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Kalt. So kalt. Angst!
In dichtem Wirbel trieben die Schneeflocken durch den Lichtkegel und ließen die Sicht gegen null sinken. Glätte und Matsch machten das Fahren auf der Autobahn zu einem Spiel auf eigene Gefahr.
Dana hatte sich über das Lenkrad gebeugt und starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die weiße Wand, konnte die Rückleuchten des vor ihr fahrenden Autos jedoch nur noch erahnen. Sie ließ die Tachonadel auf fünfzig Stundenkilometer fallen und rollte auf der rechten Spur weiter ihrem Ziel entgegen.
Ein Mercedes schoss mit Abblendlicht und lautem Hupen an ihr vorbei.
"Na, dann fahr doch, du Arschloch", keifte sie hinter ihm her und nahm den Fuß noch weiter vom Gas. Wenn sich diese Idioten selbst umbringen wollten, dann bitte.
Lichter wurden im Rückspiegel größer und tauchten das Wageninnere in ein kränkliches Halbdunkel, während sie ihr in die Augen stachen. Scharf schnitt der Wagen an ihr vorbei.
"Blödmann! Vergiss das Hupen nicht!"
Am liebsten wäre Dana rechts rangefahren und hätte gewartet, bis es aufhören würde zu schneien. Dass sie kaum etwas sehen konnte, machte sie genauso nervös, wie das ständige Hupen und Antreiben der anderen Fahrer. Stattdessen drehte sie das Radio auf und ließ die Box Tops um Freigang bitten.
Listen Mister, can't you see I got to get back to my baby ...
Ein weiteres Hupen, gefolgt von einer gleißenden Nova kalten Lichtes.
Jetzt reicht es mir aber, dachte sie. Nächste Abfahrt fahre ich runter und dann auf die Landstraße.
Dana atmete erleichtert auf, als sie endlich das blaue Hinweisschild erspähte, doch war es so zugeschneit, dass sie kaum etwas darauf erkennen konnte.
"…berg ... Shit. Wo bin ich denn hier?"
Egal. Hauptsache fort von Lichthupen und Dränglern.
Sie ließ den Blinker einrasten und rollte langsam die Ausfahrt hinunter.
Dana hatte Glück. Schon kurze Zeit später schwebte das gelbe Schild der Bundesstraße vor ihr. Als sie endlich abgebogen war, ließ das Zittern ihrer Hände nach und kurz darauf summte sie schon wieder leise die Melodien aus dem Radio mit. Ihre Laune besserte sich mit jedem Kilometer. Trotz des Schnees kam sie gut voran und wenn sie Glück hatte, könnte sie schon gegen zwei Uhr morgens bei ihrem Vater sein.
Sie lächelte bei dem Gedanken an ihn und sein warmes, freundliches Gesicht. Ja, sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen. Ihr Magen zog sich vor Aufregung zusammen, als sie den Wagen auf sechzig beschleunigte.
Die Bäume tauchten kurz im Licht auf und verschwanden wieder in den Schatten, die konstant an ihr vorbeizogen, während die Straße als langes matschiges Band vor ihr lag. Salz und Streusplitt wirbelten unter ihren Reifen und wurden knackend an den Unterboden geschleudert.
Dana hatte sich wieder über das Lenkrad gekrampft und starrte in die Dunkelheit. Ihre gute Laune war verflogen und sie hatte die Musik leiser gedreht, um sich ganz auf die Fahrt konzentrieren zu können. Die letzte Ortschaft lag schon Ewigkeiten hinter ihr, und vor ihr schien es nur Dunkelheit zu geben. Und die grauen Schatten kahler Bäume.
Die Monotonie des Bildes beunruhigte sie.
Wo bin ich jetzt überhaupt?
Ihr Blick wanderte hinunter zum Handschuhfach, in dem der Straßenatlas lag, und wieder zurück.
"Nein, das machst du nicht. Halt an, wenn du unbedingt nachschauen willst.
Ich will doch gar nicht!"
Wieder flog ihr Blick hinunter und zurück. Das Handschuhfach zog sie an und ließ nicht mehr los, hatte sich als kleiner Gedanke in ihrem Hinterkopf festgesetzt, der nun immer lauter und fordernder wurde, bis sie ihre Finger schmerzhaft um das Lenkrad krampfte.
Dana überraschte sich selbst, als sie sich plötzlich hinunterbeugte und am Knauf des Fachs fingerte. Mit einem Auge spähte sie immer mal wieder über das Armaturenbrett, um den Wagen auf Kurs zu halten.
JA!
