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Küss mich heute, mein Engel
I.
Das Stück ist phänomenal schlecht. Eine billige Inszenierung eines zugebenermaßen interessanten Kinderbuches. Der namhafte Theaterkritiker Alfons W. Weiß zückt seinen goldgefassten Kugelschreiber und macht sich im Halbdunkel des Saals ein paar Notizen auf seinem Block. "Dramaturgie ohne innere Strukur, zufällige Figurenkonstellation, Szenen unzureichend komponiert", er blickt auf um weitere kritisierbare Unzulänglichkeiten zu entdecken (es muss schon so gegen Ende des dritten Aktes sein) als sein Auge auf einen Engel fällt. Fünf (nicht mehr, denn als Kritiker sitzt er in einer der vorderen Reihen) Meter von ihm tanzt, deklamiert, lügt, schreitet, kurz: schauspielert ein Wesen von solcher Anmut, dass Alfons die Kinnlade herunterklappt und der Stift aus der Hand fällt. Für den Rest der Aufführung sieht er nur sie, begeleitet mit seinen Blicken ihren Auf- und Abtritt, verflucht die Szenen ohne sie und versucht anhand des Programmheftes ihren Namen herauszufinden.
Stück vorbei, hinter die Bühne. Er auch, besonders er, hat ja jetzt eine Aufgabe, muss herausfinden, wer sie und wieso sie und wieso nie entdeckt. Ja, schnell die anderen abschütteln, scharren sich sofort um ihn wie Schweine um den Trog, seine Meinung hören wollen, bevor diese in der Zeitung -woistsiedenn?woistsiedenn?- oh, nein, da kommt der Regisseur, jetzt nicht, so tun als ob nicht gesehen, der wird beleidigt sein, was soll's. Da nicht, da nicht, wo sonst, vielleicht, oh Entschuldigung, ich wusste nicht, oh - da ist sie!
"Sie haben toll gespielt!"
"Oh, ja? Danke." Ein scheues Lächeln.
"Ich bin Alfons Weiß, ich schreibe für die WNZ."
"Wie schön."
"Ähh ... sie sind aber noch nicht so lange beim Ensemble, oder?"
"Nein, ich komm gerade erst von der Akademie. Das war mein erster Auftritt hier."
"Ach so, sehr interessant. Die Tochter des Diebeskönigs hab ich auch nie besser dargestellt gesehen."
"So?"
"Ja."
"Mmmh-mmh."
Peinliche Pause.
"Ich hab übrigens die Magd gespielt."
"Uhh, das tut mir jetzt leid, ich ... ähh ... war auch ein bisschen abgelenkt."
"Macht ja nichts."
"Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht Lust hätten jetzt etwas trinken zu gehen? Oder feiern sie jetzt mit den anderen?"
Sie blickt zu ihren Mitspielern.
"Nein, ich denk ein Kaffee wär ok."
Sie hat schulterlange, dunkelblonde Haare und hellblaue Augen. Wenn sie lacht kriegt sie Grübchen in den Wangen, die Alf sofort abküssen muss. Sie ist zwei Handflächen kleiner als er, vor ihm stehend können sich beide im Spiegel die Haare kämmen. Aber ihre Handfläche ist fast so groß wie seine. Das haben sie festgestellt als sie mit dem Zug über Weihnachten zu ihren Eltern fuhr und sie von beiden Seiten die Hände an das Fenster legten. Wenn sie sich lieben, klammert sie sich an ihn, wie ein Äffchen an die Mutter. Abends mag sie eine Tasse ostfriesischen Tee und morgens Toast mit Nutella, er bringt ihr beides ans Bett. Nachts wacht sie manchmal auf, wenn Alf schon schläft und Alf wacht auf, wenn sie wieder eingeschlafen ist. Dann streicheln sie sich über die Wangen, über Rücken und Schläfe, unwissend dass der andere das bei ihnen auch tat oder tun wird.
Ihr Name?
"Annabel", sagt sie und steicht sich abwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Hier wären wir also", sagt Alf und stellt ihre schweren Koffer hin, "dies ist das Sommerhaus der Familie Weiß." Annabel geht staunend durch das große Empfangszimmer. Sie spürt den dicken Teppich unter ihren Füssen und betrachtet die Gemälde an den Wänden.
"Ist das deine Familie?", fragt sie.
