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Kein Recht auf Lebenslänglich?
»Frau Susanne Verna?«
Sie nickt stumm. Hübsch sieht sie aus, trotz ihrer verquollenen Augen. Die dunklen Haare trägt sie mit einem Gummibad hinten zusammengebunden.
»Mein Name ist Uhlig. Ich wurde gebeten, Sie zu vertreten.«
Sie lächelt unsicher und streckt mir ihre Hand entgegen: »Können Sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren?«
»Jeder hat in unserm Land das Recht auf Verteidigung.«
Eine Floskel, mit der ich ihr ausweiche. Ein Grundsatz, der mich auf die Probe stellt. Wen habe ich erwartet, vor mir zu sehen?
»Ja, ich kann es mit meinem Gewissen vereinbaren.«
Sie lächelt nicht mehr, schaut mich nur unverwandt an.
»Ich muss Sie zunächst bitten, mir ein paar Vollmachten zu unterschreiben.« Je eher wir die Formalitäten hinter uns haben, um so besser. Aber im Moment geben die Formulare mir Zeit. Ich breite die vorbereiteten Zettel vor ihr aus und drücke ihr einen Stift in die Hand. »Lesen Sie es in Ruhe durch«, fordere ich sie auf. »Wenn Sie etwas nicht verstehen, fragen Sie!«
»Sie haben schöne Hände«, stellt sie fest, nimmt eines der Papiere und überfliegt es, bevor sie es unterschreibt.
»Danke.«
»Hände sind für mich wichtig, wissen Sie. An den Händen erkenne ich, ob ich jemandem vertrauen kann.«
Ich muss mich beherrschen, sie anzuschauen, nicht verlegen auf den Boden. Ich brauche ihr Vertrauen, wenn ich sie verteidigen möchte. Und doch ist es mir unangenehm, von ihr ein Kompliment zu hören.
»Nicht das Gesicht?«, frage ich. Sie sammelt die unterschrieben Zettel zusammen, und stößt den Stapel noch einmal mit den Kanten auf den Tisch, damit er gerade ist, bevor sie ihn vor mich hinlegt. Den Stift drapiert sie schräg darauf.
»Gesichter können lügen«, erwidert sie und schaut mir dabei in meines. Kann sie eine Lüge darin entdecken?
Ich bedanke mich und stecke die Formblätter in die Aktentasche. Ich kann ihr nichts entgegnen.
»Was haben Sie vor?«, möchte sie wissen und schaut mich dabei an, während sie sich eine Zigarette anzündet.
»Das möchte ich mit Ihnen besprechen.«
»Sie wissen, dass ich schuldig bin?« Langsam und ruhig bläst sie den Rauch in den Raum.
Ich nicke. »Erzählen Sie mir von sich, Frau Verna«, bitte ich sie, »von sich und von Calvin. Wie haben sie gelebt, welche Arbeit hatten Sie? Fangen Sie an, wo Sie wollen.«
»Haben Sie Kinder?«
Ich muss lächeln. Ich muss immer lächeln, wenn mich jemand nach Jacob fragt. Es ist so schön, dass er bei uns ist.
»Sie haben Kinder«, stellt sie fest. »Es ist schön zu sehen, wie Sie strahlen, wenn Sie an sie denken.«.
»Ich habe einen Sohn.«
Frau Verna nimmt einen weiteren Zug der Zigarette und wartet, bis der Qualm aus ihrem Mund entwichen ist.
»Manchmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, konnte ich auch so lächeln wie Sie. Calvin hatte schon den Tisch gedeckt, hatte das Abendbrot bereitet und mich mit einer Umarmung empfangen. Er konnte so rührend sein.«
Sie stockt, weiß nicht weiter, aber sie lächelt wehmütig in ihrer Erinnerung.
»Was haben Sie gearbeitet?«
Ihre Versunkenheit irritiert mich. So hatte ich mir die Frau nicht vorgestellt. Still leuchtet sie in ihrer Erinnerung, vergisst die Zigarette in ihrer Hand und schreckt plötzlich auf.
»Wie bitte?«
»Was Sie gearbeitet haben?«
»Ich war Friseuse.«. Wie zur Bestätigung drückt sie die Zigarette aus und fährt sich mit den Händen durch das Haar. »Ich habe es gern getan«, erzählt sie und lacht dabei. »Es brachte mir Spaß, den Männern den Kopf zu waschen. Aber der Verdienst ist lausig, selbst wenn man das Trinkgeld dazu nimmt. Vom Sozialamt hätte ich mehr bekommen.«
Nein, ich kann sie nicht fragen, warum sie gearbeitet hat.
