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Könige von Antsirabe
Als das Flugzeug Richtung Antananarivo abdrehte und zwischen den Wolken die riesige Landmasse erschien, sahen Erich und Joel eine schwelende Wüste, deren spärliche Vegetation gnadenlos im Sonnenlicht verbrannte. Grau-schwarze Rauchfahnen hingen am Himmel, als wäre in die rote Erde des zweitgrößten Inselstaats der Welt ein Granatteppich eingeschlagen. In einem Magazin hatte Erich gelesen, dass neunzig Prozent des Landes abgeholzt und brandgerodet worden waren – von der Holzmafia und den Bauern. Von oben sah es aus, als stürbe Madagaskar einen qualvollen Erstickungstod.
In Antananarivo war es drückend heiß, die Atemluft stickig und die Straßen eng und dreckig. Ihr Taxifahrer sah aus wie ein Durchschnittsmadagasse: Ein Schwarzer mit asiatischen Gesichtszügen, kurzem Haar und gutmütigem Lächeln. Bienvenue à Tana stand auf einem sonnengebleichten Schild. Aus dem Taxi sahen sie die braunen Wasser des Ikopa, dessen Ufer in Plastik, Haushaltsabfällen und pechschwarzem Schlamm ertranken. Durch das Fenster rochen sie Holzkohle, brennendes Gummi und Kloake. Die Sonne glitzerte auf den Wellen, als wollte sie verhindern, dass der mächtige Fluss seine Anmut verlor. Frauen wuschen Kleidung im Brackwasser und weißlicher Schaum trieb davon. Blasen oszillierten in der untergehenden Sonne und Kinder sprangen von einer Brücke.
Für die ersten beiden Nächte hatten sie das Grand Hôtel Mellis & Spa gebucht, ganz in der Nähe der Avenue de L’Independence. Wobei Grand Hotel zu lautmalerisch klang für die 3-Sterne-Unterkunft in dem alten Kolonialgebäude. Vor dem Eingang stiegen sie aus dem Taxi. Während der Fahrer ihr Gepäck aus dem verbeulten Kofferraum hievte, schlich sich ein Junge von hinten an. Blitzschnell polierte er Joel die Turnschuhe und streckte dann lächelnd und kniend seine Hand aus. Widerwillig und überrascht steckte ihm Joel eine Münze zu. Der Junge nickte und setzte sich wieder auf seinen Karton am Straßenrand.
Lachend zeigte der Taxifahrer mit dem Daumen nach oben, schüttelte ihnen die Hände und verabschiedete sich überschwänglich auf Französisch. Erich und Joel zwängten sich durch eine Menschentraube. Im Vorbeigehen lauschten sie fremden Worten in Malagasy, die ganz anders klingen, als die Sprachen des afrikanischen Festlandes. Auf sie wirkte es wie zusammenhangsloses Gemurmel. Sie betraten die gekühlte Empfangshalle und stellten mit Erleichterung fest, dass man dort, wenn auch nur gebrochen, Englisch sprach. Die Angestellten pflegten einen höflich-distanzierten Service und das Zimmer war schnell bezogen. Sie waren zufrieden mit ihrer Hotelwahl.
Schon im Fahrstuhl in den dritten Stock wurde ihnen bewusst, welches Geschäft hier vorherrschte. Körper gegen Geld. Der Mittvierziger im karierten Hemd grinste sie an, lässig gegen den Spiegel gelehnt, ein schwarzes Mädchen im Arm, das betreten oder schüchtern auf den Boden schaute. Ihr schwarzes Haar glänzte im Fahrstuhllicht, als wäre es pomadisiert.
Als die Nacht hereingebrochen war, lagen Tanas Straßen in Finsternis. Nur hie und da erhellten Flammen die Steinwände der Gebäude, weil die Menschen ihren Müll in der Gosse verbrannten. Keine Menschenseele war von dem Balkon auszumachen, wo Erich und Joel auf Plastikstühlen hockten und Three Horses Pilsner tranken und Mélias rauchten. Tana erschien von diesem Balkon betrachtet nicht anders als Madagaskar aus dem Flugzeug: Ausgestorben und schwelend lag die Stadt in der Nachglut des Feuers, das am Tag das Land zerstört hatte, und erduldete stumm die Brände in ihrem nachtschwarzen Herzen.