"Ja, der rechts oben ist mein Großvater Max. Und der daneben ist mein Urgroßvater. In seiner Freizeit war er ein Thespis-Jünger wie du, meine Liebe." Mit diesen Worten will er sie umarmen, aber sie möchte sich erstmal umgucken, ist im Bann des Gebäudes, windet sich heraus und geht weiter.
"Und kommen deine Verwandten auch mal hierher?"
"Nein. Die wenigen, die ich kenne mögen den Landsitz nicht. Meine Tante sagte immer 'Willkommen im Hause Usher' hierzu."
Für Anna, die aus einfachen Verhältnissen stammt und die sich jede Unterrichtsstunde in der Schauspielschule selber verdienen musste, ist das der pure Luxus.
"Wozu um alles in der Welt braucht ihr so viel Zimmer?"
Alf zuckt mit den Schultern, woraufhin sie sagt:
"Oh, ich liebe so verzauberte, alte Gebäude" sich im Kreis dreht und zur Decke lächelt. Alf lächelt auch, er ist froh, dass es ihr gefällt. Er hatte schon Angst das einschüchternde Gemäuer würde sie deprimieren.
"Was ist hinter dieser Tür?", fragt sein kleiner Schatz und streckt den Zeigefinger aus.
"Probier es aus, überall wo auf ist, kannst du auch hinein", antwortet er und kommt sich auf einmal vor wie ein Museumswärter. Sie geht rein und gleich wieder raus.
"Heißt das, es gibt Räume, in die ich nicht hinein darf?"
Er kommt die Treppe wieder herunter, küsst sie auf ihre roten Lippen und sagt: "Im ersten Stock, die letzte Tür zur Linken ist ein Raum, den du nicht betreten darfst. Frag mich bitte nicht wieso. Ich wär dir sehr dankbar. Kannst du das für mich machen?"
Sie schaut ihm in die Augen und meint: "Ja, klar. Mon cheri, kein Problem, wenn du es nicht willst."
Im Sommer davor. Sie liegen neben einander auf dem Bauch, ihre Hand auf seinem Po.
"Sag doch mal, mein Geliebter" -ironischer Seitenblick- "wieviele Beziehung hattest du schon?" Oh-ou, da bahnt sich ein unangenehmes Gespräch an, Gefühle und so, da hat der Alf eher keine Lust drauf. Er duckt sich innerlich weg und beginnt sie abzuküssen.
"Oh, neinneinnein, das wird jetzt nicht weggeküsst, rede mit mir."
Da führt jetzt wohl keinWeg dran vorbei. Entgeistert dreht sich Alf auf den Rücken.
"Nicht so viele, ich bin nicht so der Beziehungsmensch."
Sie beugt sich über ihn.
"Wie viele?"
"Na", er dreht den Kopf weg von ihr, "da gab es die Hanna, die Malina, und die Beate."
"Und sonst niemanden?"
"Niemand wichtiges."
"Und was heißt unwichtig?"
"Unwichtig heißt unwichtig."
"Du mochtest sie nicht."
"Zum Beispiel"
Und nach diesen Worten lässt sich Alf nicht mehr vom Liebkosen abhalten, aber Anna ist nur halb dabei. Sie denkt darüber nach, was er gesagt hat und ist ein bisschen enttäuscht, dass er sie nicht nach ihren Exfreunden gefragt hat.
Das alte Haus, in dem Alf mit seinen Eltern als Kind jeden Sommer verbracht hat, wird Anna zum Schlüssel für ihren Freund, der wenig über seine Vergangenheit und fast nichts über seine Gefühle preisgibt. Sie durchwühlt Schränke und Regale. Schaut auf die ersten Seiten der Bücher aus der großzügig ausgestatten Bibilothek (Dabei findet sie eine "Für meinen Lieblingsenkel"-Widmung in einem Horatio Alger Roman -das Buch sieht aus als sei es nie angefasst worden, Alf muss es gehasst haben- und muss lächeln als sie ein Fanny Hill Buch entdeckt in das jemand im Zwiespalt zwischen dem selbstverliebten Seinen-Eigenen-Namen-gerne-Lesen und schlichter Scham über den Ihalt des Werkes nur ein "Eigentum von Weiß" eingetragen hat). Sie sucht und sie findet - zum Bespiel alte Gedichte.
"Du hast mal gedichtet?", fragt sie Alf, der am anderen Ende des Zimmers eine Zeitung liest.
"Die sind nicht von mir."