»Wissen Sie«, fährt sie fort, »ich habe mich manchmal gefragt, warum ich das mache. Ich hätte so viel Zeit mit Calvin verbringen können. Aber ich wäre nie aus dem Haus gekommen. Ohne die Abwechslung im Salon …« Sie hält inne und schaut mich an. »Erzählen Sie mir von Ihrem Sohn. Wie heißt er?
»Jacob.« Vielleicht ist es gut, wenn ich ihr von ihm erzähle. »Er ist vier Jahre alt. Ein richtiger kleiner Racker.«
»Sie scheinen sehr stolz auf ihn zu sein.«
»Oh ja. Das bin ich«, sage ich und lächle sie an. Sie lächelt zurück.
»Das spürt man.« Eine weitere Zigarette, die sie sich anzündet und von der sie drei Züge inhaliert, bevor sie fortfährt. »Ich war auch stolz auf Calvin. Es ist wohl schwer, das nachzuvollziehen, aber ich bin es noch. Nur manchmal, wenn ich meine Einsamkeit drückend aus dem Salon mit nach Hause trug, wenn ich morgens schon beim Sozialamt war, weil der Lohn für uns nicht reichte, wenn der Tag einfach beschissen war, konnte ich den Stolz nicht spüren. Ich kam nach Hause, sah Calvin vor dem Fernseher sitzen und es war nichts gemacht. Der Abwasch war nicht erledigt, der Müll nicht runter gebracht und die Sonne kam vor Dreck kaum noch durch die Fenster. Wie hätte ich da stolz sein können?«
Möchte sie wirklich eine Antwort von mir? Sie schaut mir ins Gesicht, dann auf die Hände und zieht an ihrer Zigarette.
»War es so ein Tag?« frage ich in die Pause.
Die Zigarette glüht heiß, so angespannt, wie sie daran zieht. Sie scheint die Frage nicht gehört zu haben, aber vielleicht ist es besser, sie einfach erzählen zu lassen. Sie schluckt ein bisschen, drückt die Zigarette aus und schaut mich wieder an.
»Ihr Sohn muss bestimmt nicht im Haushalt helfen.«
»Wenn er älter ist«, nicke ich ihr zu und schäme mich für mein Glück. »Ganz sicher wird er helfen müssen, wenn er älter ist.«
Ihre Blicke verunsichern mich. Ich kann meine Hände nicht ruhig halten, falte sie, als wollte ich beten und drehe die Finger unruhig ineinander.
»War es so ein Tag, Frau Verna?«
Sie nickt. »Sein Vater war morgens im Salon. Er bestand darauf, dass ich ihm die Haare schneide. Er sagte kein Wort, schaute mich nur an durch den Spiegel und verfolgte jede meiner Bewegungen. Er hatte die Hände auf dem Schoß zu Fäusten geballt. Große Fäuste, die ich gut kannte.«
Sie zieht hoch, so als flössen die Tränen aus der Nase. Ihre Augen sind feucht, aber sie weint nicht. Nur ihre Hände zittern leicht, als sie sich die nächste Zigarette anzündet.
»Er hat Sie geschlagen?«
Energisch schüttelt sie den Kopf. »Schon lange nicht mehr. Nicht, seit wir geschieden sind.« Der Rauch ist ihre Atempause, die Ruhe, die sie sich gönnt. Ähnlich wie die Fragen nach Jacob, die sie immer wieder stellt. »Haben Sie Jacob je geschlagen?«
Ich mag den Kopf nicht schütteln. Wie ginge es mir, wenn ich Jacob alleine großziehen müsste?
»Nein. Ihre Hände schlagen nicht.«
Spürt sie, wie ich erleichtert ausatme, als hielte ich die Zigarette in der Hand?
»Was ist dann passiert, Frau Verna?«
Einen Zug nimmt sie sich Zeit, bevor sie antwortet.
»Es war viel zu tun. Manchmal schickte die Chefin mich nach Hause, wenn er da war. Aber an dem Tag konnte sie es nicht. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, und den Kunden nicht auf die Hände zu schauen. Es gelang mir ganz gut. Ich habe niemanden verschnitten.«
Mir schaut sie fast nur auf die Hände, so als erzählt sie ihnen die Geschichte. Nur wenn sie nach Jacob fragt, hebt sie den Kopf und lächelt mich an. »Schneidet ihre Frau Jacob die Haare? Es gibt hier einen Salon, in dem ich eventuell bald arbeiten kann. Vielleicht kommen Sie dann mal mit ihm vorbei?«
»Das wird nicht gehen.« Es ist gut, sich in Realitäten flüchten zu können, darauf hinzuweisen, dass der Gefängnissalon nicht öffentlich ist. »Noch schneidet meine Frau ihm die Haare«, antworte ich Frau Verna und füge mit einem Lächeln hinzu: »Die Frisur ist ihm noch nicht wichtig.«
»Das kommt noch.« Ihre Augen leuchten warm und liebevoll, wenn wir von meinem Sohn sprechen, ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte.