Sie sah den Schatten im Scheinwerferkegel auftauchen. Viel zu schnell fuhr sie auf das erstarrte Tier zu. Dana sah die schwarzen Augen, in die sich das Licht hineinzufressen schien.
Halt drauf!
Zu spät. Ihre Hände hatten reagiert, bevor dieser Befehl ankam, und das Lenkrad herumgerissen. Ein Krachen, ein schwerer Schlag, dann Dunkelheit.
Dana hielt die Augen geschlossen und hob langsam den Kopf. Es tat weh, die Muskeln in ihrem Hals schrien auf und als sie die Finger an die Stirn legte, fühlte sie einen dünnen Blutfilm.
Mist.
Etwas fühlte sich komisch an, irgendwie nicht richtig. Ihre rechte Seite schien viel schwerer zu sein.
Dana öffnete die Augen und war im ersten Moment vollkommen verwirrt, wegen des unnatürlich schräg gewachsenen Baumes vor ihr. Erst nach einem kurzen Moment bemerkte sie, dass der Wagen sich überschlagen haben musste und nun auf der Seite lag.
"Na klasse … Das war ja so klar."
Dana legte die Hand auf das Gurtschloss und zuckte zusammen, als der Schmerz durch ihre Hand stieß.
Bitte, bitte, sei nicht gebrochen.
Sie stützte sich leicht mit dem Fuß ab und hakte mit dem Daumen den Gurt auf. Sofort sackte sie zur Seite weg, stieß sich den Oberschenkel am Schaltknauf und landete mit dem Oberkörper schmerzhaft auf der verletzten Hand. Das Pochen trieb ihr die Tränen in die Augen.
Das Lenkrad gab ihr dann den Halt, sich wieder aufzurichten und die Tür aufzustoßen.
Schnee wirbelte in den Innenraum und legte sich auf Danas Haare. Die frische Luft stach ihr ins Gesicht und stieß sie zurück. Sie musste die Augen schließen, als ihr schwindelig wurde.
Tief einatmen, dann geht es vorbei.
Es wurde schlimmer. Zu dem Schwindel gesellte sich eine tief sitzende Übelkeit.
Am Rahmen zog sie sich hoch, hielt den Kopf nach draußen und übergab sich.
In angewiderter Faszination blickte sie auf die dampfende Lache unter sich und rümpfte die Nase. Ein langer Faden zog sich langsam seinen Weg hinunter und Dana wischte ihn angeekelt vom Mund.
Aber es ging ihr besser. Nach einem weiteren kurzen Durchatmen, kletterte sie aus dem Auto, immer darauf bedacht, nicht in ihr Erbrochenes zu treten.
Na wunderbar. Und was jetzt?
"Ich weiß es doch auch nicht!"
Dana blickte die Straße hinunter. Zuerst in die Richtung aus der sie gekommen war, danach in die Richtung in die sie wollte.
Wie weit ist die nächste Ortschaft entfernt? Zehn, fünfzehn Kilometer?
Dana sah zu ihrem Corolla zurück, der schwer verwundet auf der Seite lag und sie an einen toten Dinosaurier erinnerte. Von allein würde da gar nichts mehr gehen.
Es ist nicht fair. Es ist einfach nicht fair, dass es gerade mir passiert. Nicht hier, nicht jetzt, nicht …
Dein Handy!
Der Gedanke kam so überraschend und intensiv, so voller Logik und Hoffnung, dass er ihr ein Schluchzen entrang.
Mein Handy ... natürlich.
Dana beugte sich in den Wagen und fischte ihre Handtasche heraus.
Die Enttäuschung war so brutal, dass sie sich auf die Unterlippe biss, um nicht laut aufzuschreien. Das Display war vollkommen zersplittert, die Flüssigkeit in die Ritzen geflossen.
Vielleicht ist es nur das Display. Versuch es wenigstens.
Mit zitternden Fingern wählte sie den Notruf, lauschte auf ein Freizeichen, das nicht kam.
Nichts. Das Handy war tot.
Dana ließ einfach los und sank in die Knie. Die Tränen flossen hemmungslos, begleitet von einem leisen, abgehackten Wimmern.
Erst nach und nach bekam sie sich wieder unter Kontrolle.
Finde doch wenigstens erst einmal heraus, wo du hier bist! Wenn du nur drei Kilometer vom nächsten Ort im Schnee herumheulst, nutzt das gar nichts!
"Ja … Ja gut!"
Der Blick in den Straßenatlas ernüchterte sie vollkommen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, wusste nicht einmal, welche Abfahrt sie genommen hatte, geschweige denn, auf welcher Landstraße sie jetzt genau steckte. Sie hielt ein Gebiet von über vierhundertfünfzig Quadratkilometern für realistisch - zumindest gab die Karte diesen Wert - doch sie war sich auch da nicht ganz sicher.
