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Katzenlustschreie (2/08)
Langsam schleicht sich das Bewusstsein ein, dass das Klopfen nicht zu meinem Traum gehört. Ich schrecke hoch. Dreiviertel sechs. Keine Zeit, zu der ich Besuch erwarte, meine Rechnungen hab ich alle bezahlt, keine strafbare Handlung begangen und mein Fernseher ist angemeldet. Das Klopfen wird lauter, fordernder. Schon wieder fallen mir die Katzenlustschreie ein. Wie gelähmt liege ich in meinem Bett und höre das Holz des Türstocks brechen, dann ein paar Schritte, der Boden knarrt; mein Atem steht still und die Zimmertüre öffnet sich. Der Norweger-Pullover. Die braune Hose. In meinem Kopf ertönen Sirenen aus Katzenschreien. Kaltes Grinsen nähert sich und ebenso kalt spuckt er mir die Worte entgegen: »Das hast du dir selbst eingebrockt.« In seiner Hand ein Stein. Ich krampfe meine Augen zu; spüre nur mehr einen Luftzug und gebe mein Bewusstsein ab. Er zertrümmert meinen Kopf, ich krieche aus meinen Poren ins Licht und schwebe in ein weiches Farbenmeer.
*
Die Sonne scheint fast waagrecht in mein Gesicht, ich bleibe eine Weile vor dem offenen Fenster stehen und genieße die letzten warmen Strahlen des Tages. Dabei streift mein Blick wie so oft über das in kleine Quadrate aufgeteilte Grundstück mit den kleinen, bunten Einfamilienhäusern und den kleinen Gärten, die in manchen Fällen eher Grünstreifen gleichen. Immer noch finde ich den Ausblick traurig.
Ich muss daran denken, wie ich die Lustschreie der Katzen damals gehört habe. Da war es auch gerade Frühling und das Grundstück noch ein Stück Wildnis in der Großstadt, alles wuchs ungezähmt durcheinander und Bäume gab es, die bis zum fünften Stock des Gebäudes gegenüber reichten. Ein kleines Paradies für Vögel, Eichhörnchen und andere Tiere, für mich ein schöner Blick ins Grüne, und die Katzen aus unserem Bau hatten freien Auslauf und freie Liebe, der sie nachts oft lautstark frönten. Bis Männer mit Motorsägen und Baggern kamen und alles zu Baugrund plätteten. Die Bewohner der neu gebauten Häuser machen sich nicht viel aus ihren Gärten. Nur bei diesem gelben Haus war es anders: üppige Bepflanzung und eine reiche Blütenpracht – die ersten beiden Jahre jedenfalls, dann war es vorbei.
Schon seit ein paar Tagen höre ich abends, wenn es ruhig ist, wie damals das Wasser über den großen, unregelmäßig beschlagenen Stein plätschern. Sogar die Pumpe war während der letzten Jahre abgestellt. In dem kleinen Teich sehe ich zwei Fische im Kreis schwimmen und vor dem Eingang des Hauses wechseln sich wieder Gummistiefel mit Schlapfen und Arbeitsschuhen ab. Die Pflanzen wirken frisch und gepflegt, sehen nicht mehr so traurig drein, wie die letzten acht Jahre hindurch. Frisches Grün und unzählige Knospen sprießen überall; bald wird alles in den schönsten Farben blühen. Doch richtige Freude kann ich nicht empfinden, vielmehr ist es ein schauriges Gefühl, das sich in meinem Kopf wieder mit Katzenlustschreien vermengt.
Die Sonne ist inzwischen fast verschwunden, der Himmel ein Traumgemälde in Orange, Bordeaux, Violett und Dunkelblau. Es wird kühler. Ich richte mich aus meiner gebückten, am Fensterbrett lehnenden Haltung auf, um das Fenster zu schließen, im selben Moment öffnet sich die Tür des gelben Hauses. Die Frau mit den schulterlangen, schwarzen Haaren tritt heraus und schaut zu mir in den dritten Stock. Unsere Blicke treffen sich wie zwei Waggons, wenn sie aneinandergekoppelt werden. Ich setze ein Lächeln auf, bevor ich das Fenster zudrücke und den Griff drehe. Mir ist nicht gut, ich habe ein eigenartiges Gefühl im Magen. Vorhang vor. Bilde ich mir nur ein, dass sie ganz gezielt heraufgeschaut hat?
