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Katharsis - Eine kleine Abrechnung
Friedrich Nietzsche
***
Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen.
Kurt Tucholsky
***
Dunkelheit.
Alles was John sehen konnte, war undurchdringliche Dunkelheit. Er war jäh aus einem tiefen Schlaf erwacht, und lag nun mit weit aufgerissenen Augen da. Noch warfen die Erinnerungen an die Traumwelt, die er gerade verlassen hatte, ihre tastenden Schatten auf seine Wahrnehmung und entließen ihn nur quälend langsam wieder in die reale Welt. Hier und da huschten schwarze Schemen durch das Dunkel vor seinen Augen, formierten sich zu abstrakten Mustern, verharrten kurz, nur um sich im nächsten Moment wieder eilig tänzelnd seinem benommenen Blick zu entziehen.
Es waren Geräusche, die John aus dem Kokon der Benommenheit befreiten und ihm den Weg zurück in die Wirklichkeit wiesen. Ein verhaltenes Rascheln, ein zaghaftes Schleifen, ein leises Klimpern … Er schloss die Augen, presste die Lider schmerzhaft zusammen und konzentrierte sich.
Wo bin ich?
Er bemühte sich, wieder ein Gefühl für seinen Körper zu bekommen. Er lag auf einer harten Unterlage. Sein Rücken schmerzte, seine Glieder waren matt und kalt, und ein dumpfer Schmerz pochte in seiner Stirn. Langsam hob er die Hände und bewegte die knackenden Finger.
So weit erstmal …
Langsam richtete er seinen Oberkörper auf und zog die Beine an. Wieder erklang dieses Klimpern. Er spürte einen leisen Druck auf seinem Fußgelenk. Vorsichtig tastete er mit noch steifen Händen seinen behaarten Unterschenkel hinab.
Behaart?
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Jetzt schnellten seine Hände an den Oberkörper, die Brust, den Bauch. Fühlend. Tastend. Als er schließlich an sein Gemächt langte, gab es keinen Zweifel mehr: Er war nackt. „Victoria?“
Keine Antwort.
Stimmt, das war ja vorgestern.
„Sonst irgendwer?“
In diesem Moment flammten die Lichter auf. Dutzende Neonröhren erwachten von hektischem Summen begleitet zu gleißendem Leben.
„Wie schön, dass sie endlich zu sich gekommen sind, John“, sagte eine dumpfe Stimme irgendwo in dem blendenden Lichtmeer.
Als Johns Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, konnte er sich endlich einen Überblick über seine Situation verschaffen. Er befand sich in einem weiß gefliesten Raum, von dessen kahler Betondecke mehrere Neonröhren baumelten. Eine schwere Eisentür hielt den einzigen Ausgang verschlossen. Es war kalt, und der Geruch von Moder strömte aus den Fugen. Einige Meter entfernt versperrte ein straff gespannter, weißer Vorhang die Sicht auf die restlichen Wände.
Wie bin ich denn hier hergekommen?
Er selbst saß in einer Ecke des Raumes. Irgendwer hatte ihn seiner Kleidung entledigt, und … Der Druck auf seinem Fußgelenk war noch da. Ungläubig starrte er an sich hinab. Eine Fußfessel! Eine mittelalterlich anmutende Kette aus schweren, rostigen Gliedern hielt ihn hier gefangen. Sie war gerade einmal einen Meter lang und endete in einem Eisenring, dessen obere Hälfte aus dem Boden ragte.
Das darf doch alles nicht wahr sein.
John wagte es kaum, sich die Lage der Dinge klar zu formulieren.
Ich bin nackt und gefesselt in irgendeinem Raum und weiß nicht, wie ich hier hergekommen bin.
John schluckte.
Dann durchströmte eine Woge der Erregung seinen Körper und wallte in seinem Glied auf.
Einige Augenblicke später trat eine Gestalt durch den Vorhang und schritt auf John zu. Mit theatralisch ausgebreiteten Armen hob sie an zu sprechen: „Herzlich Willkommen in meinem … Ach du lieber Gott!“ Die Gestalt kam stolpernd zum Stehen. „Was tun Sie denn da?“
John hielt inne und blickte kurz auf. Er war kurz vor dem Überkochen. „Ich … oh … Könnten Sie gleich noch mal wiederkommen?“
„Das ist ja widerlich!“, zeterte der Unbekannte, trat tänzelnd auf der Stelle und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Widerlich!“ Dann verschwand er keifend hinter dem Vorhang.
