoch nicht verhindern, dass ich bereits halb im Wagen hing.
„Keine Zicken, du kleine Nutte“, schnaufte er über mir und presste mich auf den Fußboden. Ich wollte um Hilfe schreien, aber seine dreckige Hand schob sich auf meinen Mund. Sie roch nach verbranntem Tabak und etwas undefinierbar Ekligem. Seine Zunge glitt wie ein Stück kalte Leber in meinen Mund. Plötzlich gab es ein knirschendes Geräusch und Slater wurde ganz schlaff.
Über uns stand Jade, mit einem Baseballschläger in der Hand.
„Das Arschloch ging mir schon lange auf die Nerven“, sagte sie.
Vielleicht, ja wahrscheinlich lebte er noch, aber das konnten wir nicht in Kauf nehmen. Jade wusste Rat, wie immer. Auf ihre eigene Weise.
Es war lächerlich einfach. Außer Bill Myers, der eine Woche später eine Lungenembolie hatte, sah uns kein Mensch. Es war so erschreckend einfach, dass ich schon fast wieder an die Existenz Gottes, oder zumindest an die eines Schutzengels glaubte. Wir schleiften Slater ein kleines Stück in den Wald und öffneten die verrosteten Deckel der Klärgrube die schon seit Bestehen des Parks vor sich hin stank. Wir ließen ihn hinein gleiten, hier würde ihn keiner suchen. Sie wurde aller Jubeljahre einmal entleert.
Am Abend fragte jemand meine Mutter, ob sie Slater gesehen hätte.
„Was weiß ich denn, wo das Schwein ist.“, meinte sie schulterzuckend
Jade und ich lackierten uns die Nägel und ließen uns von Marjorie eine glorreiche Zukunft prophezeien. Danach fragte uns keiner mehr. Einmal hörten wir das Gerücht, er sei von einer rivalisierenden Bande kalt gemacht worden, aber beweisen konnte es keiner.
Ein Jahr später starb Marjorie und Jade zog weg, zu ihrem Freund.
„Wir wohnen in Willow’s Hill“, sagt sie mir jetzt stolz. Willow’s Hill ist der nächste Ort nach dem Park und wird von der allgemeinen Bevölkerung in einem Atemzug genannt. Aber die Bewohner von Willow’s Hill sind von einem kindischen Dünkel auf ihre bessere Adresse erfüllt.
„Toll“, bemerke ich. Ich bringe es nicht fertig, ihr zu sagen, wo ich jetzt wohne.
„Was machst du denn mit den Irren?“, fragt sie interessiert.
„Ich betreue sie“, antworte ich. „Das ist mein Job.“ Es hat keinen Zweck, mit Jade über das Wort „Irre“ zu streiten.
„Jeremy“, schreit sie nach hinten. „Hayley wird dafür bezahlt, mit den Verrückten zu kegeln, stell dir das mal vor!“
Jermey nickt bewundernd.
„Na, das müsste mir mal passieren“, sagt sie und lacht. Sie sieht wirklich aus wie ihre Mutter.
„Mensch, hatten wir einen Spaß, was?“, sagt sie plötzlich und knufft mich mit ihrer fleischigen Hand. “Was wir alles so angestellt haben!“
In meiner Erinnerung höre ich noch einmal das fast friedliche Plätschern, mit dem Slaters Gesicht untertaucht. Ich höre die Geräusche aus unserem Wohnwagen und Tante Marjories tiefe Stimme, die großartige Schicksale aus schmierigen Händen liest. [
„Klar, Jade.“ Ich lächele. „Wir hatten eine Menge Spaß.“