Am nächsten Tag erkundeten sie die von den violetten Jacarandabäumen gesäumte Avenue de L’Independence und die umliegenden Straßen. Besichtigten den Gare de Soarano, den französisch-italienischen Kolonialstil in der Innenstadt. Seit 1960 war das jetzt die Repoblikan’i Madagasikara.
Sie nahmen ein Taxi zum Tsimbazaza Zoo, bei dem sie sich aber nur kurz aufhielten, weil sie die widrigen Bedingungen, unter denen die Tiere gehalten wurden, nicht lange aushielten. Die Mitarbeiter des Zoos waren ähnlich ausgehungert und erklärten ihnen unaufgefordert irgendwelche Details zu den eingesperrten Geschöpfen, sogar die Geschichte eines dreibeinigen Esels, nur um etwas Geld zu kassieren. Also fuhren sie zum Stadtrand, wo sie freie Sicht auf den Hügel hatten, an dem im Stile Hollywoods die Aufschrift Antananarivo prangte. Das R war wohl heruntergefallen. Aber man hatte sich die Mühe gemacht, es zumindest einigermaßen grade wieder anzubringen. Eine goldene Staubglocke hing über der Stadt, in der sich das Sonnenlicht brach und einen verträumten Glanz auf die Dächer legte.
Beim Herumgehen beobachteten sie in einer schmalen Seitengasse einen Tauschhandel. Ein dürrer Mann mit einem Kind am Arm nahm ein kleines Geldbündel seines Kunden entgegen. Später sahen sie ihn allein an der rissigen Wand lehnen und Zigarette rauchen, während er auf die Rückkehr des Kindes wartete. Hoch oben auf dem Hügel, über dem Schriftzug, thronte der Palast der Königin, die Rova, und ihre funkelnden Fensterchen und gleißenden Türmlein überstrahlten die Geschehnisse mit argloser Prächtigkeit. Erich und Joel machten sich auf den Rückweg ins Stadtzentrum, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Auf den tausend Stufen von Tana wurden sie von einem Mann angesprochen. Sie waren auf dem Weg zum Tourismusbüro, das in der Oberstadt zu finden ist. Mit einem Lachen und ausgebreiteten Armen kam er über die Stufen auf sie zu, als hätte er ihnen schon von weitem angesehen, wohin sie unterwegs waren. Er stellte sich als Florence vor, Tourguide für ganz Madagaskar. Stolz hielt er ihnen seinen Ausweis entgegen, den er an einem blauen Band um den Hals trug. Florences Wanst wippte bei jedem Schritt und er schnaufte wie ein Nilpferd.
„Whea a’yu from?“, fragte er und als sie ihm erklärten, dass sie beide aus Deutschland kommen, lachte er noch mehr und schlug Erich auf die Schulter: „Ah, sehr schön, Deutschland! Gutes Land. Schönes Land!“
Einigermaßen überrascht ob seiner Deutschkenntnisse folgten sie ihm die Stufen hinauf. Florence erzählte ihnen, dank eines schweizerischen Entwicklungsprojekts habe er in Zürich studiert. Tourismus. Lange sei das her, aber eine Sprache verlerne man nicht so schnell, das sei wie Fahrradfahren. „Wie lange haben Sie Zeit?“, fragte er.
„Knapp zwei Wochen. Dreizehn Tage.“
„Gut, gut. Da können wir eine Tour machen. Das passt. Es wird nicht für den Norden reichen, Nosy Be und so, aber hier, nach Antsirabe, Tsingy und auf den Fluss Tsiribihina. Dafür reichen dreizehn Tage!“
Erich und Joel folgten Florence ins Innere des Tourismusbüros, um diverse Formalitäten zu erledigen. Für Diebstähle wurde nicht gehaftet. Auf einem Formular stand irgendwas von den Rechten und Pflichten der Guides. Seitenweise Blabla. Im Nu war alles unterzeichnet und die beiden fühlten sich zufrieden: Nun konnten sie endlich losziehen und Lemuren und Chamäleons und die berühmten Baobaballeen sehen! Noch dazu mit einem deutschsprachigen Guide. Da konnte im Grunde nichts mehr schiefgehen.