John zuckte mit den Achseln und machte sich wieder an die Arbeit. Der Raum, die Kälte, seine Nacktheit, das Klirren der Kette bei jeder seiner zuckenden Bewegungen, seine Machtlosigkeit … Er schloss die Augen und überließ seinen bebenden Körper der aufbrandenden Lust.
„Äh, Hallo?“ Johns Worte hallten von den Kacheln wider.
„Was?“ Die Stimme drang leise durch den Stoff des Vorhanges.
„Ich … also, ich wäre dann soweit.“
Der Unbekannte schnaubte hinter seiner Deckung.
„Hören Sie, ich glaube, ich habe Ihnen gerade Ihren Auftritt vermasselt. Kommen Sie doch einfach noch mal raus, und wir tun so, als sei nichts geschehen … Okay?“ John wartete einen Moment, und rollte mit den Augen, als eine Antwort ausblieb. „Sir?“
„Was?“
„Also, so wie ich das sehe, haben Sie mich entführt, entkleidet und hier an den Boden gekettet.“ Schon wieder diese Erregung … „Irgendwas bezwecken Sie doch damit. Wollen Sie nicht darüber reden?“
Ein kurzes Schweigen. „Ist es auch ganz sicher, rauszukommen?“
„Na klar“, sagte John und legte seinen Phallus beiseite.
Er sah, wie der Vorhang einen Spalt aufgezogen wurde und die unbekannte Gestalt zaudernd hindurchschlüpfte. Sie ging einige zögernde Schritte auf ihn zu und verharrte dann außerhalb seiner Reichweite. John betrachtete seinen vermeintlichen Entführer. Da stand ein unscheinbarer Mann, irgendwo in den Fünfzigern, mit einem verhärmten Gesicht, unruhigen Augen und wirren, grauen Haaren. Das Einzige, was diesen Kerl der Belanglosigkeit entriss, war seine Kleidung: Er steckte in einem abgewetzten Arztkittel, der über und über mit Blut beschmiert war. Getrocknete, schwarze Flecken waren übersät mit Spritzern aus frischem, leuchtendem Rubinrot. An seinen Händen trug er Gummihandschuhe, wie die Ärzte aus diesen Fernsehserien. John musste grinsen, als er sah, dass auch diese rotgetüncht waren. „Beim Rasieren geschnitten?“
Der Unbekannte musterte ihn mit verdrießlichem Blick. Schließlich legte er die Zeigefinger an seine Lippen, lächelte hämisch und sagte mit ruhiger, einigermaßen fester Stimme: „Ich glaube, Sie verkennen Ihre Lage, John.“
„Na bitte, geht doch.“
„Was geht?“
„Ihre Rolle. Sie haben wieder in Ihre Rolle gefunden. Der Kittel, das Blut, das überlegene Grinsen … Ganz der durchgeknallte Chirurg. Gefällt mir.“ John rutschte so weit es ging über den Boden und lehnte seinen Rücken an die Wand. Als die kalten Fliesen seine nackte Haut berührten, verspürte er eine angenehme Wärme in der Bauchgegend. „Stellt sich mir nur eine Frage: Wer sind Sie?“
„Oh, John, John, John“, murmelte der Unbekannte beinahe mitleidig und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Immer stellen Sie die falschen Fragen.“
„Wieso? Ich hab doch erst eine gestellt …“
„Schweigen Sie!“ Jetzt brach es aus seinem Entführer heraus. Mit wedelndem Zeigefinger stand er da und keifte: „Die Frage, mein Freund, ist doch nicht, wer ich bin. Die Frage ist vielmehr, wer Sie sind!“
„Ich bin John. Das haben Sie doch gerade schon ganz richtig festgestellt.“
„Schweigen Sie still, Sie vorlauter Mensch! Und unterbrechen Sie mich nicht andauernd!“
„Tschuldigung“, sagte John. „Also?“
„Also was?“
„Wer sind Sie?“
Der merkwürdige Unbekannte lief ein paar Mal im Kreis herum, schien sich dann zu sammeln, und wieder in die Rolle des wahnsinnigen Arztes zu fallen. „Wer ich bin?“, flüsterte er durch seine gebleckten Zähne und rieb sich lüstern die Hände, wobei seine Gummihandschuhe quakende Geräusche von sich gaben. „Nennen Sie mich einfach … den ‚Doktor’!“
„Doktor, huh …“ John legte die Stirn in Falten. „Worin haben Sie denn promoviert?“
Das Quaken erstarb. „Was?“
„Was Sie für ein Doktor sind? – Mathematik? Physik? Botanik?“
Der Doktor haderte. „Das geht Sie gar nichts an.“
„Auch gut“, meinte John. „Und wie geht’s jetzt weiter?“
„Das, mein lieber John“, zischte der Doktor nach einer dramatischen Pause und nickte bedächtig, „ist die richtige Frage.“ Dann verschwand er wieder hinter seinem Vorhang.
Vollidiot.
John überlegte, wem er diesen abstrusen Auftritt zu verdanken hatte. In der letzten Zeit hatte er Aufträge für die unterschiedlichsten Typen erledigt und war zwischen so ziemlich alle Fronten geraten, die die New Yorker Unterwelt aufbieten konnte. Wer also konnte diesen Deppen auf ihn angesetzt haben? Die Italiener schieden aus, ebenso die Chinesen. Die Russen? John versuchte, sich zu erinnern. Vor einiger Zeit hatte er diesen Gregori Soundso um die Ecke gebracht, und ihn in kleinen Portionen an seinen Vater geschickt, diesen Zampano der Russenmafia. Möglich, dass der dahinter steckte. Aber alles Spekulieren war müßig. John hatte während seiner Karriere so viele Leben beendet, und war auf so viele Füße getreten … Die Liste seiner Feinde war länger als die Schwänze von Skip Foreplay und Buck Naked zusammen.
„Angst?“
John schaute auf. Unbemerkt hatte sich der Doktor wieder hinter seinem Vorhang hervorgewagt und starrte ihn nun mit einem Funkeln im Blick an. „Wussten Sie, dass Angst die älteste aller menschlichen Empfindungen ist, John?“
„Wer sind Sie – Pinhead? Natürlich weiß ich das. Jeder, der auch nur einen einzigen Horrorfilm gesehen hat, weiß das.“
Auf der Stirn des Doktors zeichnete sich eine pulsierende Ader ab. „Na, dann können ja eine ganze Menge Leute Ihre derzeitige Situation nachempfinden.“
„Wenn Sie meinen.“
Die Kiefer seines Entführers mahlten hörbar aufeinander. „Ihre Gleichgültigkeit kauft Ihnen niemand ab, John. Oh, es wird mir ein Vergnügen sein, diese Fassade einzureißen.“
John schenkte seinem Peiniger ein liebenswertes Lächeln. „Na, da bin ich aber gespannt.“
Der Doktor holte etwas aus den ausgebeulten Taschen seines Metzgerkostüms hervor, legte es auf den Boden und schob es in Johns Reichweite. „Sagen Sie ‚Hallo’ zu Ihrem Schicksal!“
John hob das Gerät auf und wog es in seinen Händen. „Eine Bohrmaschine?“
„Geschockt, John?“
„Schockiert.“
„Was?“
„Schockiert. Es heißt ‚schockiert sein’ und nicht ‚geschockt sein’. Ich dachte, Sie als Akademiker …“
„Schweigen Sie!“
John legte den Zeigefinger auf die Lippen und machte eine entschuldigende Geste.
„Sie werden sich mit dieser Bohrmaschine ein Loch in die Stirn bohren, verdammt noch eins!“
„Ist das Ihr Rat als Arzt, Herr Doktor? Denn ich muss sagen, dass meine Kopfschmerzen in letzter Zeit gar nicht mehr so …“
„Schweigen Sie endlich!“, polterte der Doktor und lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Raum. „Sie sind nichts weiter als ein Pestgeschwür, ein Furunkel. Sie spielen mit den Leben anderer Menschen, als wären es Figuren in einem Schachspiel. Sie machen mich krank! Krank, sage ich! Und deswegen“, ereiferte er sich mit dräuendem Zeigefinger, „werde ich Ihnen jetzt eine Lektion erteilen!“ Dann schritt er auf den Vorhang zu und riss ihn zur Seite.
John starrte in die Hälfte des Raumes, die bis jetzt seinen Blicken verborgen gewesen war. Auch hier gab es fast nichts außer weißen Fliesen und sirrenden Neonröhren. Fast … Auf dem Boden lag eine Frau, und auch sie war wie John entkleidet. Der Doktor hatte sie mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen an den Boden gekettet. Über ihr baumelten an langen Stangen befestigte Klingen in den verschiedensten Formen und Größen. Die Stangen selbst waren in einer Strebe eingehangen, die mit zwei Seilwinden versehen war.
John lachte, als er die Frau erkannte. „Oh. Hi, Victoria!“
Ein anklagendes Stöhnen drang hinter ihrem Knebel hervor.
„Ja, ich weiß, ich wollte anrufen. Aber irgendwie hatte ich Deine Nummer vergessen. Der Stress, Du weißt …“ John las in den aufgerissenen Augen der Frau, dass das nicht besonders überzeugend gewesen war, also fügte er mit einem Lächeln hinzu: „Gut siehst Du aus.“
Nun meldete sich der Doktor wieder zu Wort. „Wie rührend. Die Vereinigung zweier Liebenden.“
„Liebender.“
„Was?“
„Nichts weiter. Aber ‚Liebe’ ist vielleicht etwas zu viel gesagt, was meinst Du, Vic?“ John wollte noch etwas sagen, hielt sich aber zurück, als er die Kiefer des Doktors wieder gefährlich mahlen hörte.
„Die Fassade wird schon bald in sich zusammenfallen, John. Oh, wie ich mich auf diesen Moment freue.“ Der Doktor kniete vor der jungen Frau nieder und ließ seine behandschuhten Hände quietschend über ihren Körper gleiten. „Diese junge, unschuldige Frau, mein lieber John, wird sterben. Diese pendelnden Klingen dort oben werden langsam – sehr langsam – niedergelassen werden und sich tief in ihr Fleisch fressen. Und während sie vor Schmerzen schreien wird, lauter und lauter, werden Sie vielleicht endlich verstehen.“ Er funkelte John aus gierigen Augen an. „Aber es gibt einen Weg, dieses menschliche Wesen zu retten. Es gibt einen Schlüssel. – Und den halten Sie in Ihrer Hand.“
John blickte auf die Bohrmaschine.
„Ganz genau, John. Beenden Sie Ihr eigenes Leben, so wie Sie Hunderte andere beendet haben, und Sie werden diese Frau retten. Ansonsten …“
„Sie sind ja verrückt.“
„Bin ich das? Lassen Sie mich Nietzsche zitieren: ‚Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.’ Sie sind dieser Abgrund, John. Sie und alle, die ich mir noch vorknöpfen werde.“ Er erhob sich wieder und begutachtete mit liebevoller Hingabe seine Todesapparatur. „Wie Sie sehen, John, habe ich mich ein wenig inspirieren lassen. Kafka trifft Lovecraft. Strafkolonie trifft Grube und Pendel. Gelungen, oder? Was meinen Sie?“
John griff nach der Bohrmaschine und ließ sie ein paar Mal aufheulen. Dann blickte er dem Doktor in die Augen und sagte: „Was ich meine? Ich meine, dass Sie ein verdammter Idiot sind. Sie nennen sich Doktor, schmeißen sich in ein Furcht einflößendes Kostüm, reden gesalbt daher, aber merken nicht, dass sie nichts Gehaltvolles anzubieten haben. Nietzsche? Was, in Dreiteufelsnamen, sollte dieses Zitat? Warum leitet jeder blutgeile Schwachkopf sein Schaffen mit einem Nietzsche-Zitat ein? Der arme Mann würde in seinem Grab rotieren, wenn er wüsste, für welchen Mumpitz er mittlerweile herhalten muss. Und, ach … Grube und Pendel: Das war Poe und nicht Lovecraft, Sie Kretin.“ John setzte die Bohrmaschine an seine Kette, und ließ den Bohrer kreisen. Der Doktor machte einen verängstigten Satz zurück, als er Johns Absicht erkannte. „Außerdem: Was soll dieser Humbug von wegen ‚Lektion erteilen’?“, brüllte er, um das Heulen der Maschine zu übertönen. „Warum denkt mittlerweile jeder Trottel, er müsse seine Gewaltphantasien in intellektuelle Spielchen kleiden? Wenn Sie Blut sehen wollen, dann vergießen Sie es! Aber machen Sie mir nicht weis, Sie täten das alles nur, um Ihren Opfern die Augen zu öffnen. Ich bitte Sie. Ich bin ein Killer, ein Mörder, ein Meuchler. Ich habe in meinem Leben schon … was weiß ich, wie viele es waren. Was erwarten Sie denn – dass ich jetzt schluchzend zusammenbreche, nur weil Sie damit drohen, ein Flittchen zu zersäbeln, mit dem ich mal eine Nacht verbracht habe? “ Er ließ die Bohrmaschine verstummen. „Oh, mein Gott“, schluchzte er, „Was habe ich getan? Warum? Warum? All diese Unschuldigen …“ Er wurde von einem Lachen geschüttelt. Als er sich wieder im Griff hatte, schaute er dem vor Wut und Angst zitternden Doktor in die Augen. „Na, los. Setzen Sie Ihr Maschinchen doch in Gang! Ich brauche hier noch eine Weile.“ Dann drang der Bohrer tiefer in die Kette. „Und wo wir gerade dabei sind – warum so umständlich? Warum drohen Sie mir nicht einfach damit, sie zu erschießen? Warum diese dämliche Installation? Sind Sie auf eine Kunstförderung aus? – Warum müssen wir beide nackt sein? Wegen der Lektion? Ist das essentiell? Oder sind Sie nur scharf auf den Anblick? – Oh, nein … Ich weiß: Wegen Nietzsche. Der Abgrund und so … Wie Du mir, so ich Dir.“
„Sie verstehen nicht“, schrie der Doktor.
In diesem Moment hatte John das Kettenglied durchtrennt, und befreite sich aus seiner Fessel. Langsam erhob er sich, reckte die Glieder und schritt gemächlich auf seinen Entführer zu.
„Oh, doch. Ich verstehe“, sagte er. „Sie sind nichts weiter als ein blut- und gewaltgeiler Hohlkopf. Das könnte Sie mir doch glatt sympathisch machen. Wenn Sie nur nicht versuchen würden, aus Ihren Orgien sozialkritische Lehrstunden zu machen.“
Der Doktor glotzte auf die Bohrmaschine in Johns Hand.
„Dafür war die wohl nicht gedacht, was? Tja, das nächste Mal sollten Sie Ihren Plan besser überdenken.“
„Was … was haben Sie jetzt vor?“
„Na, was wohl? Ich werde aus dieser Tür da marschieren“, antwortete er und deutete mit dem Kinn zur Stahltür. „Aber vorher wäre es nett, wenn Sie mir meine Klamotten wiedergeben könnten.“
„Sie werden mich nicht ... töten?“
John dachte einen Moment nach. „Hmm, nö. Ich fand's alles in allem ganz amüsant bei Ihnen. Betrachten Sie es als Katharsis, als Lektion. Da stehen Sie doch drauf, oder?“
Der Doktor schluckte schwer und machte eine vage Geste in Richtung der auf dem Boden liegenden Victoria.
„Was denn?“, fragte John. „Was soll schon mit ihr sein? Sie haben Sie doch entführt. Werden Sie damit fertig.“ Er schaute zu der Frau hinunter. „Nichts für ungut, Vic, aber der Doc wird sich schon um Dich kümmern.“ Dann klatschte er in die Hände, legte dem Doktor die Rechte auf die Schulter und fragte wohlgemut: „Wo sind denn nun meine Klamotten?“
„Wenn Sie rauskommen, gleich rechts auf der Kommode.“
„Tja, ich schätze, das war’s dann.“ Er zuckte ein letztes Mal mit den Schultern, zwinkerte Victoria zu und meinte: „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“
Er öffnete die Stahltür, trat pfeifend in einen kleinen Flur und kleidete sich wieder an. Aus dem Folterkabinett hörte er die zittrige Stimme des Doktors: „Wegen Ihnen werden weitere Menschen sterben!“
John rollte mit den Augen. „Ihretwegen. Es heißt ‚Ihretwegen’ und nicht ‚wegen Ihnen’. Feilen Sie endlich mal an Ihrem Ausdruck!“
Dann verschwand er.