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Kalte Weihnacht
Der Abend bricht an und es wird Zeit für die Bescherung.
Doch statt im Kreis meiner Liebsten zu sein, drücke ich mich unbehaglich vor der Tür meines Elternhauses herum. Zum wiederholten Mal hebe ich die Hand, versuche die Klingel zu drücken, zucke zurück und schiebe das Unvermeidliche vor mir her.
Schließlich, damit meine Hände irgendetwas zu tun bekommen, zünde ich mir eine Zigarette an und denke an meine Frau und die Kinder.
Ob sie das silberne Glöckchen schon geläutet hat? Ob Felix und Nina schon ihre Geschenke auspacken? Mit wildem Reißen und Rupfen und strahlenden Augen?
„Scheiße, was mach ich hier?“
Ich werde morgen noch mal herkommen, ganz einfach. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum ich heute nicht an der Seite meiner Familie sein sollte.
Ich schnippe die Zigarette in die Dunkelheit und krame nach den Autoschlüsseln.
Warum muss ich nur wie die Feuerwehr angerauscht kommen, wenn er um Hilfe schreit? Für mich war schließlich auch nie jemand da.
Verharschter Schnee knirscht unter meinen Schritten. Dann stehe ich vor meinem Auto.
Und wenn es wichtig ist?
„Arschloch!“
Ich wende mich um und sehe zum Haus zurück. Hier glänzt nichts weihnachtlich. Hier riecht es nicht nach Plätzchen oder Punsch. Kein Kinderlachen. Nur eine leere Fassade. Eine Wand, in der die Fenster dunkle Löcher in die Vergangenheit sind.
„Mist“, flüstere ich und, als das nicht reichen will, lauter: „MIST!“
Die Minuten verstreichen. Mit den Schlüsseln in der Hand stehe ich vor dem Auto und kann weder vor noch zurück. Wie ein Stück Treibholz, das zwischen Ebbe und Flut gefangen ist. Stumm betrachte ich das Haus, das mich an ein ausgesetztes Tier erinnert.
Wind kommt auf und Dezemberkälte schlägt mir in den Nacken, als ich hinter mir Schritte höre.
„Biste also doch noch gekommen.“
„Fröhliche Weihnachten“, haspele ich, als ich mich erschrocken zu ihm umdrehe. Aber mein Stiefvater zuckt nur gleichgültig die Schultern.
„Du siehst gut aus“, lüge ich und betrachte den siebzig Jahre alten Mann mit dem Blick eines Kindes. Er hat sich nicht verändert. Seine Gestalt ist ausgemergelt und hager wie der Tod; sein Gesicht gleicht einer Hungerfratze, aus dem die trüben Augen eines Alkoholikers quellen.
Als es zu schneien beginnt, denke ich: Der Schnee steht im gut.
Er schnauzt mich an:„Los jetzt, ich frier mir noch die Eier ab.“ Aber die Zeit, als ich sechzehn war, ist schon lange vorbei.
„Scheiße, alles wie immer, oder? Kannst Du mir mal verraten, warum ich heute hergekommen bin?“
Ich will ihn nicht ansehen. Das Hungergesicht ertrag ich nicht. Als mich jedoch seine Worte erreichen, muss ich ihn doch anschauen.
„Du sollst ein Grab ausheben, darum biste hier.“
Wir gehen ins Haus zurück. Aber erst als er die Tür aufschließt, bemerke ich das Gewehr in seiner Hand.
Achtlos stellt er es in den Hauseingang und lässt mich gleich mit danebenstehen.
Während ich warte, nässt es Kindheitserinnerungen aus den Wänden. Tropfen für Tropfen wird aus den Fugen gepresst und vergessene Gerüche steigen auf.
Meine Mutter - wie viel Zeit sie hatte wegzugehen; sich ein neues Leben aufzubauen.
Am Ende war die Krankheit schneller. Auf Krücken fängt man kein neues Leben an, nicht wahr? Stattdessen bekommt man neue Namen - FAULE HURE!
Das Echo verhallt, vermischt sich mit altersschwachen Schritten auf der Kellertreppe.
Die Wände sind wieder trocken, doch von meiner Stirn tropft der Schweiß.
Wortlos reicht mir Hungergesicht Spitzhacke und Schaufel.
Liegt es an Weihnachten oder an der Kälte?
Was es auch ist, gehorsam wie ein Lamm folge ich meinem Stiefvater auf Feldwegen immer tiefer in die Nacht hinein.
Ich trage die Last von Kindheit und Schaufel, er die Verantwortung und eine Laterne.
Eine Zeitlang folgen wir dem Rücken eines Endmoränenwalls. Dann führt der Weg an Feldern und Streuobstwiesen vorbei. Immer weiter geht es, immer dem fahlen Schein der Laterne nach.
Irgendwann bleibt er stehen.
Schneeflocken tanzen um uns herum, während er die Laterne höher hebt. Ein paar Mal blickt er sich suchend um, bis er entdeckt, was er sucht. Ein gelbes Stück Plastikplane, versteckt hinter dem winterlichen Gerippe eines Apfelbaumes.
„Hier ist es“, sagt er. Seine Schritte knirschen über gefrorenes Gras. Kurz darauf stehe ich neben ihm.
Es ist ein Duschvorhang. Lose flattern die Enden im Wind. Ein Körper beschwert die Mitte.