Das ist doch zum Verrücktwerden!
Warte einfach. Irgendwer wird vorbeikommen, dich sehen und dir aus dieser Scheiße helfen.
Guter Gedanke, verlockender Gedanke, ganz böser Plan. Wenn sie hier warten würde …
Ihr Blick wanderte durch die Frontscheibe. Alles weiß. Nicht einmal der Baum war mehr zu erkennen. Dana war sich nicht sicher, ob die Scheibe inzwischen unter Schnee begraben war, oder ob er so heftig und dicht fiel.
"Das gibt es doch nicht."
Da willst du durch? Wenn du nicht einmal weißt, wie weit? Du wirst erfrieren!
Ihre Hand stahl sich zum Zündschlüssel, ihr Fuß legte sich auf die Kupplung.
Was machst du da? Die Stimme klang eher interessiert als ängstlich.
"Nur mal schauen, ob … JA!"
Der Motor war angesprungen und Dana gab Gas, ließ den Drehzahlmesser in den roten Bereich gleiten und genoss das jaulende Geräusch der Maschine. Das magische Wort lautete Heizung!
Dana zog die Decke vom Rücksitz und kuschelte sich hinein. Vielleicht würde es doch gar nicht so schlimm werden. Aus dem Radio sang Frank Sinatra, ihr wurde langsam wieder warm und Aufregung und Müdigkeit forderten ihren Tribut. Sie schlief ein.
"Du hast eine Decke im Auto?" Er lachte, aber es klang nicht unfreundlich.
"Ja. Und etwas zu essen auch." Dana schlug die Augen nieder. "Und Kerzen."
Er lachte noch lauter. "Warum das?" Seine Augen lächelten sie an und ihr wurde schwummrig.
"Das klingt ja fast nach Wohnungseinrichtung."
Beinahe empört riss sie sich von seinem Blick los und sah aus dem Fenster.
"Ich habe Angst davor, irgendwann mit dem Auto liegen zu bleiben und dann darin übernachten zu müssen. Angst zu erfrieren."
"Ach komm. Ich glaube nicht, dass dir das passieren wird." Er zog sie zärtlich zu sich heran, legte einen Arm um sie und gab ihr einen Kuss.
Dana erwachte fröstelnd und erschrak über die Atemwölkchen vor ihrem Gesicht. Der Motor war aus, das Radio genauso …
Daniel. Wie lange hatte sie schon nicht mehr an ihn gedacht. Und dann passierte so etwas …
Ihre Finger fühlten sich steif und fremd an, als sie versuchte die Decke höher zu ziehen. Gar nicht gut. Dana wärmte sie ein wenig, indem sie die Handflächen aneinander rieb und in den Zwischenraum pustete.
Wie lange hatte sie geschlafen? Wie spät war es?
Der Blick auf die Uhr im Armaturenbrett zeigte, dass die Batterie vollständig leer war. 88:88.
Geh raus. Frische Luft. Halt nach jemandem Ausschau. Danas Nasenflügel zitterten.
Sie legte die Finger auf den Türgriff und prallte mit der Stirn gegen die Scheibe. Die Tür saß fest. Dana drückte und presste sich mit der Schulter dagegen, doch gab diese kein Stück weit nach. Eine Träne stahl sich in ihren Augenwinkel und sie blinzelte sie fort.
Oh, bitte nicht. Bittebitte…
Dana drehte sich, stützte sich am Beifahrersitz ab und trat zu.
"Geh auf. GEH AUF!"
Kein Millimeter. Sie schrie frustriert auf, trat noch einmal zu und zuckte zusammen, als sie das Knacken ihres Knöchels hörte. Sofort schossen heiße Tränen in ihre Augen und ein silbriger Schmerz drang in ihre Magengrube. Zitternd zog sie die Knie an die Brust und weinte leise vor sich hin.
"Beruhig dich, Dana. Es ist nicht halb so schlimm, wie es aussieht."
Danas Augen weiteten sich, als sie den Kopf wandte und in das Gesicht sah, das über ihr schwebte.
"Papa?"
Ihr Vater saß auf dem Rücksitz und hatte sich durch den Zwischenraum nach vorne gelehnt. Sein ruhiges Lächeln strahlte ihr entgegen.
"Mach dir keine Sorgen."
"Ich komme hier nicht raus. Mein Knöchel tut weh. Und ich habe Durst."
"Schau". Er wandte sein Gesicht zur Fahrertür. "Hast du schon an das Fenster gedacht?"
