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Kaffeehäuser
K A F F E E H Ä U S E R
Kaffeehäuser mit Tradition sind bemerkenswerte Häuser. Ihre Namen sind so bekannt und berühmt wie die Namen anderer Berühmtheiten, von denen viele ja stete Gäste waren, denn dort fanden sie neben ihren Freunden die für kreatives Schaffen notwendigen Bewunderer. Und die eitelsten Berühmtheiten hielten in ihrem Lieblingscafé regelrecht Hof.
Bewundert zu werden erhöht die Leistungsfähigkeit, auch den Mut, bestehende Grenzen zu verschieben. Da ist Vieles verunglückt, aber auch vieles Neue entstanden. Und so gab es immerzu heftige Diskussionen, die oft zu lebenslangen Freundschaften, doch manchmal auch zu ebenso langen Feindschaften führen konnten.
Die Philosophen, Komponisten, Denker und Poeten waren immerzu in hirnrissige oder befruchtende Gesprächsrunden eingebunden. Der mit Grandezza servierte Kaffee oder Café sollte nicht nur vor dem Einschlafen bewahren oder ein wenig Genuss bereiten – nein, mit der Thermik dieses Heißgetränks gewannen die Gedanken und Formulierungen schnell an Flughöhe, die Erde wurde kleiner und überschaubarer und verständlicher. Noch kühnere Höhenflüge wurden durch raffinierte Beigaben feiner Spirituosen im oder zum Kaffee unterstützt, bevor die sich langsam herauskristallisierenden Genies zum Rotwein übergingen. Doch diese Epoche ist vorüber.
Trotzdem ist der Besuch eines Kaffeehauses eine Inszenierung, die weit über das Kaffeetrinken hinausgeht. Hierher flieht der Mensch vor den Schikanen des Alltags, sei es am Arbeitsplatz, in der Ehe oder sonst wo.
Natürlich sieht man ihm nicht an, dass er sich auf der Flucht befindet. In tadelloser Kleidung, gemessenen Schrittes und erhobenen Hauptes betritt er die Kultstätte der Kaffeekultur. Vom Niemand auf der Straße, vom Niemand im Leben verwandelt er sich in eine Person, die man ehrerbietig grüßt, die man hofiert, die auch Extrawünsche äußern darf.
Der Marmor, die goldgerahmten Spiegel, Lüster mit verschwenderischem Licht lassen ihn seine eigene dürftige Behausung vergessen.
Hier wird er nicht nur geduldet – hier hat ER das Sagen! Und das Bedienungspersonal ist SEIN Personal!
Ein jedes seiner Worte hat hier Gewicht, seine Scherze werden mit einem höflichen Lächeln quittiert, seine eventuelle Unzufriedenheit macht die Kellnerschaft fassungslos und unglücklich – doch ER kann verzeihen, großzügig wie ER nun einmal ist.
Ein berühmtes Kaffeehaus ist eigentlich unsterblich. Eigentlich.
Beklagenswerte Todesfälle hatten als Ursache oft gravierende Managementfehler oder die Bomben des Krieges. In einigen Fällen aber sind die Bomben nur ein paar Tage früher auf die Kaffeemaschine gefallen und haben so wenigstens den Stolz und die Ehre der Besitzerfamilie gewahrt, denn die Gerichtsvollzieher waren schon im Anmarsch.
Gott sei Dank sind uns viele Kaffeehäuser mit Tradition erhalten geblieben.
Einige sind rappelvoll mit Stammgästen, andere mit Touristen.
Andere leben noch - mit matten Spiegeln und angeschlagenem Geschirr und mit Kellnern, an denen der Hüftschmerz und die Lustlosigkeit der alten Tage nagen.
Wieder andere Kaffeehäuser hingegen sind springlebendig, sie sprühen und sprudeln. Es ist ein Kommen und ein Gehen und tausend Begrüßungs- und Verabschiedungsbussis werden getauscht - eine Betriebsamkeit wie an der Börse. Das Stimmengewirr klingt wie Meeresbrandung, an- und abschwellend, aber immer auf hohem Pegel. Junge Damen und flotte Jünglinge in langen Kellnerschürzen wieseln slalomähnlich durch die am frühen Morgen zwar akkurat ausgerichteten Tischreihen, deren militärisch exakte Grundordnung jedoch bald zusammenbricht, indem kleine und größere Gruppen von Gästen die runden Kaffeehaustische nach Bedarf und Laune ver- oder zusammenschieben.
Es wird erste Qualität serviert, der Kaffee ist konkurrenzlos gut, die dazu gereichten Schleckereien sind unübertrefflich, die Umgangsformen vollendet.
Dort links werden schon wieder Tische zusammengeschoben, neun Damen möchten zusammensitzen. Das geht im Handumdrehen, die Bedienung ist schon zur Stelle und nimmt lächelnd die Bestellungen auf.
Ich sitze mit Raffael in einem stilleren Winkel und wir haben einen ganz netten Überblick über das turbulente Treiben. Die Stimme einer der neun Damen ist noch ein wenig höher als die der anderen und ist unaufhörlich zu vernehmen. Ja, diese Dame schnattert. Wir jedoch setzen unser Gespräch fort und schauen uns doch wieder und wieder verblüfft an – weil diese Stimme zum Dauerton zu werden droht. Sie beginnt zu nerven, zumindest für männliche Ohren.
Raffael sagt, etwas unvermittelt vielleicht, dass es da eine Theorie gäbe, die zu heftiges und unaufhörliches Reden als Ersatz für ein unerfülltes Liebesleben definiere. Dazu wiederum fällt mir meine damalige Vermieterin ein, bei der ich vor unglaublich langer Zeit „der möblierte Herr“ war. Am frühen Morgen trällerte sie bereits so durchdringend, dass sich meine Kopfschmerzen vom Saufabend zuvor vervielfältigten. Und das behielt sie dann bei über den lieben langen Tag. Sie versuchte sich als Koloratursängerin, griff auch sonst alles Singbare auf und gab bis zum Abend keine Ruhe. Unbändiges Singen als Ersatz für die Liebe?
Warum nicht. Sie war zu jener Zeit eine Frau in den besten Jahren; ihr Mann war im Krieg geblieben. Irgendetwas Schönes braucht der Mensch – warum also nicht Gesang anstelle schöner Stunden zu zweit?
Jetzt reckt Raffael den Kopf und widerspricht mir nicht nur, sondern behauptet das glatte Gegenteil. Von wegen – Gesang als Ersatz für vermisste Liebe!
Und er kann auch ein jedes seiner Worte belegen mit der kleinen Begebenheit in Córdoba. Wie er nun, langsam Fahrt aufnehmend, den Hergang schildert, fingert er aus seiner Brieftasche ein Portrait. Eine schöne Frau sehe ich, volles Haar in natürlichen oder gedrehten Locken endend. Herrliche Lippen und ein Augenpaar, wie es spanischer nicht sein könnte: kühn geschwungene Brauen und ein hellwacher Blick, vielleicht ein wenig seelenlos, doch das kommt von der Nüchternheit eines jeden Fotostudios. Ich bin sicher, dass sie ihren Verehrer auch ganz anders anschauen kann.
Er hat ihr Bild immer bei sich! Amanda, die Spanierin. In der Abendschule hat er sie beim Englischunterricht kennengelernt; sie haben zusammen gebüffelt und danach etwas gefeiert und so fanden sie sich dann schließlich.
Raffael ist bei der Arbeit mit dem Computer ein beherrschter und nüchterner Mensch. Doch wie er jetzt mit seiner Episode in Spanien landet und eintaucht in diese schöne Zeit, hält ihn nichts mehr beim schwärmerischen Erzählen. Ich höre ihm gern zu. Es häufen sich spanische Zutaten in seinem Redefluss, der jetzt wirklich vom spanischen Temperament getragen wird. Denn Amanda pflegte bei der Liebe zu singen.
Sie beginnt mit sehr Melodischem, oft beinahe Melancholischem, noch nicht einmal singend, eher summend und streichelnd, vom ersten Kuss bis ungefähr zum zehnten. Mehr als jedes andere Kunstwerk - gleich, ob es als Menü aus der Hochküche kommt oder als Bühnenstück oder Konzert dargeboten wird – braucht besonders ein Stück der Liebeskunst eine einfühlsame schmeichelnde Ouvertüre.