„Du hast den Hund erschossen?“
Hungergesicht sieht mich an und nickt.
Dann deutet er mit der freien Hand auf eine Stelle, an der ich graben soll.
Mir wird bewusst, dass ich nicht darüber nachgedacht habe, für wen ich ein Grab ausheben soll. Aber so ist das mit mir und Hungergesicht. Sobald ich in seiner Nähe bin, setzt mein Hirn aus. Dann bin ich wieder Kind. Ein hilfloser Junge, der es gewohnt ist zu tun, was einem gesagt wird.
Doch der tote Hund – warum musste er ihm in den Kopf schießen? - holt mich in die Wirklichkeit zurück. Minutenlang sehe ich mir seine Leiche an, die der Schnee langsam zudeckt. Nur bei den verstümmelten Stellen scheut er zurück. Das Blut ist noch zu warm.
Keine Ahnung, wie lange ich auf den Kadaver gestarrt habe, aber Hungergesicht lässt mir die Zeit, die ich brauche. Immerhin das muss ich ihm zugutehalten.
Schließlich wird mir die Notwendigkeit bewusst, dass der Leichnam unter die Erde muss.
Mit der Spitzhacke in der Hand mache ich mich ans Werk.
Erklärungen haben Zeit bis später.
Man macht sich keine Vorstellung davon, wie mühsam es ist, ein Loch in einen gefrorenen Boden zu hacken. Schon bald hängt meine Jacke an einem Zweig, wo sie wie ein knochenloser Sack hin und her schaukelt. Ärmel werden aufgerollt und Handschuhe ausgezogen. Letzteres hätte ich besser nicht getan.
Als ich eine Pause mache, um mein mickriges Loch und die Blasen an meiner Hand zu begutachten, wird mir bewusst, wie irreal die Situation ist.
Acht Jahre ist es her, dass Mutter gestorben ist. Damals auf ihrer Beerdigung habe ich meinen Stiefvater zum letzten Mal gesehen. Seit der Zeit herrscht zwischen uns Funkstille. Keine Anrufe, keine Briefe, nichts. Nur einmal, als Felix zur Welt kam, bestand meine Frau darauf, ihm ein Foto zu schicken. Eine Antwort haben wir nie erhalten.
Und dann das. Eine kurze Nachricht auf dem AB: „Komm heute Abend vorbei. Es wird nicht lange dauern.“
Wäre ich auch gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass ich ein Grab für seinen Hund ausheben soll? Ich bin kein gläubiger Mensch, aber dieses Loch zu graben fühlt sich an wie eine Sünde. Und doch, es wäre falsch es nicht zu tun.
Es ist für den Hund nicht für ihn, rede ich mir ein und grabe weiter.
„Das ist tief genug.“
Hungergesicht nimmt mir die Schaufel aus der Hand und dankbar wische ich mir den Schweiß von der Stirn.
Wir gehen zur Leiche, wo sich jeder ein Ende der Plastikplane nimmt. Gemeinsam heben wir sie hoch und tragen den Hund zu seinem Grab. Doch als wir ihn herunterlassen, stöhne ich auf. Das Loch ist zu klein.
Ich greife mir die Schaufel, als Hungergesicht sie mir plötzlich aus der Hand reißt.
„Du hast genug getan, den Rest mache ich.“
Ich trete ein paar Schritte zurück und beobachte, wie er sich am Grab zu schaffen macht. Mehrmals kratzt er mit der Schaufel am Rand des Loches herum, bis sich vereinzelte Erdbrocken lösen. Dann gibt er auf. Schwer atmend hält er sich an seiner Schaufel fest, während er auf seinen Hund hinabstarrt.
„Warum hast Du ihn überhaupt erschossen?“, frage ich ihn. Ich stehe abseits am Baum und ziehe meine Jacke an. Obwohl ich schwitze, fühle ich mich innerlich erfroren.
„Er war alt, er war krank. Es war genug“, meint er keuchend. Dann sieht er mich an.
„Das Gleiche hätte ich auch für Deine Mutter getan, wenn ich die Kraft dazu gehabt hätte.“
Unvermittelt hebt er die Schaufel über seinen Kopf und prügelt auf den Hund ein.
„SCHEISSE! HÖR AUF!“
Aber er hört nicht auf. Immer wieder klatscht das Schaufelblatt auf den toten Körper, bis er in das Loch passt.
Seine Lunge rasselt. Ich höre es, obwohl uns mehrere Meter trennen. Keuchend sinkt er auf die Knie und setzt sich schließlich auf den kalten Boden. Ohne mich anzusehen, hält er mir die Schaufel hin.
„Hier. Deck ihn zu. Sei so nett.“
Ich bleibe stehen, möchte ihn mit meinem Zögern bestrafen. Ich möchte, dass er erkennt, wie erbärmlich er ist.
„Bitte“, flüstert er.
Er sieht mich an und der Hass, den ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr verspürt habe, erlischt.
Ich nehme die Schaufel und grabe das Loch wieder zu. Hungergesicht beobachtet und schweigt. Als es vollbracht ist, gehe ich. Kein Abschiedswort, kein Blick zurück. Wir werden uns nicht wieder sehen.
Nach ein paar Schritten höre ich ein letztes Mal seine Stimme.
Leise flüstert sie: „Fröhliche Weihnachten.“
Doch er meint den Hund, nicht mich, und so ist es gut.