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Kennen Sie Grünwil?
Hallend piepst das Thema aus Mission Impossible durch den Gang. Wie von der Tarantel gestochen kramt der massige Mann gegenüber hastig in seiner Jackentasche. Seine Stirn glänzt und sein Hemd zeigt deutlich die Spuren eines harten Vertreteralltags. Wir sitzen beide auf unbequemen Plastikstühlen, welche diebstahlsicher zu beiden Seiten neben den Bürotüren an die Wand geschraubt sind. Nach umständlichem Suchen klaubt er endlich sein Handy aus der Hemdtasche hervor und unterbricht die aufdringliche Klingelmelodie.
"Hallo Karin. Ja, hier ist Gerd. Ich ... nein ich habe dich nicht vergessen. Ich ..." Er springt auf und langsam bilden sich rote Flecken über dem Hemdkragen. Gerd schaut in meine Richtung, sieht aber durch mich hindurch und hört angestrengt Karin zu.
"Ich weiss, dass du am Bahnhof wartest, aber ich habe kein Auto mehr." Pause. Wildes Augenrollen von Gerd, Karin scheint das nicht ganz zu verstehen.
"Ich bin auf einer Polizeistation in ...warte mal...wie heisst das Kaff hier?" Er starrt mir angestrengt ins Gesicht. "Grünwil", antworte ich schnell und schaue nun unverholen zu, wie er Karin seine peinliche Lage erklärt. "In Grünwil. Nein, habe falsch parkiert und jetzt haben die mein Auto abgeschleppt. Karin, ich kann doch auch nichts dafür. Herrgottnochmal, dann nimmst du halt die Bahn. Nein, ich erkläre es dir später. Tschau".
Er klappt das Handy so energisch zu, dass es ihm aus der Hand rutscht. Nach kurzem Flug zerschellt es an einem Informationsständer mit Flugblättern über Diebstahlpräventionen und landet, inzwischen in seine Einzelteile zerlegt, auf dem grünen Linoleumboden. Ungläubig starrt Vertreter Gerd zuerst auf die zerstreuten Überreste seines Kommunikationsgeräts und lässt sich dann mit einem lauten Stossseufzer neben mich auf den Stuhl fallen.
"Ganz ruhig bleiben, kein Grund zur Panik", versuche ich seine und meine Situation nicht noch mehr eskalieren zu lassen. Eigentlich will ich hier nur eine Vermisstenanzeige aufgeben, dazu muss aber Mann, der dafür Steuern zahlt, zuerst einen wirklich umfangreichen Fragebogen ausfüllen.
'01 - Name'
'02 - Adresse'
'03 - Blutgruppe'
Woher soll ich die denn wissen?
"Huber. Gerd Huber. Auf Durchreise." Ich sehe mich einer massigen Hand gegenüber. Ein unangenehm fester Händedruck lässt mich zusammenfahren. Der Mann ist ja total geladen. Blutdruck mindestens 180 zu 100.
"Willfahrt. Bruno Willfahrt." Ich versuche mit einem gekünstelten Lächeln meine Abneigung zu überspielen. Gerd der Vertreter grinst nur während die hässlichen Flecken an seinem Hals langsam verblassen. Sein heissgelaufener Motor scheint sich wieder etwas abzukühlen.
"Und, was haben Sie verbrochen?" Sein Atem riecht nach Zwiebeln und billigem Rotwein, warscheinlich Tonis Imbiss am Marktplatz. Dort holen sich viele Leute ihr Mittagessen und setzen sich dann auf die kalten Stufen der Martinskirche. Meistens Studenten der nahegelegenen Uniklinik, aber manchmal eben auch ein Vertreter in Anzug und Kravatte. Aber alle holen sie sich auf den Stufen einen kalten Arsch und werden so zu potentiellen Patienten mit Nierenleiden, welches man dann gleich gegenüber behandeln lassen kann.
"Familienangelegenheit", antworte ich schnell, um mit meinem Fragebogen nicht noch mehr in Verzug zu geraten.
"Oh, verstehe." Er bückt sich und sammelt die Teile seines zerlegten Handys ein.