Gedankenverloren räume ich die Küche auf, verschütte den Zucker beim Auffüllen der Dose und kann eine Schüssel, die mir aus der Hand rutscht, gerade noch fangen; Schluss für heute. Ich lasse mir ein Badewasser ein, nehme mein Buch, die zum Bestseller gewordenen Städtegeschichten von M. Blackwood, schlage die Geschichte »Konstanz« auf, mit der ich mich etwas ablenken will, doch ich bin kaum in der Lage, dem Geschehen zu folgen. »Beobachte die Menschen«, »ich hörte die Stimme genau« – überall lauern Brücken, die mich wieder zu den Katzenschreien und dem Blick dieser Frau bringen. Warum sieht sie gerade jetzt wieder zu mir herauf, wo Fritz wieder da ist? Ich kann sie einfach nicht aus meinen Gedanken verbannen. Stattdessen spüre ich plötzlich eine drückende Müdigkeit, als wollte sie mein Bewusstsein mit Gewalt in Schlaf versetzen, damit ich über nichts mehr nachdenke. Ich verzichte aufs Haarewaschen, steige aus der Badewanne und trockne mich schnell ab. Selbst das Surren und Rotieren der Zahnbürste in meinem Mund kann die Müdigkeit nicht vertreiben, ich muss ins Bett gehen.
*
Ich würde gern wissen, wie diese Frau sich fühlt. Nachmittags öffnet sie für eine Stunde ein Fenster im ersten Stock und abends brennt diffus wirkendes Licht in einem Zimmer im Erdgeschoß, das sind die einzigen Lebenszeichen, die sie von sich gibt. Ach ja, und die Mülltonne, die immer direkt neben der Tür des gelben Hauses steht, aber dienstags und freitags, wenn die Müllabfuhr kommt, auf ihren Platz neben der Gartentür wandert. Wer sie da immer hinstellt, sehe ich nie, auch ein- oder ausgehen sehe ich die Frau nicht, bei fast allen Fenstern sind Tag und Nacht die Jalousien heruntergelassen. Sie kümmert sich nicht einmal um die von Fritz einst so liebevoll eingesetzten Pflanzen; was blüht, ist vor allem die Lustlosigkeit.
Nur neulich traf ich sie einmal – im Bus. Aus der Nähe erkannte ich sie nicht gleich und dachte erst, sie würde wohl in unserem Bau wohnen, als sie mit mir ein Gespräch anfing. Über den Regen, der gerade über uns hereingebrochen war. Ihren bayrischen Akzent nahm ich nicht gleich wahr. Erst auf dem gemeinsamen Stück Weg wurde mir langsam bewusst, wer die Frau war, und als sie nicht in unseren Durchgang einbog, sondern weiter zum Ende der Sackgasse ging, wo es nur mehr drei Häuser gibt, forderte die Gewissheit die Angst zu einem Walzer auf. Warum hatte sie ausgerechnet mich angesprochen? Glaubt sie am Ende etwa, ich hätte was gesagt?
Und was ist, wenn jemand anonym den entscheidenden Hinweis gegeben hat …? Dann kann es jeder gewesen sein und sie weiß nicht, dass ich es nicht war. Ein schauriges Gefühl macht sich in mir breit und ich versuche, den Gedanken zu verdrängen. Sicher rede ich mir da zu viel ein.
Ich möchte endlich wieder einmal einfach in Ruhe aus dem Fenster schauen können.
*
Links vorne springen Kinder auf einem Trampolin auf und ab, die Federn quietschen. Sonst tut sich nichts in den Gärten. Ich schaue ihnen eine Weile zu, lasse mich von ihrem Auf und Ab und dem Quietschen hypnotisieren und denke plötzlich wieder an die Katzenlustschreie. Immer wieder führen mich meine Gedanken da hin.
