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Körperkult
Kommissar Hölderlin war nicht gerade für seine Zimperlichkeit bekannt. Vielmehr wurden seine Methoden von einigen Presseleuten und Vorgesetzten als unangemessen drastisch empfunden.
Schon in seiner Anfangszeit als Streifenpolizist hatte er erste Schlagzeilen gemacht, als er im Rahmen eines Falles von organisiertem Fahrraddiebstahl, einige angekettete Köder mit Pappsatteln präpariert hatte.
Der Erfolg der Aktion hatte nicht auf sich warten lassen und ihm den Aufhänger auf der Titelseite der Morgen-Gazette eingebracht.
Düsseldorf: Polizist kassierte Fahrrad-Mafia bei Proktologen ein
Das lag nun aber schon drei Disziplinarverfahren, eine Scheidung und eine Entziehungskur zurück.
Seine Methoden waren die altbekannten, nur der Erfolg blieb aus, was seiner glühenden Grundstimmung den nötigen Spiritus gab.
Cholerische Ausbrüche waren an der Tagesordnung, was nicht nur seinem Chef ein Dorn im Auge war. Auch die Gazette hielt sich mit Kritik an seiner Arbeit und seinem Privatleben nicht bedeckt.
Mafiajäger verprügelt Frau - Scheidung nach 6 Jahren Ehehölle
Darunter war eine Fotografie von einer bandagierten Sybille Hölderlin, an der Seite ihres behandelnden Arztes, Dr. Flabeung.
Einzig sein treuer Partner Achim Distel hielt noch zu ihm, auch wenn er derjenige war, der die Launen Hölderlins am häufigsten zu spüren bekam.
So auch an jenem Tag, als der sogenannte Vital-Killer ein drittes Mal in Erscheinung trat.
Hölderlin hatte gerade seine zweite Pulle Eckes Edelkirsch geleert, als sein Pieper ging. Widerwillig zog er sein Handy aus der Jackentasche, während das Echo der berstenden Flasche noch im Raum hing.
„Was willst du, Distel?“, schrie er in den Hörer.
„Karl Heinz, das musst du dir ansehen.“
„Was willst du Arschloch von mir? Ich hab dir schon zig Mal gesagt, dass du mich nicht anfunken sollst, wenn ich saufen will!“
„Du säufst doch jeden Tag, Mann. Jetzt mach dich auf den Weg, hier gibt’s was zu tun.“
Nachdem er sich die Adresse notiert hatte und sich zwei Fenetyllin von der klebenden Kommode gefischt hatte, machte er sich schlurfend auf den Weg zu seinem Wagen.
Der Tatort war am anderen Ende der Stadt und die Fitmacher wirkten noch nicht. Für Hölderlin kein Grund zur Sorge.
Der erste Mord der Serie lag inzwischen ein Jahr zurück. Hölderlin, damals frisch aus der Therapie heimgekehrt, bekam den Fall aufgetragen.
Eine stadtbekannte Fitnesstrainerin war in ihrem Studio entdeckt worden. Sie fanden sie kopfüber im Kettler Schwerkrafttrainer. In ihre Augen waren Strohhalme getrieben worden, deren Öffnungen, durch geronnenes Blut verstopft, aus den leeren Höhlen ragten. In ihrem Mund steckte eine Leuchtstoffröhre, die durch ein Kabel, das sich durch ihren verkrusteten Bauchnabel zwängte, die benötigte Stromzufuhr erhielt. Dieser Umstand führte Hölderlin zu der bei seinen Kollegen nicht sonderlich geschätzten Idee, sie Laterne zu nennen.
Die Obduktion ergab später, dass sich der Täter die Mühe gemacht hatte, ihre Innereien durch Halbfett-Margarine zu ersetzen.
„Margarine?“
Der Gerichtsmediziner nickte wichtigtuerisch.
„Was für ein Irrer tut so was?“
Die Lichter der abendlichen Stadt zogen in Streifen an Hölderlin vorbei. Aus den Boxen seines Fiat Punto drang ein Medley der wichtigsten Hits von Blue System. Der asynchrone Rhythmus, den er auf sein Lenkrad hämmerte, deutete es an: Die Wirkung der Fenetyllin ließ sich nicht mehr leugnen. Die Anspannung seiner Gesichtsmuskeln ließ die Kiefergelenke gefährlich knacken. Seine Zähne saßen aufeinander wie geschraubt. Alles in seinem Körper zog sich zusammen, zu einem kompakten Brocken bebender Nervenbahnen.
Sein Kopf aber war glasklar, seine Wahrnehmung geschärft, sodass er für einen kurzen Augenblick sogar das Gefühl hatte, das Geheimnis des Universums entschlüsselt zu haben.
Er erkannte die Gründe für das Scheitern seiner Ehe: „Diese fette Mistsau!“
Er sah den Grund für seine beruflichen Misserfolge: „Idiotenpack, verdammtes!“
Er erblicke seine blutiggebissenen Lippen im Rückspiegel: „Scheiße!“
Ein Tritt in die Bremsen.
Die Erinnerung an das zweite Opfer des Vital-Killers gesellte sich zu den Offenbarungen der vergangenen Sekunden und lag in voller Pracht ausgebreitet vor seinem inneren Auge, als der Wagen zum Stehen kam.
Muskelpakete, zum Bersten gespannt. Rissig, ausgedörrt und doch irgendwie ölig. Kein Gesicht zu erkennen, nur hautüberspannte Fleischkissen. Durch Poren drückt sich Körpersaft, sammelt sich unter dem Toten in einer Pfütze. Ende.
Über einen Infusionszugang wurden Michael Stemme, einem Anwärter auf den Mister-Frankenheim-Titel, neben einem starken Beruhigungsmittel ein illegales Muskelaufbau-Präparat namens Steroidex zugeführt, das schon in sehr viel geringerer Konzentration zum Tode geführt hätte. Sein Herz explodierte im Schlaf.
Hölderlins Anspannung löste sich etwas. Was blieb, war die Klarheit.
Er parkte sein Auto vor der Einfahrt des Body-Paradise, wo schon Distels Fahrzeug und ein Krankenwagen standen. Verstärkung hatte sein Partner anscheinend noch nicht angefordert.
Er schlug die Fahrertür etwas zu heftig zu und verharrte eine Weile hockend vor seinem zitternden Fiat. „Ich muss ...“
Ruckartig richtete er sich auf, verlagerte sein Gewicht auf die Zehenspitzen, breitete die Arme weit aus und spannte jeden seiner Muskel soweit es ging an. Begleitet von einem infernalischen Brüllen presste er den Druck aus seinem Körper.
Er ließ seine Finger knacken und machte sich auf den Weg in das Haus aus Stahl und Glas.
Schon im Treppenhaus kam ihm der so vertraute Geruch entgegen. Es musste sich um frische Leichen handeln, da war er sich sicher. Hatte Distel das Opfer so kurz vor seinem Anruf entdeckt?
Eine Vorahnung ließ ihn seine Dienstwaffe zücken. Alles erwartend rannte er die Stufen hinauf in die fünfte Etage, wo sich die Schönheitsfarm befand.
Ein Tritt öffnete die angelehnte Tür und nahm dem auf dem Boden liegenden Sanitäter noch ein Stückchen seines zermalmten Schädels.
Hölderlin schob den leblosen Körper zur Seite und betrat den Vorraum der Praxis.
„Gottverdammte Scheiße!“
Hätte er es nicht anders gewusst, ein Schlachthaus wäre ihm bei dem Anblick eher in den Sinn gekommen, als das renommierte Institut für inneren und äußeren Glanz. (Wie sie auf dem mit Hirnmasse bespritzten Plakat verlauten ließen.)
Die Farbe des Bluts kam auf dem klinischen Weiß der Einrichtung besonders gut zum Tragen und gab unter der Begleitung von Richard Clayderman eine besonders kranke Version von Schöner Wohnen zum Besten.
Über dem Tresen hing kopfüber ein zweiter Pfleger. Seine freigelegte Wirbelsäule schälte sich aus der gerissenen Naht seiner Jacke und wippte wie ein übergroßes Metronom. So lange konnte der Kampf also noch nicht vorüber sein. Er schickte sich an, seinen Weg über das bluterverschmierte Parkett fortzusetzen, doch ein schmatzendes Geräusch ließ ihn herumfahren.
Hinter einem übergroßen Blumentopf samt der dazugehörigen Zierpalme ragten zwei zuckende Beine hervor, deren abgeschmacktes Schuhwerk er nur allzugut kannte.
„Distel?“ Seine Stimme verursachte einen merkwürdigen Hall. „Distel, du Arschgeige, was geht hier ab?“ Eine Antwort bekam er nicht.
Also schob er sich an der Wand entlang in Richtung seines Kollegen, jederzeit bereit seine Waffe einzusetzen.
Was er zu sehen bekam, hätte bei jedem empfindsameren Menschen eine F43.0, also eine akute Belastungsreaktion, ausgelöst. Der Kommissar blieb, soweit die Aufputschmittel es zuließen, ruhig.
Distels Gesicht bestand nur noch aus einer blutigen Masse. An der Stelle, wo vor ein paar Minuten noch die Nase gesessen hatte, blies eine zerfranste Öffnung im Rhythmus schwacher Atemzüge schleimige Flüssigkeit zu Bläschen auf. Sein zahnloser Mund stand weit offen, erinnerte durch die rötlichen Speichelfäden an den Eingang einer organischen Tropfsteinhöhle.
„Distel, hör mir zu! Das sieht gut aus, du schaffst das!“ Sein Kollege gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Bei Laune halten, hatten sie in den Übungen immer zu hören bekommen.
„Was ist? Was willst du mir sagen, Achim?“
Distels Körper begann sich in einem heftigen Krampfanfall zu winden, sein Atem stockte, legte dann aber an Tempo zu, blutiger Schaum quoll aus seinem Mund. Hölderlin hielt den weichen Kopf seines Kollegen, um Schlimmeres zu verhindern. Eine Zunge, die er hätte verschlucken können, war nicht mehr an ihrem Platz. Die Kraft des Sterbenden schüttelte Hölderlin wie ein Presslufthammer seinen Bediener.
Ein kurzer Gedanke durchbrach die Entschlossenheit der Pflichterfüllung: Auch in diesem Moment der Zweisamkeit fühlte er nichts für seinen langjährigen Partner.
Plötzlich fiel ein Schatten auf den zuckenden Körper. Der Kommissar besann sich der Gefahr, in der er schwebte, und riss seinen Revolver wieder aus dem Halfter. Dann hob er langsam den Kopf, um sich der Ursache anzunehmen.
Vor Distels ruhiger werdenden Füßen ragten zwei dürre, ledrig bespannte Beinpaare empor, die in einem schlaff an kantigen Hüftknochen hängenden Slip endeten.
Der Bauch unter den leeren Brusthüllen wirkte wie ein Mondkrater, mündend in Rippen, die nur noch durch Haut von der Außenwelt getrennt zu sein schienen.
Die überlangen Arme hingen wie die Äste einer Trauerweide aus den spitz abstehenden Schultern.
Ihre Hälse, kaum dicker als sein Handgelenk, trugen unproportioniert groß wirkende, eckige Schädel, aus denen stumpfes Haar spross wie Savannengras.
Zwei vernebelte Augenpaare starrten ihn über spitz abstehenden Jochbeinen an.
Die übergroßen, offenstehenden Münder gaben den Blick frei auf gelbe Zähne, die scheinbar lose in ihrem Kieferknochen steckten.
Noch nie zuvor hatte Hölderlin den Aufbau des menschlichen Knochengerüsts so unverfälscht betrachten können.
Auch während sie, von seinen Kugeln durchsiebt, abhoben und wie in Zeitlupe zu Ballade pour Adeline durch den Raum segelten, konnte er seinen faszinierten Blick nicht abwenden.
“Wie ich sehe, hast du dich nicht verändert.“
„Sybille?“
Hölderlin richtete sich erschrocken auf, während er noch eilig Distels Revolver an sich nahm.
Vor ihm stand etwas, das seiner Exfrau nicht mehr im Entferntesten ähnlich sah.
Waren die zwei am Boden liegenden Gestalten schon dürr ... Das, was sich ihm nun offenbarte, übertraf alles, was er sich vorzustellen vermocht hatte.
Ihre langen Beine hatten höchstens den Durchmesser von Schilf, ihr Leib den einer Bifi-Roll.
Die trockene Kopfhaut zierten nur noch vereinzelte Haarbüschel, die im Gegensatz zu dem Flaum, der den ganzen Körper überzog, stumpf und leblos wirkten.
Wie ein übergroßes Phyllum, die Augen zu groß, der zuckende Mund einem Schnabel gleichend, blickte sie ihm entgegen.
„Ich hoffe, du weißt, dass du da gerade zwei minderjährige Mädchen aus gutem Hause abgeknallt hast.“ Die Stimme schien von überall her zu kommen, nur nicht aus ihrem Mund.
„Glaubst du, ich lasse mir von so Drecksschlampen das Gesicht wegfressen?“
Hölderlins Blick fiel auf die blutigen Überreste eines Arztkittels, der im Türrahmen zum Raum der äußeren Schönheit lag.
„Da kann ich dich beruhigen: Essen gehörte nicht zu den Stärken der Beiden.“
„Sybille, was ist das hier für ein kranker Irrsinn, ist das da der Doktor?“ Keine spürbare Reaktion.
„Ich werde dich verhaften müssen, wenn ich dir nicht vorher den Bregen wegblase.“ Es dauerte eine Weile, bis Hölderlin in dem unkontrollierten Zucken um ihre Lippen ein Lachen erkannte.
„Mein Name ist nicht Sybille. Ich bin Anorexia, Königin der Anaboliker!“
Jetzt war es an Hölderlin, zu schmunzeln.
„Weißt du, was ich denke, Schätzchen? Ich denke, dass diese scheiß Diäten dir die paar Gehirnzellen genommen haben, die ich dir nicht schon rausgeprügelt hatte.“ Ihr Kichern endete abrupt.
„Betrachte dein Leben als gelebt, Arschloch.“
Erst jetzt bemerkte er die Meute, die sich während ihres Gesprächs um sie versammelt hatte.
Neben den Lederskeletten fielen ihm die knubbeligen Muskelstränge auf, die auf Höhe seiner Knie krebsähnlich nach seinem Beinen schnappten, nur noch durch die Ketten gehalten, die eine weitere höllische Spezies in ihren runzligen Händen hielt. Ihre Gesichter zu Wachsmasken erstarrt, die Lippen aufgespritzt, in ihre gestraffte Gesichtshaut gepflanzt wie Fremdkörper, blickten sie ihm aus verformten Lidern seelenlos entgegen.
Durch übergroße Brüste gespannte Sporttrikots bauten sich vor ihm auf, nur durch die faltigen Hälse an das erinnernd, was sie eigentlich waren.
Hölderlin schoss wahllos in die Menge.
Blut und Knochensplitter verbanden sich zu rotem Dunst, der das Atmen erschwerte. Die CD war mittlerweile gesprungen und sorgte für das stakkatoartige Wiederholen eines Mollakkordes.
Ein paar erwischte er mit dem Kolben, ein paar andere mit der Palme. Einige brach er einfach durch, doch es wurden immer mehr.
Er merkte, wie die Kraft aus seinen Armen schwand und nutzte die verbliebene, um seinen Kopf zu schützen.
Der Kreis wurde enger. Knirschende Finger griffen nach ihm, zogen ihn an den Haaren. Sie schlugen ihn mit kraftlosen Ärmchen, bohrten ihre spitzen Finger in seine Augen und Nasenlöcher.
Ein dumpfer Schmerz zog sich durch seine Schenkel, doch er konnte sich nicht bücken, um nachzuschauen.
Es war die Enge, die ihn am Absinken hinderte, keine Kraft mehr, keine Beine. Ein letzter Gedanke:
Ihr verdammten Schweine ...