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Keine Fragen
Sie lag auf dem Betonboden und starrte mich mit leeren Augen an. Ihr Gesicht war blutverschmiert, sie wimmerte leise. Ab und zu kam ein lauter, gellender Schrei aus ihrem Mund, der meinen Körper wie vom Blitz getroffen zusammenzucken ließ. Mir wurde es schlecht. Doch vor der Tür stand der Boss persönlich. Ich wusste, dass er, wie immer, einen Baseballschläger in der Hand hielt. Ich hatte nie gezweifelt, dass er ihn nicht zum Spaß mit sich trug. Mir schauderte bei dem Gedanken daran, wie viele Menschen er wohl schon mit diesem verdammten Schläger getötet hatte. Und noch mehr graute es mir, als ich mich erinnerte, dass ich selbst am Tod einiger Menschen beteiligt gewesen war.
„Bitte... nicht“ gurgelte sie mit schwacher Stimme und riss mich dabei aus meinen Gedanken. Sie schien sich wieder etwas erholt zu haben. Ich kniff die Augen zusammen. Holte aus. Und trat kräftig zu. Volltreffer. In ihren Bauch. Wieder ein gellender Schrei. Doch diesmal erreichte er mich nicht. Bilder tauchten in meinem Kopf auf.
Sonnenschein. Ein schöner Tag. Ich sitze mit meinem Bruder auf der Dachterrasse einer Bar. Ein Umschlag wird aufgerissen. Das Foto von einem Typ mit Sonnenbrille. Plötzlich entdeckt mein Bruder ihn an einem Tisch. Er tippt etwas in sein Handy ein. Ein paar Minuten später geht eine große Gruppe von Menschen an dem Tisch vorbei und ich verliere den Überblick. Danach ist der Mann weg. Als hätte es ihn nie gegeben.
Die Tür ging auf. „Und – was erreicht?“ fragte die rasselnde Stimme von dem Boss, die bedrohlich Klang. Ich kannte sie nur zu gut, schon oft hatte sie mich bis in meine Alpträume verfolgt. „Nein...“ Ich brachte fast kein Wort heraus.
„Dann mach kurzen Prozess, ich glaub nicht, dass die da uns weiterbringt.“ Er deutete abfällig in ihre Richtung und hielt mir seinen Baseballschläger hin.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich fragte mich, wie ich überhaupt noch das Gleichgewicht hielt, warum ich nicht einfach umkippte. Nein, ich konnte sie doch nicht umbringen...!!!
„Ich würde gerne noch ein bisschen warten und sie bearbeiten. Vielleicht weiß sie was.“ sagte ich schnell.
Er lachte krächzend. „Sie wissen alle was, Sweety. Sonst hätten wir sie nicht hier.“ Er hatte mich von Anfang an Sweety genannt. Dabei wirkte er nicht wie der Typ Mensch, der Frauen Sweety oder Honey nennt. Es lag wahrscheinlich einfach daran, dass er meinen Namen nicht kannte. Ich kannte seinen im Übrigen auch nicht, er wurde „der Boss“ genannt.
„Bei manchen kann man ewig warten. Die sagen nichts. Aber du bist noch nicht lange hier. Wir lassen dich selbst deine Erfahrungen machen. Zwei Stunden hast du noch.“ sagte er eindringlich.
Er verließ den Raum wieder, die Tür fiel ins Schloss.
Mit großen Augen sah sie mich an. Ob sie wusste, wie es mir ging?
Ich hätte am liebsten geschrien: „Bitte sag doch was. Sag irgendwas, rück raus mit den Infos, was auch immer sie wissen wollen. Ich will dich doch nicht töten“. Aber ich wusste genausogut wie sie, dass sie auch dann sicher nicht einfach wieder hier rausspazieren durfte. Außerdem stand der Boss vor der Tür und hörte jedes Wort mit.
„Es ist so still da drin, Sweety. Wenn ich dir hier noch Zeit gebe, dann sollst du sie nutzen verdammt noch mal! Was machst du denn da? Däumchen drehen?!“ er klopfte wütend an die Tür. Wieder ging ich zu ihr hin. Und wieder ein Tritt, wieder dieser Schrei. Ich sehe den blauen Himmel. Lege meinen Kopf in den Nacken und schaue auf ein Hochhaus. „Im obersten Stockwerk ist es. Ein kleines Reisebüro. Du kommst rein und sagst, du willst eine Reise buchen nach England. Dann fragen sie dich ob du wohl Großbritannien meinst. Du wirst sagen: „Nein, ich meine den Auftrag, Herr Drogan schickt mich. - Genuso sagst du das, hörst du? Und keine Fragen, er kann Fragen nicht leiden.“ sagt mein Bruder zu mir.
„Wieso tust du das?“ hörte ich sie flüstern. Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Ich hatte das Gefühl, jetzt völlig durchzudrehen. „Verdammter Mist!“ sagte ich leise und trommelte mit den Fäusten gegen die Wand des kahlen Raumes. Ich hörte meine Knochen knacken und spürte, wie der Schmerz immer stärker wurde.
Weiß. Weiß sind die Räume von dem Raum. Und sie sind kahl. Beinahe genauso kahl, wie die Glatze von Herrn Dragon. „Hier. Du kriegst einen Brief mit einem Foto und den Angaben, wo sich die Person vermutlich aufhält. Deine einzige Aufgabe ist es, zu überprüfen, ob sie wirklich dort ist. Du bekommst ein Handy, in das tippst du eine Bestätigung und den genauen Ort ein, wenn du die Person gefunden hast. In dem Brief befindet sich gleichzeitig die Bezahlung für den Auftrag. Hier ist der erste Umschlag. Den nächsten holst du dir hier am Tresen ab, wenn du hiermit fertig bist.“ Sie hatte sich ein wenig aufgerichtet. Ich bekam Panik, als ich daran dachte, dass der Boss jeden Moment das Zimmer betreten konnte. Vielleicht hatte er sogar Überwachungskameras installiert? Auf dem Flur war es ruhig. Ein wenig zu ruhig. Wie in Trance stand ich wieder auf. Und erneut verpasste ich ihr einen Tritt. Meine Ohren Namen den Schrei schon gar nicht mehr wahr.