Als ich sie, neu eingezogen, zum ersten Mal wahrnahm, hatte ich mich richtig geschreckt. Ich dachte, da würde jemand ermordet oder mindestens vergewaltigt. Kalte Schauer liefen über meinen Rücken, ich versuchte, etwas zu erkennen, aber es war zu finster, und es wurde absolut still. Ich überlegte, die Polizei anzurufen, tat es aber nicht, weil man neuerdings Einsätze bezahlen musste, wenn man umsonst anrief, und ich war mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob ich mich nicht getäuscht hatte. Eine nächtliche Suchaktion wollte ich jedenfalls nicht finanzieren, irgendwer würde die Leiche dann schon finden.
Am nächsten Tag suchte ich das Grundstück mit dem Fernrohr ab und die Zeitung nach einer Meldung über ein Gewaltverbrechen hier bei uns, doch ich fand nichts. Es ließ mir trotzdem keine Ruhe. Erst, als ich die Schreie wenige Wochen später wieder hörte und kurz darauf zwei Katzen vom Grundstück laufen sah, wurde mir klar, was der Schreie Ursprung war. Ich gewöhnte mich daran und gönnte ihnen ihren Spaß. Ja, ich freute mich richtig, wenn sie wieder schrien.
Bei dem Gedanken fühlt sich mein Magen gar nicht gut an, ich gehe vom Fenster weg und lege mich auf die Couch. Ich glaube, ich bringe diese Katzenschreie mein restliches Leben nicht mehr aus dem Kopf.
*
Karl ist bestimmt der Bruder von Maria, aber das ist eigentlich egal – er stand ihr nahe und hat »ihr« Haus geerbt. Jetzt hat er, ein dreiviertel Jahr nachdem es passiert ist, den Durchgang zwischen den beiden Grundstücken geschlossen, für den sie erst extra auf jeder Seite zwei Stufen zum leichteren Überwinden des vorher schon vorhandenen Zaunsockels betoniert haben.
Seine Hecke zur Straße hin hat er nachgeschnitten, die zwischen den beiden Gärten nicht. Er lässt seine Sicht auf das gelbe Haus ganz zuwachsen. An seiner Stelle wäre ich ja längst ausgezogen. Oder gar nicht eingezogen. Ich hätte das Haus behalten und vermietet; so billig, wie es gebaut ist, würde es schnell Gewinn abwerfen. Zuvor war es eines der wenigen Gartenhäuschen am Rand des Grundstücks; gemauert zwar, aber nicht gedämmt und nicht beheizbar. Den Zubau haben sie unterkellert, das war die einzige Arbeit, die eine Baufirma erledigt hat. Den Rest haben Karl und Fritz noch großteils gemeinsam gemacht.
Beim Leichenschmaus haben sie sich noch gut verstanden. Oder haben sie alle nur Theater gespielt? Kann man das? Nein, es war wohl erst das Begräbnis und dann die Verhandlung, und Karl glaubte an Fritz’ Unschuld. Und nun will Karl nichts mehr von Fritz und seiner bayrischen Freundin wissen.
Vielleicht sollte ich einfach nicht so oft aus dem Fenster schauen und mir Gedanken über Dinge machen, die mich nichts angehen.
*
Lautes Lachen mehrerer Personen dringt beim offenen Fenster herein, es klingt nach lustiger Gartenparty und ich befürchte schon, dass bis spät nachts keine Ruhe sein wird. Es ist Juni, die Sonne scheint warm vom Himmel. Unter Karls Vordach sehe ich zwei Paar schwarze Hosenbeine und Füße mit schwarzen Socken und Schuhen, ein Beinpaar in grauer Justizwacheuniform, sowie schwarze Damenschuhe und schwarze Strümpfe unter einem Tisch versammelt. Auf dem Tisch reicht mein Blickfeld gerade so weit, dass ich auf einem Teller Würstel erkennen kann. Ob Marias Grab ebenso sparsam ausgefallen ist? Etwas abseits und für mich ganz sichtbar sitzt eine gebrochen wirkende alte Frau; still sitzt sie da, ins Leere starrend. Nein, sie starrt auf das gelbe Haus nebenan. Vorne im Garten spricht eine völlig deplatziert wirkende junge Frau in rotem Sommerkleid unentwegt mit ihrem Handy und biegt sich manchmal kichernd. Vielleicht eine Gefängnissozialarbeiterin? Könnte sonst jemand so unpassend bei einer Trauerfeier erscheinen?