„Morgen um neun!“, sagte Florence und zeigte sein breitestes Lächeln. „Ich hole Euch mit meinem Fahrer ab. Schaut, dass Ihr das Geld dabei habt. Wisst Ihr, wo Ihr Geld holen könnt?“
„Wissen wir“, sagte Joel.
„1200 Dollar. 5,5 Millionen Ariary sind das. Für jeden von euch, wie abgemacht. Gleich da drüben gibt’s eine Bank. Ihr müsst das hier machen, außerhalb Tana wird’s schwer.“
„Okay. Dann bis morgen!“
Sie suchten eine Weile, bis sie Bankomaten fanden, die funktionierten und genug Geld ausspuckten. Für Erich reichte es nicht mehr und er musste sich in eine endlos lange Schlange zum Schalter anstellen. Schlussendlich gingen sie zum Hotel zurück, beide ein Geldbündel von der Dicke eines Ziegelsteins im Rucksack. Die höchste madagassische Note mit dem Wert zehntausend entsprach knapp zwei Euro. Sie zeigte einen Kipplader, einen Bagger und einen Kran vor dem Hintergrund eines Palmenwäldchens. Passt ja, dachte Erich und schüttelte irritiert den Kopf.
Florence Fahrer hieß Ritchie und war in seinen Dreißigern, ungefähr zehn Jahre jünger als er. Ritchie sprach nur Malagasy und ein paar Brocken Französisch, aber das spielte keine Rolle, er musste ja nur den Jeep fahren. In seinen abgeranzten Kleidern und mit dem Krokodilsgesicht und Stoppelbart wirkte er wie ein entflohener Häftling. Auf den befestigten Straßen holte er alles aus dem Jeep raus, rammte ein paar Mal beinahe ein Taxi Brousse, überladene MAN- und Mercedesbusse aus den Fünfzigern und Sechzigern. Meist jedoch überholten sie Ochsenkarren, die den Anfängen des vorherigen Jahrhunderts zu entstammen schienen und ließen sie in einer Staubwolke zurück. Abseits der geteerten Wege schaukelte der Jeep wie ein Schiff bei Seegang.
Im Regenwald gelang es Erich, ein Video von einer Lemurenmamma und ihrem Baby zu machen. Auch Joel knipste mit seiner Kamera Dutzende Fotos von Vögeln und der artenreichen Pflanzenwelt. Farbenprächtige Orchideen und Kaffeegewächse, Sukkulenten. Sie waren zufrieden. Florence hatte eingehalten, was er versprach. Nur die Wanderung am späten Abend auf der Suche nach den kleineren, nachtaktiven Lemuren stellte sich als pure Langeweile und schlussendlich als Niete heraus. „Vielleicht sind die Lemuren nach Europa geflüchtet“, witzelte Florence.
Er hatte ein sehr gutes Auge. Manchmal brüllte er Ritchie während der Fahrt an, sodass dieser sofort in die Eisen stieg, und noch bevor der Jeep ausgerollt war, sprang Florence aus dem Fahrzeug. So schnell es sein Nilpferdkörper erlaubte, watschelte er los und zeigte aufgeregt ins Unterholz. „Da, Chamäleon“, sagte er und zeigte auf irgendeine Stelle. Meist dauerte es einen Moment, bis Erich und Joel das Tier im dichten Geäst ausmachen konnten. Noch mehr Fotos.
Je weiter sie ins Land vordrangen, desto spärlicher wurden die Mahlzeiten. Bananen, Ananas, Fladenbrot, zu Trinken nur Wasser, das sie in drei Kästen im Kofferraum mit sich führten. Kehrten sie irgendwo ein, gab es oft nur Suppe. Die Unterkünfte wurden einfacher und heruntergekommener. Erich und Joel begannen sich öfter zu fragen, ob ihre Guides den Preis von 1200 Dollar pro Person wert waren. Außerdem hatte Florence die unangenehme Eigenschaft entwickelt, ständig in dem langsam schmaler werdenden Ziegelstein aus Ariarys rumzublättern, als würde er zählen, wie viel von seinem Schatz noch übrig blieb. Wachsender Unmut begann sich in Erich und Joel breitzumachen. Nur die Flussfahrt auf dem Tsiribihina sollte sie dann doch noch entschädigen.
Am Abend vor der Flussfahrt, in einem Kaff namens Belo sur Tsiribihina, platzte ihnen der Kragen. Sie hatten Florence und Ritchie schon ein paar Nächte lang verdächtigt, irgendwelche schmutzigen Dinge abzuziehen. In Belo sur Tsiribihina wurde es offensichtlich und die beiden Guides operierten nicht mehr im Versteckten. Wahrscheinlich gaben sie sich keine Mühe mehr, weil die Hälfte der Tour sowieso bereits um war.
Erich und Joel saßen im Innenhof eines schäbigen Hotels, rauchten Zigaretten und tranken Toaka Gasy, einen malagassischen Rum, dem nachgesagt wurde, er könne Tote erwecken. Aber in ihnen erweckte er lediglich eine brennende Wut, die sich wie eine Faust im Magen ballte.
Die Holztür zu Florences Zimmer war angelehnt, einem Zimmer, dass er mit ein paar Scheinen aus dem Ziegelstein bezahlt hatte, und sie konnten ein Mädchen sehen, das an einer Dose Smirnoff nippte und in einem Plastikstuhl fläzte. Sie war vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Oder doch älter? Florence selbst lag auf dem Bett und nur seine Füße waren zu sehen. Zu ihrem Erstaunen hatte er sich Zimmerservice bestellt, der leckere Duft nach gebratenem Fisch zog um ihre Nasen. Das Radio lief und blubberte endlose malagassische Wortfetzen.
Ritchie kam aus dem Zimmer gegenüber. Schweiß rann über sein Gesicht und die Haare standen ihm wirr vom Kopf. Seine Hemdknöpfe waren offen. Er setzte sich wortlos und grinsend zu ihnen, eine Flasche Bier in der Hand. Dann zündete er sich eine Zigarette an.
Hinter ihm ging die Tür seines Zimmers erneut auf. Ein Mädchen in einem grünen Kleid, dessen Träger zerrissen waren, blickte sich mit ganz großen Augen um. Dann flüchtete es durch den Innenhof, eine Hand vor der Brust und verschwand in die schwüle Nacht.
„Die ficken Kinder“, sagte Joel tonlos. „Die ficken Kinder von unserem Geld.“
„Hast du keine Frau?“, fragte Erich Ritchie in gebrochenem Französisch. Der Toaka Gasy befeuerte seine Abscheu und er beschloss, den Hass nicht länger zu unterdrücken.
„Oui, j’ai beaucoup de femmes“, antwortete Ritchie grinsend und hob seinen Krokodilschädel.
„Wieso tut ihr das?“
Erich zitterte vor Anspannung.
„Weil wir die Könige sind“, sagte Ritchie, schnippte seine Zigarette über den Hof und ging zurück ins Zimmer.
Ritchie parkte am sandigen Ufer des Tsiribihina. Am Fluss war mächtig was los. Fische wurden auf blutbeschmierten Tischen ausgenommen, Familien samt Ziegen und Hühnern in mit allen Farben bemalte Boote gesetzt, eine Armada an Verkäufern schritt auf und ab, während eine Reihe Jeeps über Balken auf eine wacklige Fähre fuhr. Auf nicht viel mehr, als ein paar Baumstämme mit Ladefläche und Motor.
Während Erich und Joel darauf warteten, dass ihre traditionelle, segellose Piroge mit Esswaren, Trinkflaschen und den Zelten beladen wurde, umringte sie ein Dutzend Kinder in dürftigen und dreckigen Kleidern. Die Kinder machten Faxen, sprangen in die Luft, alle viere von sich gestreckt und stiegen übereinander, sie lachten ganz viel, bis Erich bemerkte, dass sie sich im Rückspiegel des Jeeps selbst sehen konnten und sich deshalb so verausgabten.