500 Euro sind in dem verfluchten Umschlag. 500 Euro. Es tut gut, die Scheine zischen den Handflächen zu spüren. Langsam gehe ich die Treppe hinunter. Ich fühle mich trotzdem nicht wohl in meiner Haut. „Was ist, wenn ich diese Person nicht finde? Wieso bezahlen sie mich im Vorraus? Und warum zum Teufel zahlen sie so viel Geld dafür, dass ich ihnen schreibe, wo sich eine Person aufhält, wenn sie es sowieso eigentlich schon wissen?“ Ich hätte gerne gefragt. Aber mein Bruder hat mir eingebläut, auf keinen Fall Fragen zu stellen. Vielleicht ist es besser so. 500 Euro sind leicht verdientes Geld. Verdammt leicht. Viel zu leicht.
Würgende laute ließen mich wieder in die Gegenwart zurückkehren. Sie spuckte Blut. Ich drehte mich weg, denn mein Magen krampfte sich zusammen und beinahe hätte auch ich mich übergeben müssen.
Ausgerechnet jetzt öffnete sich die Tür und der Boss kam erneut ins Zimmer. „Du hast doch nur noch fünfzehn Minuten, wir haben zu tun!“, sagte er forsch und es klang nicht so, als würde er Widerspruch akzeptieren. Er hielt mir den Schläger vor die Nase.
Regen prasselt auf das Autodach. Es ist dämmrig. Inzwischen beschatte ich die Personen, Tag und Nacht. Aber es wird auch mehr bezahlt. Man kann gut davon leben. Und Fragen stelle ich deshalb weiterhin lieber keine.
„Nun mach schon, schau nicht so in der Luft rum!“
Wieder sehe ich alles nur wie durch eine milchige Glasscheibe. Ich nehme den Schläger.
Das piepsen meines Handys. „Bestätigung. Zielperson gesichtet“ . - Ein Messer. In meiner Hand. Gesichter, in denen sich die Angst wiederspielgelt. Ein unauffälliger Moment. Die Person erfolgreich in den schwarzen Golf manövriert. Ich schließe ab. Und der Schlüssel kommt in den Briefkasten des Reisebüros. - Wohin kommen die Personen? Die Stimme meines Bruders:“Niemals fragen, das kann gefährlich für uns werden! Verdammt, wir stecken hier mit den Umschlägen tiefer in der Scheiße als ich dachte. Einfach mitmachen, schlimmer kann es nicht werden. Niemals fragen! Dann kann es nicht schlimmer werden“ . Ein Bruder kann sich irren.
Der Boss steht mit verschränkten Armen im Türrahmen. Unmöglich, da vorbeizukommen. Seine Augen werden zu schmalen Schlitzen. „Hast doch nicht etwa Skrupel, Sweety? Fressen und gefressen werden. Merk dir das.“
Fressen und gefressen werden, fressen und gefressen werden, fressen und gefressen werden... der Satz spukt durch meinen Kopf, ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Fressen und gefressen werden, fressen und gefressen werden. Ich hole aus.
Straße. Schreie. Umschläge mit Wegbeschreibungen. Angaben, wo der Golf steht und wo er hin muss. Verzweifelte Gesichter. Den Mund mit Klebeband zugeklebt. Ich kann nicht mehr schlafen. Sehe immer wieder diese Gesichter vor mir. Ich muss zur Polizei. Alles gestehen. Muss mit meinem Bruder reden. „Ich halte es nicht mehr aus. Morgen gehe ich und melde alles. Die spielen ein ganz fieses Spiel mit uns“.
Ihre Hände hält sie schützend über ihrem Kopf. Ich spüre ihre Todesangst, sehe wie sie zittert, höre ihren Atem.
„Der gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar...“ Er ist weg. Nicht erreichbar. Seine Wohnung verwüstet, sein Auto verschwunden. Er wollte gestern noch zur Polizei. Wo bin ich da hineingeraten??
„Na wird’s bald? Ich bin nicht zum Kaffetrinken hier!“
Der Schweiß läuft über meine Stirn. Auch ich zittere jetzt am ganzen Körper und klammere mich so fest an die Keule, dass meine Finger weiß werden.
„Du wirst nichts verraten.“ Es ist das zweite Mal, dass ich Herrn Dragon sehe. „Du hängst da selbst zu tief mit drinnen. Es wäre dumm von dir, etwas über uns ausplaudern zu wollen.“ „Wo ist mein Bruder? Was haben sie mit ihm gemacht?!!!“ Möchte ich ihm ins Gesicht schreien.
„Du wirst nun in die Zentrale kommen und Verhöre mit den Zielpersonen durchführen. Der Boss wird auch da sein. Und vergiss nicht, es lohnt sich nicht, davonzulaufen. Wir finden dich überall.“ Weiß – weiß – weiß – ich sehe die Wände und alles dreht sich.
Ein lauter Schrei. Ein dumpfer Schlag. Ein knirschendes Geräusch. Es riecht nach Blut. Und nach Tod. Ich sehe rote Rinnsale auf dem Boden. Ich sehe ihre graue Haut. Ich sehe ihr entstelltes Gesicht. Ich sehe, wie ein letztes Zucken durch ihren Körper geht. „Entschuldigung“ flüstere ich kaum hörbar.