Ich zwinge mich immer wieder, meinen Aussichtsplatz zu verlassen, und eine viertel Stunde später lehne ich wieder gemütlich am Fensterbrett und verfolge das Geschehen. Diese Trauergesellschaft ist einfach zu komisch, um wegzuschauen. Maria scheinen sie so tief begraben zu haben, dass sie gar nicht mehr wissen, weswegen sie zusammensitzen. Inzwischen spielen sie mit dem Gefängniswärter Karten, die Sozialarbeiterin sitzt auf einer Leiche – einem Baumstumpf – und telefoniert immer noch, kichert aber wenigstens nicht mehr.
War Maria fünfeinhalb Monate in der Gerichtsmedizin? Es schüttelt mich bei der Vorstellung und ich schließe nun doch mein Fenster.
*
Fritz hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Das rote Auto mit dem bayrischen Kennzeichen auch nicht, aber die Frau ist da; ob sie es verkauft hat? Verkaufen musste, um den Anwalt für Fritz zu bezahlen? Er dürfte tatsächlich verhaftet worden sein.
Karl ist jetzt ins Ausgedinge gezogen. Also, ich nenne es Ausgedinge, weil Fritz Maria dorthin abschieben wollte, nachdem diese Frau aus Bayern ein Jahr lang alle paar Wochenenden mit ihrem roten Auto gekommen ist, wie am Land die Eltern bei der Hofübernahme durch die Kinder in ein kleines Häuschen ziehen.
Maria habe ich nie freudig auf das Ausgedinge zugehen sehen, sogar aus der Entfernung ließ ihre Körperhaltung mit jedem Fortschritt der Bauarbeiten mehr Traurigkeit, Depression, Nachdenklichkeit erahnen. Damals schon wurde mir klar, dass sich hier ein Drama abspielt, und habe den dreien Namen gegeben. Maria ließ nur mehr alles hängen, ihre Schritte wurden immer langsamer, ihre Haare und ihre Kleidung sogar für mich aus dem dritten Stock sichtbar immer ungepflegter. Meistens um die Mittagszeit ging sie aus dem Haus und über die Zaunsockelstufen, als erwarte sie da drüben ihre Hinrichtung. Wenn es ruhig war, konnte ich hören, dass ihr »Essen ist fertig« klang, als traute sie sich fast nicht zu sprechen. Danach drehte sie um und bewegte sich im selben Tempo zurück in das gelbe Haus. Manchmal kam sie aber auch zu anderen Zeiten, betrachtete hektisch die Baustelle, stampfte leicht mit dem Fuß auf und lamentierte vor sich hin.
Sie wirkte nicht wie eine Frau, die nach dem Verlassen ihres Partners ihr Leben in die Hand zu nehmen und ihre Freiheit zu genießen oder Ausschau nach Ersatz zu halten in der Lage gewesen wäre. Sie machte so einen kaputten Eindruck, dass es wahrscheinlich sogar gut gemeint war von Fritz, sie nebenan wohnen zu lassen.
Warum denke ich schon wieder daran? Warum bin ich nicht einfach froh, dass sie Fritz ohne meine Hilfe verhaften konnten? Wäre mir leichter, wenn ich der Polizei meine Indizien aufgedrängt hätte? Dann müsste ich ja eigentlich Angst haben, dass Fritz sich später rächt. Dabei sind es doch nichts als haltlose Vermutungen aufgrund irrelevanter Beobachtungen. Ich muss einfach versuchen, das alles zu vergessen.
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Der Blick auf das gelbe Haus erzeugt ein schauriges Gefühl in mir. Ich sollte zur Polizei gehen und eine Aussage machen. Aber ich kann mich nicht überwinden, bekomme Angst dabei. Warum haben sie mich nicht gleich befragt? Da hätte ich ihnen erzählt, was ich so alles beobachtet habe und mir zusammenreime. Dann müsste ich mir jetzt keine Gedanken machen und mich überwinden, hinzugehen.