Florence kam angeschnauft und stützte sich am Wagen ab. „Das Boot ist bereit. Gebt ihnen die leeren Plastikflaschen“, sagte er und zeigte auf die lustige Truppe. „Dann können sie etwas Geld verdienen.“ Joel öffnete den Kofferraum und nahm ein paar leere Flaschen heraus, die er in die ausgestreckten Hände des herumhüpfenden Kinderknäuels gab. Dankbar stoben sie in alle Himmelsrichtungen davon. „Kommt!“, sagte Florence. „Ich stell euch meine Assistants vor, die mit euch über den Tsiribihina fahren.“
Die dreitägige Fahrt auf dem Tsiribihina fühlte sich an wie ein fiebriger Traum. Ben und Joshua, Florences Assistenten, paddelten unermüdlich in der prallen Sonne, während Erich und Joel unter Schirmen hockten und lauwarmen Toaka Gasy aus Bechern schlürften. Wenn die anderen fragten, gaben sie ihnen etwas ab, ansonsten konnten sie sich nur mit Händen und Füßen verständigen. Die beiden redeten ja nur Malagasy. Der Fluss war rege befahren und die Männer schlugen zum Gruß mit den Paddeln gegen den Rumpf ihrer Boote.
Manchmal sahen sie Dörfer an den Ufern, einfachste Stroh- und Holzhütten, teilweise sogar auf Stelzen, nicht selten rannte eine Gruppe Kinder und Jugendlicher hinter der Piroge her und winkte und johlte ihnen zu. Andernorts wurde der Strom so breit, dass sie sich auf einem See glaubten und in der Abenddämmerung vollführten exotische Vögel einen Schattentanz vor der tiefrot wolkenbeflockten Bühne des Horizonts. Oder Bauern zogen mit ihren Rindern durchs seichte Ufer, um ihre Tiere zu tränken. Einmal beobachteten sie, wie zwanzig Mann eine über die Böschung gestürzte Kuh mittels Seilen aus dem Wasser ziehen wollten, um sie vor den lauernden Krokodilen zu retten.
Das Essen für Erich und Joel war von Florence bereitgestellt worden. Nudeln und Reis, frischer Ingwer, Büchsengemüse und sogar ein mehr oder weniger lebendiges Huhn, dass Florences Assistenten töteten und rupften, während ihre Gäste in einem natürlichen Becken am Flussrand badeten. Ben und Joshua kochten wahlweise an Land über dem Feuer oder direkt in der Piroge auf einem Gasbrenner. Sie allerdings mussten angeln, wenn sie selbst was zwischen die Zähne kriegen wollten. Sie wechselten sich beim Kochen und Fischen ab. Als Erich und Joel ihnen etwas von ihrem Essen abgeben wollten, schüttelten beide den Kopf und lachten. Ben zeigte auf sie, rieb mit den Händen über seinen Bauch und hob den Daumen.
Abends erschienen aus der Dunkelheit Frauen und noch mehr Kinder und brachten Hülsenfrüchte. Sie trugen nur Lumpen oder waren nackt. Erich und Joel saßen im Schneidersitz am Lagerfeuer und unterhielten sich mittels Zeichensprache mit den neugierigen Besuchern, während sie auf den bitteren Nüssen herumkauten und immer wieder ausspuckten. In der Nacht schliefen sie in den Zelten, die ihnen von Ben und Joshua gestellt wurden.
In der Mitte des nächsten Tages legten sie am Steg eines Dorfes an. Die ganze Gemeinschaft war zusammengekommen, um die Fremden lachend oder argwöhnisch dabei zu beobachten, wie sie mit ihren nackten Füssen von Schatten zu Schatten sprangen und über den glühend heißen Sand tänzelten. Im Innern einer rußgeschwärzten Bretterbude suchten sie Schutz vor der Sonne. Das halbe Dorf drängte herein. Man hatte hinter dem Verschlag eine Kuh in ein Loch getrieben und sie geschlachtet. Das rohe Fleisch lag auf Tischen oder war an Haken an die Wand gehängt. Hunderte Schmeißfliegen stoben auf, sobald sich jemand bewegte. Später spendierte das Dorfoberhaupt eine Runde selbstgebrannten Toaka Gasy aus Tonkrügen. Ben und Joshua lachten den ganzen Tag.
Am zweiten Abend kam eine Bande junger Männer vorbei, bewaffnet mit ramponierten AKs und abgenutzten Pistolen.
„Pas problème“, sagte Joshua mit blitzenden Augen. „Sécurité.“
Morgens brachen sie noch in der Dunkelheit auf. Die letzte Etappe bis nach Morondava und der Baobaballee war in drei Stunden geschafft. Ben und Joshua landeten die Piroge in seidigem Nebel am flachen, sandigen Ufer. In der Ferne sahen Erich und Joel schon Ritchies frischgewaschenen Jeep in der Sonne glänzen. Bevor sie sich verabschiedeten, wandte Erich sich ein letztes Mal an die neu gewonnen Freunde und sagte: „Florence“. Dann rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander und zeigte auf Ben und Joshua. Ben verstand.
