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Kafkas Vater
- Sag mal, hast du dem Kind gesagt, dass Gott uns alle bestrafen wird?
- Was?,
fragte ich.
- Franz hat so etwas heute gesagt.
- Was hat er gesagt?
- Gott wird ihn bestrafen. Er wird früh sterben. So Sachen.
Ich zögerte nur einen Augenblick, eigentlich schon,
- Er kam also zu dir und sagte: ‚Gott wird mich bestrafen’,
redend.
- So ungefähr,
meinte sie und griff zu den Zigaretten.
- Du rauchst zuviel,
deklarierte ich und legte nun doch das Buch fort, setzte mich auf und tat überrascht, dachte tatsächlich über andere Dinge nach.
- Mag sein,
meinte sie geistesabwesend, zog an der Zigarette, hektisch,
- aber ich versteh das einfach nicht ...
- Was verstehst du nicht?
- Dass mit Gott, verdammt,
kam es.
- Hm,
machte ich also und tat nun überlegend. Es hatte zwar noch niemand bemerkt, doch ich war schon immer ein guter Schauspieler gewesen – und offenbart dies nicht das wahre Talent? Wenn niemand es bemerkt?
- Ja ...
- Und was hat er sonst noch gesagt?
- Nichts ... nur das.
- Und du?
- Was meinst du?
- Was hast du gemacht?
- Was soll ich wohl gemacht haben? Ich war entsetzt ... so etwas habe ich ja noch nie gehört.
- Stimmt.
Schweigen. Sie starrte vor sich hin, die Zigarette vergessend. Ich wusste, dass sie mich verdächtigte. Doch noch konnte sie sich das Motiv nicht denken – es schien alles so sinnlos. Aus welchem Grund sollte ich, der Vater, seinem fünfjährigen Sohn erzählen, der ehemals liebe Gotte würde ihn frühzeitig bestrafen – im glorreichen Jahre 2007, nach dreihundertfünfzig Jahren angestrengter Aufklärung? Angesichts der Tatsache, dass heutzutage alle Kinder in Freiheit, ohne Angst und vollkommen unbelastet aufwachsen konnten?
Und doch musste ich es gewesen sein, jemand anderes kam ja kaum in Frage.
- Meine Mutter meint ...
- Du hast es deiner Mutter erzählt? Wann?
- Vorhin, warum?
- Nun ja, ich bin zuerst einmal der Vater, oder? Und als dieser sollte ich schon zuerst informiert werden.
- Du hast gelesen,
erklärte sie, doch sie log.
Sie misstraute mir. Und hatte also ihre Mutter um Rat gefragt. Hatte vielleicht gemeinsam mit der Mutter zu eruieren versucht, welches Motiv ich haben könnte, warum ich also so etwas tun sollte. Es ergab doch gar keinen Sinn! Jedenfalls auf den ersten Blick ...
- Und?
- Nichts. Sie ist auch entsetzt, wir sind alle entsetzt.
- Ich auch, klar,
meinte ich und stand demonstrativ auf, griff ebenfalls zu den Zigaretten.
- Aha,
machte sie und weigerte sich immer noch, mich anzusehen. Sie ahnte etwas, hatte jedoch keine Ahnung, wie sie diese ungeheuerliche Vermutung aussprechen sollte. Ich kannte sie, wir waren lange genug verheiratet, konnte sie gut einschätzen und irrte mich selten. Und ich wusste auch, was nun zu tun war.
- Du glaubst,
begann ich also und stellte mich vor sie, nicht zu herrisch, aber leicht erdrückend, dominant,
- dass ich es war, oder?
Wie erwartet hob sie den Kopf, tat überrascht. – Die Spiele der Ehe, diese Aufführungen, dachte ich, blickte ihr in die Augen. Ich kann immer lügen, nennen wir es eine Gabe: Ich kann meiner Frau in die Augen sehen und das Blaue vom Himmel lügen. Meine drei Affären, meine Puffbesuche, den großen Plan, den ich in meinem Sohn vollziehe – ich blicke sie an, erkläre, nichts zu wissen. Meine Stimme klingt normal, ich verhalte mich vollkommen unverdächtig.
Weil ich es nicht war in solchen Augenblicken. Weil ich tatsächlich unschuldig bin. Und stimmt das nicht? Ist man nicht in jeder Sekunde ein anderer Mensch? Bin ich mit meiner Frau zusammen, tja, dann bin ich der Liebende. Ist meine Frau aber fort, bin ich eben der Fremdgeher, Puffgänger oder Kinderzerstörer – diese Spannung halte ich aus, diese Widersprüche, da ich weiß, dass der Mensch eben so ist.
- Du glaubst es, ich sehe es dir an,
stocherte ich nach, wusste, dass dies der momentan beste Weg war. Sie schwieg immer noch, suchte nach Worten, fand sie aber nicht, da sie, typisch, zu nervös, ängstlich und letztlich unschuldig war. Meine Frau war eher spießbürgerlich, also angefüllt mit Komplexen, verdrängten Lüsten und lauernden Verboten, hatte dagegen jahrelang angekämpft, doch den Kampf schon längst verloren, es nur nicht bemerkt.
- Nein,
sagte sie daher auch, schwach zwar, aber sie sagte es. Und schaute an mir vorbei, immer noch. Ich verschränkte die Arme, musste nun Druck machen, ein wenig nur, durfte nicht übertreiben: Ein falscher Blick, eine ungeduldige Geste – und alles war verloren, nicht allein meine Ehe, auf die schiss ich, sondern der große Plan, der mein Leben war.
- Hm,
machte ich deshalb,
- ich glaube dir nicht so richtig,
hinzufügend, dann seufzend. – Doch das alles war eher eine Art Zugabe, denn ich wusste ja, dass die Schlacht im Grunde schon längst geschlagen war, ich gewonnen hatte. Aber ich liebte das Spiel mit ihr, liebte es, zu manipulieren – nicht auf boshafte Weise, eher aus Langeweile, aus einem Spieltrieb heraus, den ich oftmals nicht unter Kontrolle habe, obgleich ich eigentlich kein böser Mensch bin.
- Ich kann mir nicht vorstellen, warum du so etwas machen solltest ...,
erklärte sie und ich dachte Dumme Kuh, du verstehst aber auch gar nichts, wortwörtlich. Dabei hätte sie, wäre sie intelligent, durchaus auf den wahren Sachverhalt kommen können: Es war naheliegend, es war kristallklar. Doch sie hatte keine Phantasie, keine Ahnung, kannte nicht die Leidenschaften, die einen Menschen umtreiben können. Sie wollte in Ruhe leben, wollte nichts bewegen, nichts erreichen. Früher hatte mich diese Genügsamkeit oft genug geärgert, heutzutage jedoch war ich daran gewohnt, empfand es sogar als Erleichterung, denn es machte alles viel leichter: Eine intelligente, aufmerksame Frau hätte mich doch schon lange durchschaut und damit gestoppt.
- Und trotzdem glaubst du, ich bin es gewesen ...
- Nein,
schüttelte sie den Kopf, nun vollkommen überzeugt, weshalb ich mich entspannte.
Doch es fehlte noch etwas. Das spürte ich. So ganz war die Krise noch nicht überwunden, es fehlte die emotionale Kompensation, die Bindung. – Ich umarmte sie nicht sofort, küsste sie nicht gleich, nein, ich ließ mir Zeit, ließ ihr das Gefühl, es nicht wegen eines schlechten Gewissens zu tun. Doch irgendwann küssten wir uns dann doch, gerieten planlos ins Bett, schliefen miteinander und alles war erledigt. Vorerst.
Himmel! Als täten das nicht alle Väter! Natürlich, die normalen Väter prügelten ihre Söhne in den Fußballverein, nötigten die Töchter zu lächerlichen Zöpfen, zum Kleidchen, zum Klavierspiel. Also, was ich mit Franz tat, war nicht sonderlich abnorm, war nur ein klein wenig extremer, war gewaltiger, daher notgedrungen gewalttätiger – die Gewalt gehörte zum System, zum großen Plan. Und hatte ich nicht auch geweint, damals, als mein Vater mich zum Fußball trieb?
Ich wartete, beobachtete. Sie agierte ganz herkömmlich, wusch, spülte, so Sachen halt. Indes ich so tat, als beschäftigte ich mich mit irgendwas, mit den Büchern zum Beispiel, einer Bewerbung vielleicht. Und dann gab sie mir einen Kuss und verließ die Wohnung. Ich war allein mit Franz, der sich wie erwartet sehr still verhielt – kein Wunder.
Ich ließ mir Zeit, überlegte die nächsten Züge, trank eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette, genüsslich, betont gemächlich, betrat dann sein Zimmer.
- Franz?
- Ja.
Er hockte am Tisch, zusammengekauert. Seine großen Augen betrachteten mich ängstlich, zugleich ergeben. Er vertraute mir, ein wenig. Er vertraute und litt. Ich holte tief Atem, stellte mich neben ihn und blickte aus dem Fenster, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Und so pausierte ich einen Moment, lauschte seinem Atmen, den unterdrückten Luftzügen. Was ich alles mit ihm machen könnte, überlegte ich, was alles möglich wäre, tja, gäbe es diese Frau nicht, gäbe es die ewigen Störungen nicht.
- Franz,
sagte ich langsam,
- Mama kam zu mir.
Erst jetzt drehte ich mich zu ihm hin, blickte ihm in diese Augen, die so waren, wie ich sie mir immer vorgestellt, erträumt hatte – es hatte sich gelohnt, wirklich und wahrhaftig gelohnt! Ich blickte in seine Augen und las dort von Krankheiten, von Neurosen und erahnte auch den frühen Tod.
Schlimm wäre ja ein gesundes oder gar dickes Kind gewesen. Ein so genanntes fröhliches Kind mit roten Bäckchen! Ein Baumbesteiger und Herumkletterer, der dann daheim ein großes Glas Milch möchte! Undenkbar das schallende Gelächter im Haus, die kindliche Freude eines herkömmlichen Kindes! – Stattdessen stachen die dunklen Augen aus dem blassen Gesicht hervor, stattdessen hockte unter dem schmalen Gesicht mit den zartfeinsten Zügen der Kehlkopf, die kränklich eingefallene Brust.
- Ja, Mama war eben bei mir,
wiederholte ich und schritt durch das Zimmer. Natürlich, es war ein Kinderzimmer, dagegen hatte ich nicht angehen können, doch meinem direkten Einfluss war es zu verdanken, dass dieses Kinderzimmer bedrückend, düster und steril wirkte. Als der Mann im Hause hatte ich damals die Möbel ausgesucht, hatte die Lampen verlegen lassen und so intuitiv eine gewisse Stimmung erzeugen können.
- Sie hat mir gesagt, was du ihr erzählt hast.
Er nickte wieder. Sicherlich ängstigte er sich, wahrscheinlich hasste er mich, tief in ihm glomm wohl schon die Verbitterung. Doch er war fünf Jahre alt und ich sein Vater – er musste mir vertrauen, musste mir glauben: Ich war sein Bezugspunkt, ich und niemand sonst. Bald schon, in wenigen Jahren, würde er verstehen, begreifen; doch bis dahin hatte ich noch genügend Zeit, ja, bis zum Hass war noch Zeit, danach würde ich mich opfern. Ja, das Ende meines Plans sah mich als Opfer vor.
Er nickte. Öffnete den Mund, doch ich kam ihm zuvor,
- Deine Mutter,
sagend, eine Kunstpause machend,
- gehört zu den Bösen, das habe ich dir erklärt, oder nicht?
Ich hörte sein Schlucken, sah ihm interessiert beim Öffnen des Mundes zu, welches quälend langsam geschah und für die Hemmungen, für die Angst sprach, was mich naturgemäß mit Stolz erfüllte.
- Aber,
machte er nun und ich hob die Hände, zeigte ihm die Handflächen, er stoppte.
- Habe ich es gesagt?
Er nickte.
Ich hatte ihm vor zwei Jahren zum ersten Mal vom Krieg erzählt, der draußen tobte. Die Welt um ihn herum, hatte ich ihm erklärt, sähe zwar sauber und friedlich aus, doch in Wirklichkeit herrschte ein brutaler, böser und blutiger Krieg.
- Blut?,
hatte er gefragt und ich hatte es ihm erklärt, hatte von den Anderen gesprochen, die ihn hassten:
- Hassen?
Ich hatte mit ihm geweint, damit er verstand, damit er begriff. Danach hatte mein Plan eine neue Stufe erreicht, war nun greifbar geworden, war aus der Theorie in die Praxis überführt worden – die Erziehung hatte eingesetzt, die tagtägliche Schulung, die Schädigung, die Verankerung der unabdingbaren Komplexe.
Es ist unglaublich, wie stark der Wille eines Kindes sein kann, wie heftig die natürlichen Anlagen wüten! Der Hang zur Gesundheit, dieses Streben nach Unschuld, Reinheit, Normalität! Hatte ich früher geglaubt, es wäre leicht, einem Kind Neurosen, Komplexe und psychische Defekte zu verursachen, so belehrte Franz mich vom Gegenteil: Die geistige Gesundheit war einem Kind das kostbarste Gut. Zudem war ein Kind weich, widerstand dem Schmerz, spürte vielleicht den Schmerz, war aber flexibel genug, keine Narben zu behalten: Die leichten Wunden verheilten stets spurlos. Man musste schon brachiale und brutalste Mittel anwenden, musste zu den gröbsten Werkzeugen greifen, um letztlich ein Kind wie Franz als Sohn haben zu können.
- Und warum sprichst du dann mit Mama über diese Sachen? Warum machst du das?
- Ich ...
- Weißt du,
unterbrach ich traurig, schüttelte den Kopf,
- wenn sie dich irgendwann abholen und töten, dann ist das nicht meine Schuld.
Er starrte mich an, in den Augen Tränen.
Ja, wir zwei, Franz und ich, waren durch schlimme und schlimmste Momente gegangen, hatten übelste Dinge tun müssen und hatten eben doch überlebt. Leid schweißt zusammen, gemeinsames Leiden erschafft Bindungen, so stark, so fest. – Er weinte jetzt und auch ich weinte, zeigte ihm meine Tränen, meinen Schmerz, für den er verantwortlich war. Da stand er auf, lief zu mir, fiel mir in die Arme. Ich stieß ihn zurück, heftig, funkelte ihn an,
- Jetzt kommst du!,
sagend.
Keiner kann die Mühen nachvollziehen. Keiner die Schmerzen, die ich aushalten musste, jahrelang, jeden Tag. Ich kenne niemanden, der dies hier auf sich genommen hätte: Ein Kind zerstören zu müssen, ein Leben zu ruinieren. Und als hätte ich all dies freiwillig getan! Dabei musste ja jemand beginnen, musste jemand den Anfang machen in dieser Welt, in der keiner mehr irgendwas macht, geschweige denn, den Anfang. Wir alle sind doch am Ende, das muss uns klar sein! Wir sind erledigt, verbraucht, tot.
Mein Sohn starrte mich an, seine Lippen zitterten, sein Gesicht bleich, die Adern auf der Stirn deutlich hervortretend, die Augen wie Löcher in eine unfassbare Tiefe. In der Küche klackte der Kühlschrank, was uns wieder zur Besinnung brachte,
- Komm her!,
lockte ich und tatsächlich zögerte er, nur kurz, aber immerhin. Dann erst fiel er mir in die Arme.
Eine halbe Stunde später hockte ich am Wohnzimmertisch, rauchend und scheinbar in eine Biographie von Kierkegaard blickend, tatsächlich aber über den Plan sinnierend, natürlich. Dieses Zögern ging mir nicht mehr aus dem Kopf, dieses Zögern ängstigte mich, bewies nämlich den allmählichen Kontrollverlust – oder übertrieb ich? Sah ich Gespenster? Ich wusste es nicht, hatte keine Ahnung, keinerlei Erfahrungen, war allein, konnte ja niemanden fragen, denn immerhin war ich Pionier. Also las ich die Biographie, verfolgte sehr genau die Jugend Kierkegaards, musste vermerken, durchaus entsprechend der Vorgaben gehandelt zu haben, machte mir dennoch Notizen über das, was der Vater dem jungen Sören angetan hatte, was dieser Vater diesem Sohn gesagt hatte.
Sie kam, doch ich schaute nicht auf, überlegte krampfhaft die nächsten Schritte, hatte,
- Hallo,
das unbestimmte,
- Hallo,
Gefühl, die Kontrolle zu verlieren oder verloren zu haben. Wie früher, wenn ein Romanprojekt, enthusiastisch gestartet, zusehends zerbröckelt war, weil ich den Faden verloren hatte. Weil ein Schreiben ja nicht mehr möglich war, jedenfalls für unsere Generation. Was hatte ich damals gelitten! Und nun begann ich abermals zu leiden, begann zu schwitzen, wurde fahrig, nervös, spürte den Kontrollverlust.
- Schön,
sagte da meine Frau und ich riss mich los von der Biographie,
- Was?,
sagend, kreischend eigentlich.
- Egal,
fauchte sie,
- es ist egal.
Dann lief sie hinaus.
Ich blieb sitzen.
Die Frau zu töten, natürlich hatte ich darüber schon nachgedacht. Doch es wäre zu kompliziert, gefährdete den Plan. Und die Frau einzuweihen, nun, dass war sicherlich unmöglich. Sie würde es niemals verstehen, hatte
1. nicht einmal Kafka verstanden, hatte Kafka einmal gar einen armen Idioten genannt. Und damit seinen Charakter gemeint, seinen Hang zum Unbedingten, der Sucht zur Perfektion, der Liebe zur Literatur. Zudem hatte sie
2. mein Schreiben niemals verstanden. Ja, sie hatte stets mit dem Kopf geschüttelt angesichts meiner Qualen, angesichts meiner wütenden Tränen. Und sie hatte nur zu gern meine gescheiterten Projekte in den Papiermüll vor dem Haus geworfen. Und sie hatte
3. kein Gespür für die Nöte unserer Gesellschaft, wollte nicht begreifen, dass wir, jeweils für uns, die schleichende Dekadenz, das Absterben unserer abendländischen Gesellschaft verhindern mussten.
Ich war allein. Allein mit Franz. Und schwitzte – es war der Schweiß des Versagens. Es war auch die Angst angesichts einer Welt, die zunehmend unterging. Mein Versagen war doch nur ein Symbol für das Scheitern unserer Generation insgesamt: Ich war blutleer, war jetzt schon gestorben, war tot geboren worden, in einer Welt ausgesetzt, welche von den Generationen zuvor kahlgefressen worden war – hier stand ich nun, wollte und sollte, konnte aber nicht.
Es nicht mehr ertragend, stand ich auf, lief in der kleinen Wohnung umher. Besah die Fotos, Familienglück, verlogen, ging um einen Kaffee in die Küche und entnahm dem Bücherregal eine Kafka-Biographie, welche neben dem zerfledderten Tagebuch der Anne Frank stand. Dies der einzige Trost. Diese Existenzen, sie gaben ein Leben vor, welches heutzutage unmöglich zu wiederholen war – unmöglich für uns, für unsere Generation, die wir durch Aufklärung, Toleranz, Pädagogik und diesen Mist hindurchgewachsen waren, nun fassungslos den alten Genialitäten gegenüberstanden, hilflos dem weißen Papier ausgesetzt, den Stift bereit, doch unfähig und also ablassend, aufhörend.
Und nun saß ich also, nach all den Schlachten am Schreibtisch, ausgefochten gegen jede Vernunft, jahrelang durchgehalten entgegen besseren Wissens, nun hockte ich also hier, kein Schriftsteller mehr, ein Vater jetzt, der sich in seinem Sohn verwirklichte, der das Beste für seinen Sohn wollte, für sich und seinen Sohn, für alle letztlich. Hockte da, las von Kafkas Vater, den ja alle hassten: Der böse Vater, der den kleinen Franz gequält hatte, der den kleinen Franz zum Beispiel auf den Balkon gesperrt hatte, in der Nacht – und dies nur, weil der kleine Franz um Wasser gebeten hatte. Pervers! Und doch! Was wäre Franz Kafka ohne seinen Vater! Gäbe es die Werke?
Natürlich nicht, dachte ich, sagte:
- Natürlich nicht,
mir bewusst, in diesem Sinn ein wenig überspannt zu sein. Doch was bedeutete das schon: Wahnsinn? Nichts. Es war ein Wort, deutete eine Relativität an, die sich sozusagen stündlich änderte. – Ich stand auf, ging ins Zimmer meines Kindes, schaute auf dieses Kind herab.
- Komm mit,
sage ich dann, immer noch unsicher: Kam das nicht zu früh? Wäre es nicht besser, noch ein wenig zu warten? Vielleicht starb seine Mutter frühzeitig, dann hätte ich freie Bahn. Doch womöglich wäre es dann schon zu spät. Man wusste es nicht – und überhaupt: Weshalb sollte meine Frau früher sterben? Es sprach nichts dafür und also alles dagegen. Immerhin aß sie Salate, ernährte sich also gesund, E-Nummern mied sie, stets beim Einkauf die Liste dabei, die sie aus der Brigitte hatte. Meine Frau, die stinknormale Kuh, würde sicherlich hundert Jahre alt werden!
Und sie würde mich bald verlassen, das spürte ich. Ein Jahr hatte ich vielleicht noch, höchstens. Ich öffnete den Balkon. Es war Februar und kalt, doch er würde ja nicht ewig dort draußen herumstehen müssen – mir ging es nicht um die Qual, mir ging es um den Komplex, um das Leid, welches später Kreativität, Eigenständigkeit und größte Kunst erwirken sollte, und dies auch würde.
- So,
meinte ich ruhig,
- jetzt bleibst du mal hier draußen stehen.
Ich schloss die Tür, mein Atem für kurze Zeit gut sichtbar selbst innerhalb der beheizten Wohnung. Ich blickte ihn an, der mich anblickte – niemals würde ich diesen Blick vergessen, seine Augen, der Glanz, die dunklen Tiefen: Wie dieses berühmte letzte Foto von Kafka.