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Kauen
Ich habe es kommen sehen, könnte ich sagen. Wäre ein guter Anfang. Tatsächlich wäre es aber gar nicht wahr. Es hat sich einfach so ergeben. Ich grüßte artig, lächelte wohlerzogen, lachte an den richtigen Stellen, war stets zuvorkommend und höflich. Ja - auch liebenswert. Und stets nett. Sie kennen das sicher. Ihr Berater in der Bank, Ihr Autoverkäufer, Ihr Immobilienmakler, Ihr Versicherungsvertreter, die McDonalds Angestellten - Sie wissen schon.
Ich interessierte mich pflichtbewusst für die großen Themen der breiten Masse: Mode und Sport. Legte mir ein adäquates Hobby zu. Und eine Wohnung. Ich führte mit Freunden zahme politische Diskussionen - eben im vorgeschriebenem Rahmen, ließ mich von den Medien manipulieren.
Und fühlte mich seltsam unwohl. Später wurde ich mir einer inneren Leere bewusst. Verspürte unbestimmt ein Gefühl von tiefer Trauer, dann ungerichtete Wut. Ich schrie beim Autofahren. Bekam zuviel Adrenalin. Wutanfälle bei Kleinigkeiten. Einer Fliege, die wiederholt auf meinem Arm landete beispielsweise.
Ich begann die Lampen der Umgebung zu zerstören - das half. Eine Zeit. Meine Wut holte mich ein. Eines Tages zog ich mein Auto einfach auf die linke Fahrspur und wieder zurück- ergötzte mich an den erschrockenen Gesichtern der entgegenkommenden Fahrer. Das half. Ich tat es noch einige Male. Blieb auf der anderen Spur. Meine Wut holte mich ein. Ich begann nach kleinen Hunden und Katzen zu treten - doch verspürte keine Befreiung, keine Erleichterung. Stattdessen schrie ich wildfremde Menschen auf der Strasse grundlos an. Fühlte mich wieder wohl. Ich musste sogar lächeln. Eines Abends verwickelte mich aus diesem Grund jemand in eine Schlägerei. Ich ließ komplett los. Steckte viel ein und teilte viel aus. Das half. Ich rief daraufhin jeden an, der mir einfiel, der mich je genervt hatte - und schrie ihn an, ich wolle mich prügeln. Viele legten auf. Ich fuhr zu ihnen hin. Läutete Sturm. Schlug ihnen ins Gesicht. Spürte die harten Knochen an den aufgeplatzten Knöcheln. Irgendwann rief jemand die Polizei. Holte mich aus der Arbeit - ich würde sie wohl verlieren. Doch irgendwie war mir das gleichgültig.
Jetzt sitze ich hier. Schreibe dieses Tagebuch. (Ich habe eines begonnen, weil mir das der gerichtlich verordnete Geistesklempner vorschlug.)
Es hilft nicht.
Ich habe meine Wohnung aufgegeben. Habe ich das erwähnt? Ich lebe jetzt ohne Geld zu brauchen. Vielleicht sind Sie an mir vorbeigegangen. An dem schlafenden Mann im Torbogen der Fabrik da. Nehmen Sie sich in Acht!
Ich habe mir eine Waffe besorgt. Sehen Sie das schwarz lackierte, matt spiegelnde Metall? Eine P1-Walter. Deutsche Armeewaffe von einem Russen, der mein letztes Geld nahm. Habe damit gestern wahllos von unserem Aussichtsturm hier in der Stadt in die Menge geschossen. Das half. Muss mir heute einen andren guten Platz suchen, sie haben den Turm gesperrt. Werd schon was finden. Munition habe ich noch genug.