»Bestimmt.«
»Calvin hatte mir versprochen, die Wäsche im Garten aufzuhängen, nachdem er aus der Schule wäre. Aber als ich nach Hause kam, lag sie noch feucht in der Waschmaschine und Calvin war nicht da. Nur sein Rucksack mit den Büchern lag in seinem Zimmer. Ich hätte mich so gerne bei ihm ausgeweint, ihm erzählt, dass sein Papa da gewesen ist. Stattdessen musste ich kochen, die Wäsche aufhängen, und wusste nicht mal, ob er Hunger haben würde, wenn er zurückkäme. Er hatte mir keinen Zettel hingelegt. Keine Notiz, wo er war und wann er kommen würde.« Nur kurz nimmt sie den Blick von meinen Händen, als sie die Zigarette ausdrückt und sich gleich eine neue anzündet. »Er wusste genau, dass ich es hasste, wenn er mir nichts hinterließ.«
»Hatte er kein Handy?« Ich beiße mir auf die Lippen. Kurz wirft sie mit einer Kopfbewegung den Zopf zurück.
»Sie haben vielleicht Vorstellungen.« Zum ersten Mal fährt sie mich energisch an. »Wovon hätten wir uns das denn leisten sollen?«
Jetzt schaue ich auf meine Hände, auf die Finger, wie sie sich verknoten. »Entschuldigen Sie bitte«, murmle ich und bemühe mich, ihr wieder ins Gesicht zu sehen.
»Ich wusste nicht, wo er war. Ich rackerte von morgens bis abends für ihn und er hielt es nicht einmal für nötig, mir eine Nachricht zu hinterlassen. Mit jedem Stück Wäsche, dass ich auf die Leine hing, brachte ich mich mehr in Rage.« Einen Zug Pause, ein paar Kringel zur Beruhigung, denen sie nachschaut, wie verpassten Chancen. »Kann Jacob Sie so in Wut versetzen? Können Sie sich das vorstellen?«
»Wenn ich Angst um ihn habe.« Braucht sie die Bestätigung? Möchte sie wissen, ob ich sie verstehe? Oder will sie sich weh tun mit den Vergleichen?
Ihre Schachtel ist leer. Sie zerknüllt den Karton in ihren Händen und schaut mich Hilfe suchend an.
»Ich bin Nichtraucher.« Beim nächsten Besuch werde ich Zigaretten dabei haben.
»Als er nach Hause kam, war er betrunken. Er war vierzehn. Und er war sternhagelvoll. Wie sein Vater, wenn er mich geschlagen hat. Ich wollte meine Wut loswerden, wollte in Ruhe mit ihm reden, aber er beugte sich nur über die Toilette und kotzte alles vorbei. Noch mehr Arbeit. Der ganze Schweinkram blieb an mir hängen. Und wenn ich etwas sagte, blubberte er mich an, stützte sich an unserem Schrank ab, um nicht den Halt zu verlieren, und fragte, ob ich was zu fratzen hätte.«
»Zu fratzen?«
»Zu essen. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass er es so nannte. Aber in dem Moment konnte ich es nicht ertragen. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, die Wäsche aufgehängt, obwohl er versprochen hatte, es zu tun, und ich habe gekocht. Und er trat meine Liebe mit Füßen, so wie alle sie immer mit Füßen getreten haben. Er kotzte mir das Badezimmer voll. Fratzen klang nach Fraß. Es wäre egal gewesen, was ich ihm vorgesetzt hätte. Er torkelte vom Schrank zur Küchentür, baute sich darin auf und wiederholte die Frage. Da sah ich seine Hände, große schmutzige Hände, die sich am Türrahmen zu Fäusten ballten. Und ich sah seine Vater in ihm. Er erinnerte mich so sehr an seinen Vater.«
Sie rotzt nicht mehr nur hoch, sie schluckt nicht mehr nur. Jetzt laufen Tränen aus ihren Augen, während sie auf meine Hände starrt. Und ich schaue unsicher, ob sie sauber sind oder ob Dreck unter den Fingernägeln steckt. Es sind kleine Hände, die noch nie körperlich arbeiten mussten.