Andererseits … Wer weiß, was dem einfällt, wenn ich aussage. Er kommt ja irgendwann wieder raus. Und er weiß, wo ich wohne. Zumindest, hinter welchen Fenstern, und so ist die Tür nicht schwer zu finden.
Sicher denke mir da zuviel zusammen. Denke? Nein, es ist das Gefühl, das mir sagt: Er hat sie umgebracht. Die lachen mich auf der Polizei ja aus. Was zählt, sind Fakten, keine Gefühle. Genaugenommen kann ich ihnen gar nichts sagen, was für sie wichtig wäre.
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Als ich aus dem Bus steige und den Hof betrete, zucke ich zusammen. Alles ist voll mit Polizisten, mindestens zwanzig Stück. Ich stelle mich, ebenso erleichtert wie nervös, darauf ein, gleich zu den Vorfällen befragt zu werden. Langsamer als sonst gehe ich den langen Weg geradeaus, biege beim Spielplatz rechts ab – niemand spricht mich an. Am Spielplatz befragen die Polizisten eifrig Frauen, die gar nicht auf dieser Seite des Hofes wohnen und so auch nicht hinten in die Gärten sehen. Ich bleibe stehen, warte vier, fünf Minuten, ob mich einer anspricht, dann gehe ich langsam weiter, nach links, an der anderen Seite des Spielplatzes entlang, bleibe noch einmal kurz stehen, drehe mich um, es scheint mich gar niemand wahrgenommen zu haben. Schließlich bin ich bei meiner Haustüre angelangt und verschwinde im Haus.
»Sicher kommen sie gleich und klopfen hier an alle Türen«, denke ich, »sie müssen doch ganz besonders die Leute befragen, von deren Fenstern man einen Ausblick in die Gärten hat.«
Beim Verstauen meiner Einkäufe sehe ich durchs Küchenfenster bereits, dass in den Gärten noch einmal so viele Polizisten verteilt sind und Leute befragen. Kurz darauf öffne ich das Wohnzimmerfenster und schaue ihnen zu. Ich mache bewusst keine Musik und lasse die Zimmertür offen, damit ich es nicht überhöre, wenn es klopft oder läutet, doch es tut sich nichts.
Warum sie wohl gerade heute kommen, drei Tage nachdem es passiert ist? Ist Maria jetzt gestorben? Würde so ein Aufwand betrieben, wenn sie nicht tot wäre?
Irgendwann wird es mir zu langweilig, ich setze mich vor meinen PC und rufe meine Mails ab. Bei einem Blick auf kurzgeschichten.de übersehe ich die Zeit, und als ich wieder nach den Polizisten Ausschau halte, sind sie fort. Warum haben sie nicht angeklopft, sondern befragen Leute, die gar nichts gesehen haben können? Sind unsere Polizisten wirklich so intelligent?
*
Die Uhr auf meinem Bildschirm zeigt drei Uhr achtundzwanzig, ich habe wieder einmal viel zu lang geschrieben. Während ich lüfte, füge ich noch einen Absatz hinzu. Es ist mild, hat fast fünf Grad, das Fenster kann ruhig ein bisschen offen bleiben.
Ein Geräusch bringt mich dazu, meinen Blick wieder vom Bildschirm loszureißen, es ist fast vier Uhr. Schnell bin ich beim Fenster und sehe, wie Fritz mit einer Kiste voller Sachen durch die Gartentür huscht und sie in ein dunkelblaues Auto räumt, das direkt davor bereitsteht. Er steigt ein und fährt davon.
Er ist doch sonst nicht nachtaktiv. Und wo hat er das Auto her?
Eigentlich ist mir inzwischen saukalt, aber ich möchte hören, wann er wiederkommt, und lasse das Fenster offen, ziehe warme Socken und einen zweiten Pullover an und setze mich wieder vor meinen PC. Leise, nur auf Geräusche von draußen achtend. Eine halbe Stunde später höre ich ein ganz leises Scheppern und bin sofort beim Fenster: Fritz sperrt die Gartentür auf; hat keine Kiste mehr bei sich. Auch das Auto sehe ich nirgends.
