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Karls Weg
Karl sah in das Tosen des Meeres hinunter. Benommen fragte er sich, wie er hergekommen war, was er hier oben gewollt hatte? Vergessen, neu anfangen. Aber das war nicht mehr wichtig, er hatte sich anders entschieden. Und während er zuließ, dass ihm die aufgehende Sonne in die Augen schien, ging er langsam den Berg hinunter, wobei er seinen Hut zwischen den Fingern drehte und eine unbestimmte, traurige Melodie vor sich hin summte. Er hatte nie wirklich eine Wahl gehabt, das war ihm nun klar. Seine Augen schweiften umher, als wollte er sich vergewissern, noch immer am gleichen Ort zu sein. Wie eh und je standen die Bäume ein wenig landeinwärts geneigt, wie eh und je wuchsen links und rechts des Weges struppige Heckenrosen und dornige Brombeersträucher, an denen er sich in Kindertagen regelmäßig auf der Suche nach den prallsten, süßesten Früchten die Arme aufgekratzt hatte, und auch die Ziege war immer noch auf der gleichen Weide, wo sie seit Jahren stand. Klein und mickerig, mit zerzaustem Fell, aber robuster, als Karl selbst es je sein könnte.
Er ging zurück, und nichts würde sich ändern.
Als Karl oben auf dem Hügel stand, spürte er den Wind in den Knochen. Er ließ das Fahrrad achtlos ins Gras fallen, breitete die Arme aus, als wolle er fliegen, und balancierte am Abgrund umher. Es war ein Spiel aus alten Kindertagen, eine Art Mutprobe für ihn. Falle ich – falle ich nicht – falle ich…
Er fiel nicht. Und als er merkte, dass er diesen Weg nicht nehmen würde, verließ ihn jegliche Körperspannung. Er sank zu Boden und rollte sich auf dem weichen Untergrund zusammen, wickelte sich in seinen Mantel und weinte hemmungslos und verzweifelt wie ein Kind. Jeglicher Zorn war von ihm abgefallen, stattdessen brachen laute Schluchzer aus ihm hervor, die sich so steigerten, dass ihm das Aufhören fast unmöglich wurde. Er war wieder ein kleiner Junge, der es seiner Mutter nicht recht machen konnte, so wie damals, vor vielen Jahren, als sein Leben immer weiter aus der Spur geriet. Er war nicht so schlau wie Kathrin, konnte nicht so gut singen wie sie und spielte viel wildere Spiele. Dem Vergleich seiner Mutter mit der Schwester konnte er nicht standhalten, was immer er auch versuchte.
Aber er würde weder sie noch diese Welt verlassen, jetzt nicht und in zehn Jahren nicht. Nicht aus eigener Kraft. Vom Weinen erschöpft schlief er ein.
Im Osten wurde es langsam hell.
Vielleicht war das die Lösung. Anders entginge er ihr eh nicht, also warum dann nicht so? Als er oben ankam, ging sein Atem stoßweise. Er sah sich um, als sei ihm noch nicht ganz klar, dass er am Ziel seines Weges war, dort, wohin es ihn schon den ganzen Abend gezogen hatte. Hierhin an die Steilküste, an der er als Kind immer gespielt hatte und die er heute nicht mal mehr zum Sonntagsspaziergang besuchte. Plötzlich sah er den Strandhafer wieder mit den Augen der Kindheit, fühlte seine rauen Blätter zwischen den Fingern und erinnerte sich an das Gefühl, das entstand, wenn man sie zwischen beide Daumen spannte, um auf ihnen zu pfeifen. Er tat es nicht.
An Wochenenden war der Weg fest in Hand der Touristen, der Städter, die heraus fuhren, um die Luft, die Natur, die einzigartigen Felsen zu genießen. Er hasste sie alle, wünschte sie jede Woche aufs Neue ins Land hinter dem Mond. Sie hinterließen ihren Dreck, ohne sich Gedanken zu machen, und die Dörfler mussten sehen, wie sie ihn wieder wegschafften.
Doch anstatt die Städter hinauszuekeln, passten sich immer mehr Alteingesessene an, versuchten, ein Geschäft für sich dabei heraus zu schlagen. Hertha verkaufte in ihrem kleinen Lebensmittelladen nun auch Zeitungen und Comics, Axel bot Rundfahrten mit seinem Kutter an, und sogar im "Verbogenen Anker" gab es Touristenmenüs. Wie er dieses Wort hasste! Als ob die Städter was anderes äßen als sie hier auf dem Dorf. Konnten die nicht wie alle anderen auch Hering mit Stippe und Bratkartoffeln futtern? Wütend trat er in die Pedale, um die letzten Meter zu schaffen.
Der Hügel war steil, und auch ohne Alkohol im Blut wäre es anstrengend gewesen, hinauf zu fahren. Karl schwankte, fuhr Schlangenlinien, schlingerte auf dem losen Kies, rutschte das eine oder andere Mal mit dem Hinterrad weg und wurde immer langsamer, aber er gab nicht auf.
Sie war ihm mit diesem neumodischen Kram gekommen, hatte ihm vorgeworfen, dass er sich nie damit befasst hatte, hatte alles darauf geschoben, dass er nicht mit einem Computer umgehen konnte. Als ob es darauf ankam, wenn man Fischer war! Keine einzige zusätzliche Krabbe hätte ihm dieses Ding eingebracht, nur Ärger und weitere Rechnungen, das sah er ja bei Jens. Aber sie hatte ihm zugesetzt, hatte gesagt, er hätte ja gar nicht Fischer werden müssen, sondern mit diesen Dingern arbeiten sollen. Er hatte sie nur verständnislos angesehen. In die Stadt gehen, er? In einem Büro arbeiten, den ganzen Tag eingesperrt sein, nie die steife Brise um die Nase haben, die er an seinem Arbeitsplatz so liebte? Nein, dann lieber noch jeden Tag ihr Gezeter anhören. Bis ins Grab, jeden Tag.