"Warten Sie schon lange?" Jetzt nervt mich Herr Huber aber doch etwas. Ich will doch nur diesen Fragebogen ausfüllen, meine Anzeige machen und dann nichts wie raus hier. Auf nette Plauderei zwischen fremden Welten habe ich jetzt echt keinen Bock. Warum musste auch ausgerechnet heute meine Süsse stiften gehen.
"Herr Huber, ich möchte ja nicht unhöfli..."
"Herr Huber? Gerd Huber?" Aus der linken Tür erscheint die Gestalt eines langen Polizisten mit schlackernder Uniform. "Bitte kommen Sie herein." Huber steht rasch auf und legt die Puzzleteile seines Handys auf meinen Fragebogen. "Können Sie das kurz für mich halten?" Ich habe keine Chance zu reagieren. Die Tür schliesst sich hinter Gerd Huber und ich sitze alleine mit dessen Telefonresten auf meinem Klemmbrett im langen Gang der muffigen Polizeistation von Grünwil. Mit einem Schlag ist es still. Ich kippe das Klemmbrett und leere damit die Plastiküberreste auf den Sitz neben mir. Endlich kann ich ungestört mit dem Fragebogen weitermachen.
'07 - Rauchen Sie? Wieviel?'
Wieso kommt Huber zuerst dran?
'08 - Nehmen Sie Medikamente? Und welche?'
"Was soll dass denn jetzt, bin ich hier beim Arzt oder was?"
Mein Gemurmel hallt laut durch den leeren Gang. Die Stille kommt mir plötzlich extrem still vor und ich sehe mich um. Niemand läuft den Gang entlang, alle Türen sind geschlossen. Kein Laut, nicht einmal gedämpfe Unterhaltung aus einem der zahlreichen Büros ist zu hören. Man hört nur das leise Rauschen der Deckenlüftung, oder ist es eher das Rauschen meines eigenen Blutes? Ich bekomme plötzlich Gänsehaut. Irgend etwas stimmt hier nicht. Aber was?
Das Handy, genauer das Teil mit dem Lautsprecher gibt plötzlich ein schräges Quäken von sich und lässt mich zusammenfahren. Verblüfft starre ich auf den Lautsprecher, der völlig losgelöst von der Batterie zu neuem Leben erwacht zu sein scheint.
"Hall... erd? Hilf....arg...scheiss..." Dann nur noch leises Rauschen. Ich nehme den Lautsprecher vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und führe ihn an mein Ohr. Das Rauschen ist jetzt lauter, aber im Hintergrund höre ich Geräusche, die sich anhören, als würde jemand den Estrich entrümpeln. Umstürzende Kisten oder Stühle, Klirren von Glas und dazwischen immer wieder mal ein lautes Fluchen. Jetzt hört es sich an, wie wenn zwei Personen miteinander kämpfen. Keuchende Stimmen, lautes Rumpeln, Fussgetrappel. Das sphärische Rauschen wird stärker und ich drücke den Lautsprecher fest an mein Ohr.
Ein Fehler. "GEEEEEEERD".
Mein Trommelfell tanzt Samba und der Lautsprecher fliegt in den Informationsständer.
Dort plärrt es nun zwischen losen Informationsblättern den Namen seines Besitzers.
"Geeeeerd, hilfe..."
Ein letztes Wimmern, dann wieder diese unangenehme Stille.
Ich höre mein Blut im Kopf rauschen und im rechten Ohr pfeift mir Herr Tinitus fröhlich eine monotone Sinus-Interpretation von Rammstein.
Ich schaue nun etwas verwirrt auf das Klemmbrett mit dem Formular, stirnrunzelnd blättere ich ein paar Seiten weiter.
'23 - Tragen Sie eine Waffe?'
'24 - Fürchten Sie sich im Dunkeln?'
"Wie bitte?" geht mir durch den Kopf, als mit einem Schlag die Eingangstür auffliegt. Herein stürmt ein Haufen wilder Polizisten in Kampfuniform, allesamt bewaffnet und mit schusssicheren Westen vor der Brust. Ich wünschte mir Punkt 23 mit ja beantworten zu können.
