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Kaugummi
In den Sommerferien nach der sechsten Klasse beschlossen meine Eltern, mich in ein Ferienlager zu schicken.
„Mensch, ich beneide dich!“, sagte meine Mutter mit verträumtem Blick. „Zwei Wochen lang am See! Sonne, Wald und Abenteuer!“
Warum fuhr sie dann nicht selbst? Ich legte überhaupt keinen Wert darauf, mit zehn hinterlistigen und hormonell aufgeladenen Zwölfjährigen in einem muffigen Zimmer zu wohnen und mir Sand ins Bett streuen zu lassen.
Aber ich wurde nicht gefragt.
Am Tag der Abreise brachten mich meine Eltern zum Bahnhof und übergaben mich an Angelika, meine Gruppenleiterin. Sie war eine Studentin mit Nickelbrille und Jesuslatschen, deren längliche Brüste wie zwei Füllhörner unter dem ausgewaschenen T-Shirt baumelten. Angelika rauchte eine nach der anderen und sah aus, als wäre sie lieber sonstwo auf der Welt.
„Vergiss nicht, abends immer deine Zahnspange zu putzen!“, sagte meine Mutter beim Abschied.
Ich nickte mit hochroten Ohren. Das Mädchen neben mir kicherte so leise, dass nur ich es hörte. Ihre Eltern waren schon längst verschwunden und sie taxierte alle Neuankömmlinge mit prüfendem Blick.
„Ich bin die Petra“, sagte sie zu mir, „aber du kannst mich Pepsi nennen!“
„Pepsi“, wiederholte ich lustlos. Ich konnte Leute nicht ausstehen, die einem ungefragt ihren albernen Spitznamen aufdrückten. Als zwei neue Mädchen auftauchten, ließ sie mich sofort links liegen. Die eine hieß Dorit und lachte bei jeder Gelegenheit, die andere nannte sich Sanni und musterte verächtlich meinen grünen Wanderrucksack. Eine nach der anderen trudelten meine „neuen Freundinnen“ ein, wie meine Mutter sie in ihrer totalen Ahnungslosigkeit bezeichnet hatte. Zum Schluss kam noch eine namens Franziska Friedrich.
„Alle da?“, fragte Angelika. Sie guckte verschlafen in die Runde. Ja, wenn sie es nicht wusste, wer dann? Ich ging zum Bus wie zum Schafott.
„Schon besetzt!“, zwitscherte Pepsi und hielt die Hand auf den freien Sitz neben sich, als ich mich an ihrem Platz vorbeischob.
Ich schmiss mich in eine Reihe weiter hinten und beobachtete, wie sich der Bus mit drängelnden und lärmenden Kindern füllte. Einige packten, kaum dass sie saßen, ihren Proviant aus und es roch nach Leberwurstbroten und gekochten Eiern.
„Das sieht so süß aus!“, konnte ich immer wieder Pepsis schrille Stimme von vorn hören. Sanni oder Dorit zeigte ihr ein Heft mit eingeklebten Fotos.
Franziska ließ sich so geräuschlos neben mir nieder, dass ich sie erst ein paar Sekunden später bemerkte.
„Hallo!“, hauchte sie. Sie zerrte am Reißverschluss ihrer Tasche und riss sich ein Stück Fingernagel ab.
Ein Blick genügte. Franziska Friedrich war das geborene Opferlamm. Scheu und huschig, zu blöd, ihre Tasche aufzumachen und außerdem noch mit Raffzähnen geschlagen.
Und wie es aussah, hatte sie mich gerade zur Freundin erkoren. Nun, das konnte sie vergessen!
Ich schloss die Augen.
Heilige fremde Macht, an die ich eigentlich nicht glaube, bewahre mich vor Stumpfsinn, Verblödung, Nachtwanderungen und Mädchen, die sich nach koffeinhaltigen Getränken benennen. Und lass die zwei Wochen schnell herumgehen ...
Obwohl ich auf das Schlimmste gefasst war, übertraf Pepsi meine kühnsten Vorstellungen. Ich konnte mich nicht entscheiden, was schrecklicher war – ihre quiekende Befehlsstimme, ihre einschmeichelnde Art, mit der sie die anderen umgarnte oder die Raffinesse, mit der sie Franziska Friedrich drangsalierte.
„Oh, Franziska, deine Schuhe!“, sagte sie zum Beispiel und hielt den Atem an – gerade lange genug, um die ergeben dastehende Franziska in der winzigen Hoffnung zu baden, dass ihre ausgelatschten Treter vielleicht ein einziges Mal in ihrem Leben bei anderen Anklang finden würden.
„ … würde ich nie anziehen!“, vollendete Pepsi dann ihren Satz und ging hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer, gefolgt von ihrem Fußvolk, das vor der Tür in hysterisches Gelächter ausbrach.
Angelika war viel zu sehr damit beschäftigt, sich von Ronny, dem Rettungsschwimmer, das Batikhemd hochschieben zu lassen und bekam von all den Sticheleien kaum etwas mit.
Wenn wir schwimmen gehen sollten, war Franziskas Badeanzug regelmäßig verschwunden und acht teuflische Augenpaare beobachteten sie bei ihrer hilflosen Suche. Ihr aschgrauer, zerflederter Teddy steckte jeden Abend woanders, manchmal im Mülleimer, manchmal im Brombeerbusch hinter dem Bungalow. In ihrer Seifendose lag ein Regenwurm, ihre Schlüpfer hingen im Gebüsch vor dem Jungsbungalow und ihr Federhalter, das einzige gute Stück, das sie besaß, verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Mit ihr konnte man es machen, weil sie sich nie wehrte. Sie hatte keine Freunde und niemanden, der sie beschützte. Sie bekam ja nicht einmal Post!
