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Königin der Nacht
Mit einem flauen Gefühl im Magen wache ich auf und weiß, dass es zu spät ist, um noch etwas zu ändern.
Ich krabbele aus dem Bett und versuche im Badezimmer ein menschenwürdiges Wesen aus mir zu machen.
Mein Spiegelbild lacht mich aus. In hässlichen Fratzen schreit es immer wieder zu mir herunter. „Es gibt kein zurück mehr“, schallt es und schneidet Grimasse um Grimasse. Ich wende mich ab und verzichte auf Schminke und Lippenstift.
Meine Kleidung habe ich gestern schon bereit gelegt, in Windeseile schlüpfe ich hinein, den Blick immer auf meine Armbanduhr gerichtet. Für Frühstück ist es zu spät. Mein Magen rebelliert auch schon bei dem Gedanken an Nahrung. Um die Kopfschmerzen zu vertreiben, zwinge ich mir eine Tasse heißen Kaffee auf. Ein vertrocknetes Laugenbrötchen findet den Weg in meine Handtasche, dann stehe ich auch schon vor meinem alten Mazda. Er springt sofort an, ganz so als wollte er mir sagen, dass er mich auf jeden Fall sicher ans Ziel bringt. „Da kommst du nicht drum rum“, schreit es in mir, aber ich drehe einfach das Radio lauter.
Der Mazda ist nun schon auf der Autobahn. Es ist, als führe er von alleine. Auto um Auto zieht an uns vorbei, Kinder stehen auf Brücken und winken. Ich beginne mein Brötchen zu essen und frage mich, was wohl passiert, wenn der Mazda einen Unfall baut. Panisch beginne ich mein Handy zu suchen und bereue zum tausendsten Mal überhaupt nach Hause gefahren zu sein. Aber Abstand soll doch in schwierigen Situationen das Beste sein, habe ich gelesen.
230 Kilometer später erreichen wir die Ausfahrt und stehen innerhalb weniger Sekunden vor dem grauen Gebäude, das mich zu empfangen droht. Der Mazda reiht sich klaglos zwischen zwei anderen Fahrzeugen ein, scheint sich sogar richtig wohl zu fühlen bei seinen bestimmt 300 versammelten Autokollegen.
Das Gebäude verschlingt mich, kaum das ich den Eingang passiert habe. Meine Arme und Beine sind tonnenschwer, ich habe das Gefühl, mich nicht mehr länger halten zu können, nicht mehr weiter gehen zu können. Ihr Gewicht zieht mich immer weiter gen Boden. Von überall her kommen Menschen, die mich in verschiedene Richtungen zerren, ich gelange von einem Raum in den nächsten. Überall wird gezogen, gezupft und auf mich eingeredet. Manchmal bin ich allein, meist ist aber ein riesiger Pulk Menschen um mich versammelt. Ich frage mich, ob sie nur durch Zufall im selben Raum sind.
Meine Erinnerung an frühere Zeiten in diesem Gebäude ist verblasst. Alles ist anders als sonst, nichts wie es in Wien, meiner Heimat, war. Nichts wie es noch gestern war.
Ich singe, ich summe, huste mir die Seele aus dem Leib. Dazwischen spreche ich mit völlig Fremden und werde stundenlang hin und her geschoben. Irgendwann drückt mir jemand eine Brezel und ein belegtes Brötchen in die Hand und befiehlt mir zu essen. Bevor ich ablehnen kann ist der Essensbringer auch schon wieder weg.
Mir wird plötzlich schlecht und ich versuche mich aus dem Raum in Richtung Toilette zu schleichen. Noch ehe ich draußen bin, werde ich von hinten weggezogen. Ein junger Mann fasst mich überall an, Kabel werden angebracht, Mikrofone installiert und wieder und wieder Stimmproben gemacht. Ich stammele immer wieder etwas von Toiletten und Übelkeit, aber alle tun so, als könnten sie mich nicht verstehen. Man zwingt mich in einen kleinen Raum, auf einem Monitor kann ich von dort das Schauspiel beobachten.
Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, dringt die Stimme von Andreas zu mir herüber. Plötzlich fällt mir auch sein Name wieder ein. Im Hintergrund höre ich wie jemand „Go, go, Alex, go!“ schreit, aber ich bin schon draußen. Meine Beine tragen mich von alleine immer weiter, Sekunden später bin ich schon mitten auf der Bühne, sehe Tamino und die drei Frauen vor mir stehen.
Ich singe und singe, singe um mein Leben. Ich, die Königin der Nacht, singe, als sei ich zu nichts anderem geboren worden. Die Übelkeit ist verflogen, es scheint als könne nichts und niemand mir etwas anhaben. Ein Gefühl, wie ich es in keiner Probe und in keinem Vorsingen je erlebt habe. Grenzenlose Freiheit.
Das nächste was ich sehe sind jubelnde Zuschauer und meine strahlenden Kollegen um mich herum. Ein Gefühl der Glückseligkeit umfasst mich. Ich werde umarmt und geküsst, Andrea, die Pamina, mit der ich ein Zimmer im Nebenhaus der Oper teile, kann nicht mehr aufhören zu lachen.
Auch über meine Wangen kullern heiße Freudentränen. Die Premiere der „Zauberflöte“ in Berlin ist vorbei. Ich war ein Teil des Ganzen. Von nun an werde ich jeden Monat mit diesem Gefühl der Stärke die Königin der Nacht sein. Hier in Berlin. Für lange, lange Zeit.