Ein schöner Beginn ist die Grundlage aller sich darauf erhebenden Steigerungen – und es steigert sich! Amanda singt spanisch. Bei den Lispellauten perlen ihr Speicheltröpfchen über das Tigergebiss, die Vokale brauchten einen Hangar, um Platz zu finden. Und das rrrollende R bringt wonnespendende Gänsehaut über ihre Körper. Diese wundervollen Lieder, diese wundervollen Gefühle! Nirgends ist Platz für ungeschickte und überflüssige Worte. Das Singen und die Leidenschaft könnten sich nicht besser ergänzen. Amanda, lehre die Welt, wie die Liebe zelebriert werden sollte!
Und sie wird zelebriert. Amanda singt rhythmisch, im Rhythmus der Liebe, bei jedem Stoß ein hinausgeschriener Vokal, beim Ausatmen dessen Nachhall. Rrr – Vokal – Nachhall. In kraftvoller Leidenschaft steuert Amandas Lied den schönsten Prozess auf diesem Planeten zum forte. Schweißnass klatschen ihre Körper im Takt wie die Paddel eines gut eingespielten Zweierkajaks.
Amanda ist eine begabte Frau, als Frau und als Sängerin. Schöne, eigentlich nicht heftige, eher zarte Lieder kennt sie; von Asturien bis Andalusien. Die sollte man hören, wenn Amanda sie bei der Liebe singt! Maestoso. Einen unerwarteten Ernst, fast etwas Feierliches nimmt man staunend wahr. Eine sakrale Handlung in ihrer ganzen Natürlichkeit – ohne Sündenbewusstsein und anderes Moralgefasel.
Sie singt diese Lieder ein wenig schneller, mit mehr Hingabe, jeder Ton greift. Die Lautstärke nimmt zu und auch die Vibrationen nehmen zu, das Tempo wird wilder, die Laken landen auf dem Boden und die Akteure landen auf der Venus, die wie ein mildglühender Lampion mit ihrem Kupferschein alle Liebenden in ein schützendes warmes Licht hüllt und noch schöner erscheinen lässt. Scharfe Umrisse verwischen, die Welt zieht sich zurück und gibt Raum für Gefühle: für das Gefühl der Einmaligkeit und für das Gefühl, das einzig Wahre und Echte zu kennen. Ein Rausch überkommt die beiden, sie tauchen die Paddel tiefer ein und erhöhen zum fortissimo. Amandas Text verliert die ineinander überfließenden Vokale, wird zerhackt vom stoßartigen Atmen, besser gesagt Luftansaugen und Luftauspressen, spitze Aahs und spitze Oohs werden unterbrochen von fast animalisch tiefen, von Lebenskraft und Genuss geformten Lauten.
Und jetzt FURIOSO!! Diese dicken Mauern bekommen keine Risse!
Amanda schreit sich die Seele aus dem Leib, sie gurgelt und bebt, ihr ganzer Körper ist das Hohelied der Liebe. Sie saugt nicht nur Luft, sie saugt alles um sich herum an und in sich hinein. Eine sich windende Skulptur mit glänzendem Bronzeschimmer, die herrlichen Haare fliegen von einer Seite auf die andere, sie grunzt vor Lust und wimmert vor Glück.
Das Glück erfüllt den Raum, bis unter die hohe gewölbte Decke.
Eine sanfte Betäubung umfängt jetzt die Kinder des Glücks und ein paar versprengte Vokale trudeln wie ermattete Papiertauben zum Teppich nieder.
Das letzte Lied ist gesungen - für heute.
Wenn ich´s recht bedenke, erkenne ich eigentlich keinen Widerspruch. Gesang kann fehlende Liebe wohl nicht ersetzen, doch hoffentlich die Seele trösten und streicheln.
Aber Gesang und Liebe sind das Dynamit dieser Erde!
Raffael ist völlig einer Meinung mit mir und wir bestellen uns noch etwas Schönes: das Sorbet von sizilianischen Orangen und Zitronen, das mit akribisch feingehackter Succhade und einigen Tropfen Limoncello eine wahre Zitrusorgie auf der Zunge auslöst. Und einen Café mono-mono mit aus Haiti importiertem Hibiskusliqueur, einem Spritzer Anisette und einem verwegenen Schopf aus Milchschaum. So ein gut geführtes Kaffeehaus hat schon, wie soll ich sagen, etwas Elysisches?