"Erzähl mir nichts, das ist doch deine Handschrift. Aber die sind alle mit "Wolf" unterschrieben?"
"Ich heiße Wolfgang mit zweitem Vornamen."
"Wusst ich gar nicht. Wolf. Soll ich dir was zum Essen machen, Wolf?"
"Nenn mich bitte nicht so, ich mag den Spitznamen nicht."
"Schade, ich finde er klingt schön."
"Eines Tages wachte ich sehr früh am morgen auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ich beschloß aufzustehen. Vorsichtig ohne Annabel zu wecken, schlüpfte ich aus dem Bett. Ich machte mir Kaffe, ging raus, es war schönes Wetter und ich legte mich mit der Tasse in der Hand in die Sonnenliege. Ich dachte an nichts bestimmtes, als sie plötzlich auf der Treppe stand und zwar mit nichts anderem als meinem Hemd bekleidet. Ich liebte ja ihre Unbefangenheit oder dass sie sich machmal meine Sachen anzog, einfach weil sie näher am Bett lagen. Aber jetzt merkte ich die Röte in meinem Gesicht aufsteigen und stürzte auf sie zu. "Mensch, Liebes, du kannst doch nicht eifach so hier raus kommen, die Leute aus dem Dorf können dich doch sehen, die warten doch nur drauf" ich sagte das oder etwas ähnlich dummes, aber sie lächelte nur verschlafen und meinte: "Dann lass sie doch, haben sie wenigstens was zum Gucken."
Für so etwas liebte ich sie."
II.
Es hat aus heiterem Himmel angefangen zu regnen. Alf trifft das auf seinem Spaziergang unvorbereitet, er rennt die letzten Meter, doch als er am Anwesen ankommt, ist er nichtsdestotrotz vollkommen durchnässt. Beim Öffnen der Tür merkt er, dass etwas nicht stimmt. Er spürt es einfach.
"Schatz?" Keine Antowort. Ein eisiges Gefühl legt sich um sein Inneres.
"Liebes?" Wieder keine Antwort. Er geht die Treppe hoch.
"Annabel?" Erst Stille, dann schrill und mühsam beherrscht:
"Ich bin hier." Die Stimme kam aus dem ersten Stock, die letzte Tür zur Linken.
"Sie muss die Tür aufgebrochen haben ... " denkt sich Alf, doch als er die Klinge umgreift, merkt er, dass sie verschlossen ist.
"Schatz? Bist du da drin?" Schweigen, dann totengrau ein:
"Ja." von innen.
Er geht in die Bibliothek, holt den Schlüssel aus dem Versteck, geht zurück und schließt auf.
Drinnen sieht er seine Geliebte inmitten von dem, was dieser Raum verbarg. Sie zittert vor Wut. Durch das offene Fenster regnet es rein.
"Du bist an den Sträuchern hochgeklettert? Du hättest dir das Genick brechen können ..." Dabei will er sie umarmen, doch sie weicht zurück.
"Fass mich bloß nicht an!"
Das Zimmer ist bis an die Decke vollgestellt mit Fotos, Bildern, Briefen, aber auch mit kleinen Dingen, wie Kinokarten.
"Du hattest nur drei Frauen vor mir, was?"
"Annabel, versteh doch ... "
Sie fährt ihm ins Wort: "Was soll ich verstehen? Deinen kleinen Tempel hier? Du Freak! Bist du hier manchmal hergekommen, wenn du genug von mir hattest, wenn du ein bisschen Ablenkung wolltest? Hast du dann an ihrer Haarlocke geschnuppert und ihre Fotos abgeleckt?"
"Anna, du hast kein Recht ... "
"Ich hab kein Recht? Du betrügst mich mit deiner Vergangenheit, wie krank ist das denn?"
"Du weißt, dass das nicht wahr ist."
"Sie heißt Bidi, nicht wahr?" Blick auf die Briefe.
Alf atmet tief aus: "Ja."
"Und desshalb darf ich dich auch nicht Wolf nennen, weil SIE dich so genannt hat?"
"Ja."
"Und, sie war besser als ich, oder? Du vergleichst uns doch ständig, nicht wahr?"
"Annabel, du tust uns beiden nur weh ... "
"Alf Weiß, entscheide dich! Ich oder sie?"
Sie blickt ihn fest an. Ihre Miene verzieht sich nicht, als eine Träne ihre Wange entlang läuft.
Sie streift sich abwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht.