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Katinka, Katinka
Erinnerst du dich, Katinka, an den Sommerabend auf dem Darß? Wir schwammen in der immerkühlen Ostsee und lagen danach im warmen Sand, über unseren nackten Körpern war nur Himmel und Sonne. Stundenlang lauschten wir dem Meeresrauschen, zwischendurch lasen wir uns vor und vermischten unsere Worte mit dem Säuseln der Wellen.
Welches Buch?
Ich weiß es nicht mehr, vielleicht eine Geschichte von Himmel, Sonne und zwei Menschen, die sich gegenseitig Geschichten vorlesen.
Später gingen wir zu dem kleinen Hafen des Ortes, bummelten an der Promenade und sahen uns die Segelboote an. Waren sie nicht ebenso im Nirgendwo beheimatet wie wir, Katinka? Auch uns war jeder Hafen nur vorübergehende Station auf dem Weg zum nächsten Ufer, das seinen Zauber einbüßte, wenn wir es erreichten.
„So könnte es Zugvögeln oder Nomaden gehen“, überlegtest du.
Damals hatte die Landschaft ihre Eigenheiten verloren und war zu einer abstrakten Abfolge von Wiesen, Wäldern und Seen geworden. Menschen, die wir kennen lernten, waren nur noch Typen, die an Bekannte erinnerten und wir fragten immer seltener, was unter ihrer Maske lag. Nur wir waren von fester Substanz und wurden wirklicher, je mehr sich die Landschaft in Konturen verlor und die Menschen zu Masken wurden.
Wir gingen auf den Friedhof des Städtchens, die ungepflegten Gräber lagen um die trutzige Kirche herum. Vögel zwitscherten in den Bäumen, ein leichter Wind kam vom Meer und spielte mit deinem schwarzen Haar. Du hast versucht die Worte auf den Grabsteinen zu lesen, aber viele Buchstaben hatten sich schon der Zeit ergeben und so blieben die meisten Toten namenlos.
„Man sollte seinen Namen stets vor sich her sagen“, murmeltest du, „um die Welt von seiner Anwesenheit zu überzeugen.“
„Katinka, Katinka“, antwortete ich, „solange wir vergehen, leben wir.“ Es gelang mir nicht dich aufzumuntern, nie gelang es mir, dich zu trösten oder zu erheitern. Doch du hast die Absicht verstanden und gelten gelassen.
Nur dein schmales Lächeln quittierte dem Satz meinen Misserfolg.
„Still“, sagtest du und nahmst meine Hand in deine. Die war so warm und trocken wie deine Lippen. Du hast nach Himmel und Sonne geschmeckt, nach Kräutern und Wald.
Als wir zurück fuhren, zeigte sich die Natur in spätsommerlicher Pracht. Auf dem Darß zerteilte die Straße ein Meer von Rapsfeldern, deren leuchtendes Gelb vom Wind gewellt wurde. Im Landesinneren zogen schwer beladene Apfelbäume an uns vorbei, Raubvögel thronten auf Strommasten und hielten die Felder im Auge. Eine Familie kam im Abendlicht von einer Fahrradtour zurück. Festzeit des Hochsommers.
Nie waren wir einsamer.
Ich glaube, Katinka, dass mit diesem Tag unsere Liebe zu schwinden begann. Vielleicht lag es an der Geschichte, die wir uns vorgelesen haben, dass wir uns selbst wie Figuren in einer Geschichte vorkamen. Unsere Liebe wurde vieldeutig, es war auf einmal, als verbarg jeder Sinn einen Hintersinn. Mit der Eindeutigkeit verschwanden auch wir.
In langen milden Septembernächten zeichneten wir mit den Fingern die Formen unserer Körper nach. Ein Ritual, mit dem wir uns unserer Körperlichkeit versicherten.
Wir liebten uns hemmungslos wie nie und taten all die Sachen miteinander, die wir uns vorher nur in der Fantasie erlaubten. Möglicherweise lag es an der Geschichte, die wir uns vorgelesen haben, dass wir selbst zu Figuren in einer Geschichte wurden.
Manchmal, wenn wir über den nahenden Herbst sprachen, hellte sich dein Gesicht auf.
Du hofftest auf Abschied und Neubeginn. So war es die vorherigen Jahre gewesen, mit dem Herbst kam deine Melancholie, die sich bald in Traurigkeit verwandelte. Um zu entkommen, hatten wir uns Jahr um Jahr auf den Weg gemacht, irgendwo einen Neuanfang zu machen. Ich ahnte damals schon, Katinka, das nächste Ufer musstest du allein erreichen.
Noch vor dem dunklen Oktober kam der Brief der obersten Behörde. Ich soll mein Leben ändern, stand darin. Zu einem festgesetzten Zeitpunkt wurde mir befohlen an einem bestimmten Ort zu sein, wo ich ab dann bleiben musste.
Wir hatten mit diesem Brief gerechnet. Nie hatten wir darüber gesprochen, aber dass er kommen würde, das hatten wir tief empfunden und gewusst.
Die bevorstehende Trennung verjagte alle Schatten. Wir lebten in einen großartig verregneten Herbst hinein, kauften uns Gummistiefel und liefen durch Pfützen, ließen Drachen steigen und liebten uns mit herrlicher Verzweiflung.
Nie war unser Leben intensiver.
Seltsamerweise hörten wir bei all dem nicht auf, zu verschwinden. Es war, als verblassten wir wie Buchstaben in einem alten Roman.
Vielleicht las ihn niemand mehr, oder die Zeit entließ ihre Figuren in neue Schicksale.
In den Nächten berührten wir uns nicht mehr, sondern lauschten dem Blätterrauschen oder dem fallenden Regen. Einmal, als die Morgensonne durch das Fenster schien, schimmerte ein Baum durch dein Gesicht. Danach berührte ich dich nicht mehr, aus Angst, dass du nur noch ein Trugbild warst.
Am Vortag meines Aufbruchs packte ich das Wenige, das ich mitnehmen wollte und stellte es im Wohnzimmer auf.
Katinka, an diesem Abend warst du kaum noch zu sehen, dein Körper war durchscheinend wie Pergamentpapier.
„Dieser Abschied beinhaltet keinen gemeinsamen Neubeginn“, stelltest du fest.
Ich nickte, was hätte ich auch sagen sollen?
Am nächsten Morgen warst du verschwunden, ich suchte die ganze Wohnung nach dir ab, Katinka, doch du warst weg. Vielleicht hast du in der Nacht begriffen,
dass Menschen keine Figuren sind, und das Buch unserer Geschichte zugeschlagen, bevor es die oberste Behörde tun konnte. Ich glaube, das hast du.