Unbegreiflicherweise erhielt das Scheusal Pepsi jede Menge Post und bereits nach sechs Tagen ein Paket.
„Ui“, sagte sie mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen. „Lauter leckere Sachen!“
Sie wühlte in dem Paket herum wie ein irrer Chirurg und zog ab und zu etwas Grellbuntes ans Licht, um daran zu schnuppern, es zu bewundern und erregt wieder hinein zu werfen.
Ihr Hofstaat hatte sich um sie versammelt und beobachtete sie mit lechzenden Mäulern. Zum Mittagessen hatte es undefinierbare Fleischbatzen und Rohkostsalat gegeben. Erst in zwei Tagen würden wir wieder in die Stadt kommen, um Süßigkeiten zu kaufen.
„Hmmm!“, machte sie glücklich. „Bubble Gum!“ Sie nahm ein kleines rosa Päckchen und verteilte je einen Kaugummi an Sanni und Dorit. Die anderen standen mit langen Gesichtern daneben.
„He, Franziska“, rief sie auf einmal. „Wann bekommst du denn dein Paket?“
Franziska starrte an die Wand und antwortete nicht.
„Haben deine Eltern kein Geld? Oder sind sie froh, dass sie dich mal los sind?“
Sanni und Dorit lachten meckernd und Pepsi sah sich beifallsheischend um.
„Die schreiben dir ja nicht mal! Warum denn nicht? He, Franziska? Warum schreibt dir dein Papa keinen Brief?“
Franziskas Antwort war so leise, dass man sie mehr erahnen als verstehen konnte.
„Mein Vati ist tot.“
Ich hatte das Gefühl, als ob mir jemand einen schweren Stein auf die Brust drückte.
Sanni und Dorit kauten mit offenem Mund. Keiner wusste, was er sagen sollte. Bis auf Pepsi.
„Geil!“, sagte sie. „War wohl schon uralt, dein Papi, was?“
Franziska reagierte nicht.
„Hör auf“, sagte ich. Wo war Angelika, die Schlampe?
Verlegen drehten sich einige Mädchen weg. Pepsi begann, mit den Fingern an ihr Bett zu trommeln und summte dazu. Plötzlich fing sie an zu singen: „Franziskas Vater ist tot, er war schon faltig und alt, nanananananana, jetzt ist er tot und eiskalt …“
Erwartungsgemäßes brach Dorit in lautes Gelächter aus. Franziska saß da wie eine Steinstatue. Ich ging wütend aus dem Zimmer.
Nachts wachte ich auf, weil ich aufs Klo musste. Normalerweise rannten wir alle zwischen 20.00 und 22.00 Uhr mindestens zehnmal aufs Klo - es war schließlich der Höhepunkt des Tages, mit wehendem Nachthemd durch die Dunkelheit zu flattern und vielleicht sogar auf ebenso nachtwandelnde Jungs zu treffen. Aber heute hatte ich keine Lust gehabt und so getan, als ob ich lesen wollte.
Auf meiner Armbanduhr war es um drei Uhr morgens. Als ich aus dem Bungalow taumelte, konnte ich einen Blick auf Angelika werfen, die in einem kleinen Verschlag neben unserem Zimmer schlief. Sie lag mit offenem Mund im Bett und sah aus wie ermordet.
In pechschwarzer Dunkelheit stolperte ich den Waldweg entlang zu den Waschräumen. Dort brannte ein einsames Lämpchen und da, im Niemandsland zwischen Mädchen - und Jungsklo, saß Franziska Friedrich und weinte.
„Franziska“, rief ich leise. Sie sah mit tränenverschmiertem Gesicht zu mir hoch.
„Komm doch wieder rein“, sagte ich hilflos. „Hier ist es doch kalt.“
Franziska stand sofort auf und folgte mir. Sie schien überhaupt keinen eigenen Willen zu haben. Wir sprachen kein Wort und als wir wieder ins Zimmer schlüpften, stieß ich mit dem Fuß gegen etwas Hartes.
Pepsis Paket.
Ich griff mir die Kiste und holte wahllos eine Handvoll heraus. Franziska sah mich mit erschrockenen Augen an. Es war Kaugummi. Ich kippte ihr die Hälfte hin und wickelte meinen Teil aus. Ohne nachzudenken stopfte ich mir die rosa Masse in den Mund und fing an, darauf herumzukauen. So mitten in der Nacht schmeckte es seltsam, viel zu aufdringlich und zu süß, wie etwas, das nicht in dieses schreckliche Ferienlager gehörte, wie eine Substanz aus dem All.
Franziska und ich kauten schweigend riesige Klumpen von Kaugummi. Sie lächelte mich schüchtern an. Mir tat schon der Kiefer weh und ich zog die Gummimasse aus meinem Mund.
Das war ja alles gut und schön, aber wohin damit? Im Papierkorb würde sie es sofort finden.
Aber warum eigentlich auch nicht? Doch als ich Pepsi, alias Petra, in ihrem Doppelstockbett liegen sah, hatte ich eine bessere Idee. Ich streckte die Hand nach Franziskas Kaugummi aus und machte aus meinem und ihrem eine riesige, klebrige Masse.
Und dann rieb ich sie sorgsam und methodisch in Pepsis blonde Haare. Strähne für Strähne umschmierte ich mit Kaugummi, verteilte noch ein paar Tupfer auf ihrer Kopfhaut am Scheitel entlang und wuschelte ihr ein kleines Kaugumminest am Hinterkopf zurecht.
Pepsi schnarchte und bewegte sich nicht einmal. Dann verstreute ich die Kaugummipapiere in ihrem Bett und stellte das Paket wieder an seinen Platz.
Franziska grinste mich an.
In diesem Moment sah sie fast hübsch aus.