„Sept mille“, sagte er und lachte.
Sie gaben ihnen je fünfzigtausend, nahmen ihr Gepäck, schüttelten sich innig und ausgiebig die Hände und schritten dem Jeep entgegen. Zwei-, dreimal drehten sie sich noch um und sahen Ben und Joshua winkend bei der Piroge stehen.
Nach einem Tagesbesuch im Tsingy de Bemaraha („Spitze Steine“, sagte Florence immer wieder lachend, wobei er den sch-Laut wie ein verlängertes S betonte) und der Beobachtung, wie die Sonne vor einem türkis zu orange fliehenden Himmel mit den Silhouetten der Baobabs verschmolz, fuhren sie auf das Hochplateau von Antsirabe hinauf. Die karge und ausgebrannte Steppenlandschaft wurde von imposanten, grünen Reisterrassen abgelöst, die im Licht der Scheinwerfer vorbeirauschten. Wegen der gewundenen Straßen musste Ritchie anhalten, damit Joel in den Graben kotzen konnte. Schließlich erreichten sie Antsirabe am frühen Abend und bezogen ein weiteres Hotelzimmer, diesmal wohnlicher, fast schon europäischer Standard. Sogar mit Balkon und Dusche.
An diesem Abend entluden sich ihr Antagonismus und der angestaute Frust gegenüber den Zuständen dieses Landes und gegenüber ihren Guides in einem an die Ohnmacht grenzenden Saufgelage. Sie sassen auf dem zur Straße gewandten Balkon und die zwei Flaschen Toaka Gasy hatten sich wie nichts weggetrunken, eine dritte stand zwischen Coladosen auf dem wackligen rosa Tischchen. Beide rauchten Kette. Mélias.
„Was meinsch du, haben wir uns zuviel zugemutet?“, fragte Erich.
„Mit was?“
„Na, mit dem Land hier.“
„Nächschtes Mal sollten wir vorher ws buchen, nich einfach mitm Rucksack ins Flugzeug ...“, Joel lachte heiser und Erich stimmte ein. „Um Geld zu sparen!“
Eine Weile lachten sie vor sich hin, bis ihnen die Tränen über die Gesichter liefen.
„Isn ganz schön harter Brocken irgentwie ...“, gluckste Erich.
„Ich fühl mich wie ein Kolonialherrr“, sagte Joel, machte eine unkoordinierte Bewegung an die Brüstung des Balkons, tat so, als würde er sein Reich überblicken. Er rülpste.
Erich prostete ihm zu. „Wir solltn was essen gehen“, schlug er vor. „Schau mal bei Trip...-Advisor.“
Joel stierte mit blutunterlaufenen Augen auf sein Telefon und wischte unbeholfen darauf herum, aber ein paar Minuten später war er tatsächlich fündig geworden.
„Gibt da einen Italiener“, sagte er und streckte Erich das Display unter die Nase. „Gute Bewertungn. Ungefähr schwei Kilometer von hier.“
„Perfekt. Lass uns Rikschas nehmen. Wie hießen die noch?“
„Pousse-Pousse“, sagte Joel und grinste. „Haßt ein‘ Plan. Vernünftig.“
Joel hielt sich an der Balkonbrüstung fest und wartete, bis eine Rikscha vorbeikam. Dann gestikulierte er wild mit den Armen und rief: „Pousse! Pousse!“ Der Mann navigierte sein Gefährt durch das Eisentor auf den Vorhof, direkt unter den Balkon. Es dauerte nicht lange und ein zweiter und dritter gesellte sich zu ihm. Sie blickten hoch und winkten ihnen zu, sie sollen runterkommen. Untereinander redeten sie zunehmend aggressiv klingende Worte in Malagasy. Erich hatte Blut geleckt und stellte sich ebenfalls ans Balkongeländer und winkte noch mehr Rikschas auf den Platz. Bald waren es ein Dutzend oder mehr.