Was kann man mitten in der Nacht – einen Tag nach diesem schrecklichen Vorfall – so eilig wegbringen müssen, wenn nicht irgendwelche Beweise? Hoffentlich hat er mich nicht bemerkt. Ich traue mich nicht, das Fenster zu schließen, um seine Aufmerksamkeit nicht durch ein Geräusch zu erregen.
Fritz dreht nicht einmal das Licht auf, als er im Haus verschwindet. Alle schlafen friedlich, die ganze Nacht.
*
Mein Fenster ist offen und ich bin dabei, die letzten Sätze für heute zu schreiben. In der Nacht fließen die Worte einfach am besten. Wenn kein Telefon läutet, niemand etwas von mir will, nichts zu erledigen ist, absolute Stille herrscht.
Da höre ich wieder diese Katzenlustschreie. Das war ja schon drei Jahre nicht mehr der Fall! Ich freue mich, dass sie ihren Spaß haben, wundere mich über die Zeit, es ist kurz nach halb sechs. Und dann auch noch bei der Kälte, es ist der sechste Jänner; die haben es wohl sehr notwendig gehabt. Ich schmunzle und schüttle den Kopf.
Im Zimmer ist es schon eiskalt, doch ich kann mich nicht von den Tasten lösen. Wärme meine Hände zwischendurch an meinem Teehäferl. Und plötzlich beginnen die Schreie noch einmal – leiser diesmal, dafür länger … es hört gar nicht auf. Wow, haben die heute einen intensiven Orgasmus, denke ich und lache dabei, und dann bin ich schon am Fenster.
Ich sehe, dass die Schreie nicht von den Katzen kommen. Was ich sehe, ist Maria, ihr Kopf vollständig fest eingebunden, und was ich höre sind Todesschmerzen. Sie liegt auf einer Bahre und wird gerade zu einem Rettungsauto gebracht. Immer noch die selben hohen Schmerzlaute. Mir wird übel.
In der Tür stehen Fritz und diese Frau. Seltsam, dass der rote Golf mit dem bayrischen Kennzeichen heute nicht wie sonst in der Einfahrt steht. Sie hebt plötzlich ihren Blick, als wollte sie kontrollieren, ob auch wirklich niemand zusieht, und trifft direkt in meine Augen. Kurz hält sie an, bevor sie die restliche Fassade absucht.
Die beiden sind auffällig gut gekleidet. Fritz habe ich bisher noch nie in etwas anderem als Arbeitskleidung gesehen, und plötzlich trägt er um dreiviertel sechs in der Früh eine braune Stoffhose und einen Norweger-Pullover, darunter ein weißes Hemd. Sein stets ungepflegter Bart ist rasiert, die schulterlangen, ausgefransten Haare einige Zentimeter kürzer. Ordentlicher Eindruck. Auch diese Frau wirkt nicht so, als wäre sie gerade frisch geweckt, sondern sieht in ihrem grünen Kleid aus, als wollte sie ausgehen. Oder zumindest einen Grund zum Feiern haben.
Nachdem ein Sanitäter Fritz zum Mitfahren auffordert, zuckt dieser erst kurz mit den Schultern, bevor er sich in Bewegung setzt. Während ich beim weiteren Einladen Marias zusehe, beginnen meine Gedanken im Kreis zu fahren. War es ein Selbstmord? Dann würden Fritz und diese Frau doch nicht so vorbereitet wirken. Sie wären erwacht, hätten sich um Maria gekümmert und keine Zeit für ihr sauberes Auftreten gehabt. Haben sie sie umgebracht? Mir fällt ein, dass eine meiner Geschichten »Das große Morden vor meinem Fenster« heißt – der Gedanke, ich könnte mit dem Titel den Mord an Maria vorausgesagt oder sogar heraufbeschworen haben, setzt sich immer mehr fest. Ich lehne wie versteinert am Fenster, fühle mich nicht nur wegen der Kälte wie ein Eisklumpen. Die Rettung fährt ab. So leise, wie sie gekommen ist. In Marias Schreien habe ich gehört, dass sie es nicht überleben wird. Katzenlustschreie … Todesschreie. Warum hab ich damals nur diese blöde Geschichte geschrieben?
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