Keine Chance !
Keine Chance !
„Wir sind doch beide noch jung, sind nicht mal mit der Schule fertig. Wir werden noch so viele Menschen kennen lernen.“ Das waren die Worte mit denen ich dich zu trösten versuchte. Habe deine Hand gehalten, dich in den Arm genommen, dir über den Kopf gestreichelt als du dich bei mir ausgeweint hast. Er war dein erster Freund und du warst so verliebt. Wusstest nicht, dass er anders fühlt. Er war älter und erfahrener als du. Als er mit dir schlafen wollte und du ihn um etwas mehr Zeit gebeten hast, hat er dich verlassen. Ich war immer neidisch auf dich, weil ich noch keinen Freund habe. Jetzt weiß ich, dass Jungs nur Probleme bringen. Leider musstest du das für uns beide herausfinden. Ich hatte befürchtet, dass so etwas passieren wird. Warum habe ich es dir nicht gesagt? Weil du meine beste Freundin warst? Weil ich dich lieb hatte? Weil ich dir nicht wehtun wollte? Wahrscheinlich waren das alles Gründe. Eigentlich waren das Gründe, es dir zu sagen. Ich wollte nicht, dass du böse wirst. Du hattest die rosarote Brille auf. Schwebtest auf Wolke Sieben.
Als es zwischen euch aus war, war ich für dich da. Du kamst spät abends zu mir nach Hause. Du hast geflucht, gelacht und geweint, bis du neben mir einschliefst.
Wozu sind Freunde da? „Wir brauchen keine Jungs. Unsere Freundschaft ist wichtiger.“ Du hattest mir zugestimmt und gelächelt. War es ernst gemeint? Oder wolltest du mir nur das Gefühl geben, dich aufgemuntert zu haben?
Am nächsten Morgen gingst du nach Hause, um deine Schultasche zu holen. Wir wollten uns auf dem Schulhof treffen. Ich stand vor den Fahrradständern, wo wir uns jeden Morgen trafen und habe auf dich gewartet. Es wurde immer voller auf dem Hof. In ein paar Minuten fing die Schule an und du warst immer noch nicht da. Heute Nachmittag werde ich dich ins Kino und dann auf ein Eis einladen. Das wird dich ablenken. Ich freute mich auf den Nachmittag mit dir. Alles wird gut, dass wusste ich. Du wirst schnell über ihn hinweg sein. Du hast ja auch noch mich. Ich werde immer für dich da sein.
Es hat geläutet. Wo bleibst du?
Und was ist da hinten auf dem Schulhof los? So viele Schüler auf einem Haufen. Da musste was Spannendes passiert sein. Der Unterricht musste schon angefangen haben, aber wenn so viele Schüler noch draußen waren, musste ich nachschauen. Es war ein lautes Getuschel zu hören. Die Ausdrücke in den Gesichtern der Schüler schockierten mich. Es standen auch so viele Lehrer hier herum. Findet der Unterricht heute draußen statt? Als ich mich genauer umsah, bemerkte ich, dass die Blicke der Leute immer wieder nach oben gingen. Ich schaute auf das Dach des Schulgebäudes und fiel fast in Ohnmacht.
Du wolltest deine Schulsachen holen und dich dann mit mir hier treffen. Was war passiert? Warum hast du mich belogen? Oder ist dir der Gedanke erst auf dem Weg gekommen?
Ich rief deinen Namen um deine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich bin doch deine Freundin. Du wolltest nicht, dass ich zu dir aufs Dach komme, damit wir reden konnten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Hier unten bleiben oder trotzdem rauf kommen? Mir blieb keine Zeit zum überlegen, denn eine Sekunde später breitetest du die Arme aus und ließest dich nach vorn fallen. Ich schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen lauten Schrei aus.
Ich wollte die Hände nicht von den Augen nehmen. Wollte dich nicht sehen. Wie du dort liegst. Voller Blut. Als mich ein Lehrer in den Arm nahm, fing ich wieder an zu schreien. Krankenwagen und Polizei waren bereits eingetroffen und ich wurde von einem Arzt von der Stelle weggezerrt. Ich habe mich gewehrt und weiß nicht mal warum. Als es mir kurz gelang mich loszureißen, konnte ich dich sehen. Nur undeutlich, weil dort das absolute Chaos herrschte. Ich brach in Tränen aus und wurde zum Krankenwagen gebracht.
Jetzt kann ich nur noch in die Gesichter deiner Eltern und Geschwister sehen. Ich sehe, wie sie leiden. Das alles nicht verstehen können. Starr und hilflos müssen sie auf den Eichefarbenen Sarg blicken, der mit einem wunderschönen Gesteck geschmückt in der Kapelle steht. Ich würde gerne etwas zu ihnen sagen, aber mir fehlen die Worte. Wahrscheinlich kann man sowieso in so einem Moment nie die passenden Worte finden. Ich sehe also nur zu ihnen rüber und der Ausdruck in ihren Augen lässt mich wissen, dass sie verstehen, was ich sagen möchte.
Es war einfach egoistisch, was du getan hast. Du gibst niemandem mehr eine Chance. Du hast diese Entscheidung für dich getroffen, ohne an deine Familie oder Freunde zu denken, die sich jetzt ihr Leben lang Vorwürfe machen werden. Ohne Worte, ohne Erklärung hast du diese Welt verlassen. Du bist so viele Antworten schuldig die du uns niemals mehr geben kannst. Wie hätte ich dir helfen können? Du hättest es mir sagen können. Alles wäre anders gelaufen, wenn du mit mir geredet hättest. Aber jetzt ist es zu spät.
Keine Chance mehr etwas zu ändern.
Keine Chance.