»Sieht Jacob Ihnen ähnlich?«
»Nein.« Wem von uns sieht er ähnlich? Wessen Züge trägt er? »Er hat die Augen meiner Frau. So warm und dunkelbraun, dass sich die Liebe der Welt in ihnen spiegelt.«
»Schön, wie Sie das sagen.« Sie versucht, ihre Tränen mit einem Lächeln fortzuwischen und fährt sich mit dem Ärmel über die Augen. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht mit meiner Flennerei nerven.«
»Es ist in Ordnung.«
Sie nimmt die zerknüllte Zigarettenschachtel in die Hand, schaut in ihrer Tasche, ob sie nicht doch noch eine Packung findet und zuckt resigniert mit den Schultern.
»Sie haben wirklich keine?«
Ich schüttle den Kopf.
»Ich hatte die Pfanne in der Hand. Eine schwere Eisengusspfanne, die ich auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Er stand im Eingang, die riesigen Hände am Türrahmen, grinste und lallte. Er war nicht mehr Calvin, verstehen Sie? Er war sein Vater. Und als er mit den geballten Fäusten auf mich zukam, war es wie ein Reflex.«
Sie beobachtet, ob meine Hände sich noch bewegen. Vielleicht ermisst sie daran, ob ich ihr noch zuhöre.
»Ich wollte ihn nicht umbringen. Das müssen Sie mir glauben. Aber als er immer näher kam, hatte ich Angst. Die Pranken zu Fäusten geballt, das Grinsen. Er würde mich schlagen. Das wusste ich. Da habe ich mit der Pfanne nach ihm geworfen. Er war viel zu betrunken, ihr auszuweichen.«
Wieder der Ärmel, mit dem sie sich die Tränen abwischt. Ich suche nach einem Taschentuch. Wieso habe ich keines dabei? Sonst habe ich immer welche. Hatte ich geglaubt, solche Frauen haben keine Tränen? Ihre Hände suchen nach meinen. Wenn schon keine Zigaretten da sind, brauchen sie einen anderen Halt.
»Er hat geschrien, aber er fiel nicht. Er raste auf mich zu, jagte mich um den Küchentisch, versuchte, mich festzuhalten, meine Hände zu fassen zu bekommen und ich rutschte auf dem heißen Essen aus. Als ich auf dem Boden lag, stürzte er sich auf mich, kniete auf mir und immer wieder griff er nach meinen Handgelenken. Er war nur zu betrunken, um sie zu halten. Und als ich mich unter ihm wand, hatte ich plötzlich die Pfanne wieder in der Hand. Ich wollte doch einfach nur Ruhe.«
»Hat er Sie geschlagen?«
»Ist das wichtig?« Ihre Finger krallen sich in meiner Hand fest.
»Nein«, antworte ich. »Heute ist es noch nicht wichtig. Wenn ich auf Notwehr plädiere, könnte es wichtig werden.«
»Tun Sie das nicht.« Noch laufen ihre Tränen übers Gesicht. Jetzt, da sie meine Hände spüren kann, schaut sie mir ins Gesicht. »Gibt es kein Recht auf lebenslänglich? Ich habe ihn umgebracht.«
Ich möchte widersprechen, aber wenn ich in ihr Gesicht schaue, wenn ich ihn ihrem Blick die Eindringlichkeit ihrer Frage lese, wage ich es nicht.
»Darüber reden wir beim nächsten Mal.« Haben wir Anwälte nur gelernt zu vertrösten? Ich löse meine Hände und erhebe mich. Es wird Zeit. Das Gespräch hat uns bestimmt beide Kraft gekostet.
»Haben Sie ein Foto von Jacob dabei?« Sie versucht nicht mit den Händen, mich aufzuhalten. Nur ihre Frage enthält ein bisschen den Wunsch nach Wärme. »Bestimmt haben Sie eines in der Brieftasche, so stolz, wie sie auf ihn sind.«
Ich lächle sie an. »Natürlich habe ich ein Foto von ihm dabei.«
»Zeigen sie es mir?«, bittet sie. Ich ziehe das Bild hervor und reiche es ihr. Sie schaut es an, erstrahlt und blickt mir ins Gesicht. »Er ist ein Mongo?«, entfährt es ihr. Schnell beißt sie sich auf die Zunge und wendet sich ab. »Verzeihen Sie. Das war dumm.«
»Es ist in Ordnung«, antworte ich, reiche ihr die Hand zum Abschied und schäme mich für mein Glück.