Nach Hause wollte und konnte er nicht gehen, und so nahm er das Fahrrad, das an einer Mauer lehnte, und quälte sich den Hügel hinauf. Irgendwann würde er das Rad zurück bringen, aber heute Nacht brauchte er es, sonst würde er den Mut nicht haben, die Ausdauer nicht, um dorthin zu gehen, wohin er jetzt wollte.
Das Mondlicht erhellte ihm ein wenig den Weg, wurde aber immer wieder von dunklen Wolken unterbrochen. Karl hörte den Wind pfeifen und die Wellen leise gegen den Strand schlagen, und hier und da sah er einen Kiesel aufblitzen, wenn er vom Wasser ein Stückchen weitergetragen wurde.
Als der Abend schon längst in die Nacht übergegangen war, die meisten von Karls Freunden bereits in ihren Kojen lagen und der Wirt, Bastian, ihn sanft an der Schulter schüttelte, um ihm klar zu machen, dass er jetzt gehen musste, da fühlte Karl sich ihrer lauten Stimme nicht gewachsen. Schwankend stand er auf, hielt sich am Tresen fest, dann an einem der dicken, eichenen Stützbalken, die das alte Gemäuer durchzogen und aufrecht hielten, und schließlich traute er sich, loszulassen und ging, schräg wie ein Schoner im Wind, nach draußen.
Seine lauten, unregelmäßigen Schritte erschütterten den Kai, und hier und da erwachte eine Möwe aus dem Schlaf, zeterte leise und suchte sich einen neuen Platz, an dem sie ungestört weiterschlafen konnte.
Der Weg führte ihn durchs Dorf, an den geschlossenen Läden der anderen Fischer vorbei, hinunter zum Hafen, zum "Verbogenen Anker", der einzigen Kneipe im ganzen Ort. Alt und angeranzt waren die Bänke, an den Wänden hingen zerrissene Netze und der Anker, welcher der Kneipe den Namen gegeben hatte. Der Fischerlegende nach hatte der alte Harry eine Sturmwarnung in den Wind geschlagen und war hinaus gefahren, um Krabben zu fischen. Als der Sturm ihn erreichte, warf er den Anker aus, um nicht versehentlich aufs Ufer geworfen zu werden. Der Anker hielt, aber als er ihn am nächsten Morgen einholte, war er in sich verdreht, als hätte ein Riese ihn in der Faust gehalten und zugedrückt. Seitdem hing er an der Wand der Kneipe.
Hier wollte Karl vergessen, was eben geschehen war, mit seinen Kumpels ein Bierchen trinken, einen Schnaps dazu, später vielleicht einen Grog. Es blieb nie bei einem Bier, einem Schnaps, einem Grog. Karl trank nicht regelmäßig, selten häufiger als zweimal die Woche, manchmal fast einen ganzen Monat nicht. Doch wenn sie ihn wieder für alles verantwortlich machte, wenn sie ausrastete und so tat, als sei ganz alleine er an ihrer Situation Schuld, dann lief etwas in ihm über und er landete im Anker, wo ein Grog zum anderen kam, wo das Bier in Strömen floss und er im Schnaps die Glückseligkeit auszumachen glaubte.
Wütend knallte Karl die Tür zu. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr das gleiche Lied. Und egal, was er sagte, sie keifte und giftete, ließ ihn nicht zu Atem kommen, gab ihm keine Chance, sich zu wehren, und traf mit jedem ihrer nadelspitzen Worte messerscharf sein Herz. Dabei hatte sie gar keinen Grund, denn immerhin hatte er Arbeit und sorgte für sie.
Natürlich konnte er als Krabbenfischer nicht reich werden, aber zum Leben hatte es doch immer noch gereicht. Seit sie nur noch zu zweit waren, hätte es eigentlich besser werden müssen, es war ja mehr Geld da, aber statt dessen wurde es immer schlimmer mit ihr. Und heute war ihm der Kragen geplatzt, er hatte zurück gebrüllt und nun sogar mit der Tür geknallt.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, stellte er den Kragen seiner Jacke auf und ging ziellos in den Abend hinein.
"Du bist wirklich der nutzloseste Sohn, der unter der Sonne weilt!", kreischte die Stimme seiner Mutter durchs Haus. Karl seufzte. Er hatte anscheinend mal wieder etwas nicht ganz zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt, vielleicht ihre Lesebrille nicht millimetergenau dort abgelegt, wo sie diese erwartete.
"Als dein Vater noch lebte, warst du noch nicht so achtlos, da wusstest du noch, was sich gehört und was nicht! Aber nein, deine alte Mutter kannst du ja belügen, ihr vormachen, Du würdest nicht trinken, dir nicht die Nächte um die Ohren schlagen, die merkt es ja nicht!" Karl hörte nicht mehr zu. Heute war es dies, dann das. Es schien fast, als bräuchte sie den Streit, um sich lebendig zu fühlen.
"Wäre Kathrin doch noch am Leben und es hätte dich erwischt, dann ginge es mir…" Er wollte nicht hören, wie es ihr dann ginge. Er war nicht Schuld am Tod seiner Schwester, und auch nicht daran, dass sein Vater einen Herzinfarkt bekommen hatte. Manchmal übertrieb sie es in ihrem grenzenlosen Hass. Und deswegen brüllte er ihr jetzt all die Dinge entgegen, die er sonst nur hinunterschluckte.
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5. / 25. November 2003
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Die Wörter waren: Comic - essen - Fahrrad - Ziege - Computer