Erich und Joel blickten auf die wartende Menge mit ihren bunten Wagen, die noch von Hand gezogen wurden. Sie zeigten immer wieder mit dem Daumen nach oben und sagten: „Wir kommen gleich. Attend. Attend.“ Sie machten so lange weiter, bis keine Rikscha mehr Platz hatte. Auf dem Vorhof war es so eng, dass es kein vor und zurück mehr gab. Rikschas und Zugmänner schienen hoffnungslos ineinanderverkeilt. Außerhalb des Pulks, vor dem Eisentor, warteten auch schon welche. Einige waren vielleicht nur gekommen, um zu sehen, was es mit diesem Trubel auf sich hatte. Aber die meisten dachten bestimmt, dass sich mit diesen stockbetrunkenen Weißen gut Geld verdienen ließ.
Erich plumpste zurück in seinen Stuhl. „Wir sind die Könige von Antsirabe, Mann“, grölte er und musste sich festhalten, um nicht zu Boden zu krachen.
„Waz meinzt du, wie viele kriegen wir tzusammen?“
„Da geht noch was!“
Auf wackligen Beinen stiegen sie die Treppe hinunter in den Hinterhof. Ein Durchgang verband ihn mit dem Platz vor dem Hotel. Sie konnten die ersten Rikschas sehen. Es würde kein Durchkommen geben. Was hatten sie getan? Nun, da sie vor der Aufgabe standen, eine Rikscha auszuwählen, fühlten sie eine rohe, beinahe greifbare Aggressivität, die von der Menge in den Durchgang schwappte und sich im schmalen Hof staute.
Joel ging voran. Kaum traten sie aus dem Durchgang, ging ein Geschrei los. Man zeigte auf Rikschas, machte lange Gesichter oder lachte und sagte: „Allons-y! Allons-y!“ Bevor sie sich versahen, waren sie mittendrin und der Pulk riss sie dorthin und dahin, zerrte an ihren Jackenärmeln („Antsirabe, die kälteste Stadt in Madagaskar“, hatte Florence erklärt) und an den Hosenbeinen. Man versuchte sie unsanft in Rikschas zu bugsieren, aber das ständige Gezerre und Geschubse verhinderte, dass sie sich irgendwo setzen konnten.
Einer der Rikscha-Männer zog Joel besonders heftig an der Jacke, sodass sie einen Riss bekam. Als wäre das ein Stichwort, flogen die ersten Fäuste. Nicht lange und alles prügelte aufeinander ein. Frustration und Verzweiflung bahnten sich Weg in einer erdbebenartigen Explosion, die auf sämtliche Anwesenden übersprang. Erich stolperte über die Zugstange einer Rikscha und Joel half ihm wieder auf die Füße, bevor sein Kumpel von der Menge unter die Räder kam. Dabei musste er aufpassen, sich nicht selbst hinzulegen. Sein Rücken wurde mit Schlägen traktiert und weiter heftig an der Jacke gezerrt.
Von den Hotelangestellten tauchte niemand auf, um zum Rechten zu sehen. Man ließ die Massenschlägerei einfach geschehen. Torkelnd und mit erhobenen und ausgestreckten Ellenbogen kämpften sich Erich und Joel Richtung Tor, wurden schließlich vom Pulk auf die Straße gespuckt. Über Erichs rechtem Auge klebte Blut. Sie warteten nicht, bis sich die Rikscha-Männer beruhigten, sondern machten, dass sie wegkamen.
Google Maps brachte sie an ihr Ziel, aber nicht ohne taumelnde und torkelnde Umwege durch die dunklen Straßen Antsirabes. Trotzdem fühlten sie sich, als hätten sie die zwei Kilometer innerhalb Minuten zurückgelegt. Sie betraten die Pizzeria, die in modernem italienischem Stil eingerichtet und sehr gut besucht war, ernteten ein paar schiefe Blicke für ihr ramponiertes Äußeres und fanden einen der letzten freien Tische in der hintersten Ecke des Gastraumes.
Zögernd lächelten sie sich an, frönten ihrem besoffenen Stumpfsinn, weil sich das Restadrenalin verflüchtigt hatte und der Alkohol die Oberhand gewann. Danach schlugen sich die selbsternannten Könige von Antsirabe die Bäuche voll, bis sie beinahe platzten, um den erlittenen Schock schnellstmöglich zu verdauen.