Das Fenster. Natürlich!
Dana lächelte glücklich. Das war fast zu einfach.
Sie griff die Kurbel und drehte. Als das Fenster hakte, war sie so überrascht, dass ihr Lächeln noch einen Augenblick in den Mundwinkeln hängen blieb. Ein zwei Zentimeter breiter Spalt, durch den der Schnee in ihr Gesicht rieselte.
"Das macht nichts, Dana. Wir warten einfach."
Seine große, schwielige Hand strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Hunderte Kindheitserinnerungen strömten auf sie ein. Er war so beruhigend.
Trotzdem zitterte sie. Die Decke bot einfach nicht genug Wärme und ihre Kehle war viel zu trocken. Das Schlucken tat weh.
"Wenn du Durst hast …"
Dana erschrak.
"Nein, das kann ich nicht machen. Das …"
"Schhh-schhhh."
Dana wandte wütend den Kopf zu ihm. Ihre Augen funkelten und eine scharfe Antwort lag ihr auf den Lippen, doch er war fort, hatte sie allein gelassen.
Sofort schlug die Wut in Panik um. Allein.
Die Flamme der Kerze sog ihren Blick auf, hypnotisierte sie, ließ alles um sie herum klein und unwichtig erscheinen.
Schlaf nicht ein! Du verbrennst!
Dana schrak hoch. So ironisch es auch wäre, vor dem Erfrieren zu verbrennen, es war absolut möglich. Und wenn sie im Schlaf einen Sitz in Brand steckte, würde sie hier auch nicht mehr rauskommen.
Sie zog ihren Blick gewaltsam fort, zwang sich selbst, woanders hinzuschauen, und fixierte doch den nächsten Punkt. Den Spalt. Und den Schnee.
Und wenn ich nun doch …?
Die Hand mit der Kerze wanderte langsam hoch. Fast sofort begann der Schnee zu schmelzen und floss innen an der Scheibe als feines Rinnsal hinab. Immer näher schob sich ihr Gesicht an das Glas, bis ihre Nasenspitze es fast berührte. Angeekelt ruckte sie zurück und begann dann doch vorsichtig die Tropfen abzulecken. Immer fordernder, immer gieriger, bis sie schließlich mit den Fingern den Schnee ganz aus dem Spalt wühlte und sich händeweise in den Mund stopfte. Es tat so gut.
Kam durch den Spalt auch Luft? Wie viel Schnee lag um sie herum? Musste sie hier drin ersticken?
Ihr Blick fiel wieder auf die Flamme. Zuckte sie schon? Ging sie aus?
Die Kerze frisst dir nur noch mehr Sauerstoff weg. Mach sie aus. Mach sie AUS!
Du musst hier raus!
Wie?
Das Fenster! Das ist deine einzige Möglichkeit!
Danas Finger schoben sich durch den Spalt, wühlten in dem Schnee, froren und wurden steif. Sie achtete nicht darauf. Sie klammerte sich an die Scheibe und zog, lehnte ihr ganzes Gewicht zurück und rutschte ab. Ohne den Halt stürzte sie nach hinten und schlug hart mit dem Hinterkopf auf.
Es war hoffnungslos. Keine Rettung, keine Flucht.
Selbst schuld. Du bist so naiv und dumm. Die spöttelnde Stimme war ihr neu. Sie kicherte so schrill, dass es einem Kreischen glich. Vielleicht tat sie das auch. Dana versuchte, nicht auf sie zu hören. Sie zog sich weit in sich zurück, schlang die Arme um die Knie und begann vor und zurück zu schaukeln.
Angst. Große Angst. Will nicht sterben.
Aber du wirst sterben. Du musst sterben.
Will nicht.
Dumm. Dumm und naiv. Zu nichts zu gebrauchen.
Kichern. Lachen.
Dana merkte nicht, wie sich der Druck ihrer Blase löste und die Muskeln nachgaben. Es war warm. Wärme war gut.
Sterben.
Kalt. So kalt.
Immer neues Lachen. So fröhlich. So höhnisch?
Sie lachen dich aus. Sie lachen über mich. Über uns.
Ein Schuh knallte auf die Windschutzscheibe. Dana schrie. Schrie ihre Angst hinaus, als der schwarze Fleck vor ihr erschien. Angst.
Der Fleck verschwand. Stattdessen tauchte ein kleines Gesicht vor ihr auf.
Ein Engel? Bin ich tot?
Ein Engel mit einer gestrickten Bommelmütze lächelte zu ihr herein.
"Alles in Ordnung bei Ihnen?"