Die vorderen Kämpfer werfen sich zu beiden Seiten an die Wand und sichern den Gang, während die anderen unter lautem Gebrüll sich ein Büro nach dem anderen vornehmen.
"LINKS SAUBER"
Meine Hände werden feucht.
"RECHTS GESICHERT"
Mir rutscht das Klemmbrett aus den Fingern, welches klappernd zu Boden fällt.
"SIE DA."
Ich?
"SCHNELL- RUNTER VOM STUHL UND DUCKEN".
Einer dieser Staatsrambos robbt zu mir und zupft mich, ums seinen Worten wohl mehr Ausdruck zu gebend am Ärmel. Ich bin immer noch starr vor Schreck und bleibe vorerst sitzen.
"Geeeeerd". Der Handylautsprecher ist wieder zum Leben erwacht.
Ein Kämpfer, der hinter dem Informationsständer Deckung bezogen hat, setzt sich vor Schreck auf seinen Hintern. Die Maschinenpistole fällt klappernd zu Boden und der Riemen hängt ihm schief um den Hals.
Mein Ärmelzupfer lässt mich los und richtet seine MP auf den Infoständer.
Mit einem Schlag wird mir klar, was sich hier abspielt. Gerd ist nicht der Mister Saubermannvertreter sondern er und Karin sind eines der letzten Spionagepärchen, übriggeblieben vom kalten Krieg. Und diese S.W.A.T. Einheit hier versucht ihn dingfest zu machen, was einem anderen Teil bereits mit Karin gelungen zu sein scheint.
Die Bürotür neben mir springt auf und der Beamte von vorhin erscheint auf dem Spielfeld.
"Spinnt ihr? Was soll'n der Scheiss. Kalle?"
Ein kleiner stämmiger Offizier lösst sich aus der Gruppe der am Eingang wartenden Einheit und stapft mit hängendem Gewehr auf den langen Polizisten zu.
"Kurt, wieso...äh, ist das denn hier nicht die Übung ENZIAN?"
"Nee, Kalle. Der Übungsbau ist zwei Blocks weiter. Das hier ist Seefeldallee 3a. Die Übung ENZIAN ist aber in 13a. Dreizeeeehn."
Allgemeine Entspannung macht sich breit.
Man hört jetzt höhnisches Gemurmel, Klicken von Sicherungshebeln, Magazinrasseln.
Da schlägt die Bürotür gegenüber auf und heraus torkelt eine keuchende Gestalt in Polizeiuniform, beide Hände mit einem Feuerwehrschlauch ringend, der ihm unvorteilhaft um den Hals hängt.
"Hrglfee", würgte er hervor, worauf alle Enziankrieger die automatischen Waffen hochreissen und auf den zuckenden Polizisten richten.
"Urla, da bist du ja." Ich springe auf und wende mich dem sich windenden Polizisten zu, dessen Gesicht nun doch etwas blau anläuft.
"Halt, gehen Sie aus der Schusslinie."
"Aber das ist doch nur meine Urla", rufe ich und wende mich wieder dem Polizisten zu.
"Keine Angst junger Mann, sie will nur spielen".
"Kn-mr-ml-jmnd-hlfn..."
Ich bin ja so erleichter, dass meine Urla wieder da ist.
"Halten Sie doch still, ich nehme sie ja an die Leine."
In diesem Moment löst sich ein Schuss. Ausgelöst durch einen übernervösen Finger eines dieser Enziantypen.
Durch den Schalldruck erschreckt, schnellte meine Urla hoch und landet klatschend im Infoständer, wo Karin immer noch nach Gerd ruft. Der junge Polizist schaut verdattert auf seine Brust, wo sich ein hellgrüner Fleck breit macht.
"Spinnts du? Die war gerade erst in der Reinigung."
Mir wird das ganze jetzt zu blöd.
"Hier, kannste ausfüllen".
Ich drücke mein Klemmbrett dem verdutzten Schützen in die Hand, nehme Urla sanft auf den Arm und stapfe eiligst durch die spalierstehende Enziangruppe nach draussen.
Hinter mir höre ich noch, wie Gerd nach seinem Auto, Karin nach Gerd und Kalle nach Kurt schreit.
Egal, ich will jetzt nur noch nach Hause.